Eine Reise nach Chartres

Wohin reisen wir? Nach Berlin oder New York oder Sydney vielleicht? Zum Nordpol oder in den Regenwald Amazoniens? Zu den Quellen des Nils, in die Einöde der Wüste Gobi oder nach Feuerland? Vielleicht reisen wir auch “nur” durch das eigene Leben und träumen währenddessen davon, wie es wäre, durch die Zeit vor unserer Geburt und nach unserem Tod zu wandern, Welten zu entdecken, die wir nur aus Geschichtsbüchern kennen oder solche, die noch gar nicht erfunden worden sind. Mit dem Reisen ist es so eine Sache. Es gibt uns die Gelegenheit, nicht nur andere Orte und andere Menschen, sondern auch uns selbst zu entdecken. Reisen ist dabei immer auch ein Ausbrechen aus den Konventionen des Alltags. Reisen besitzen sowohl einen Anfang als auch (in der Regel) ein Ziel, stellen also eine Verbindung her zwischen uns und dem von uns noch nicht in den Blick Genommenen. Reisen können spontanes Vergnügen sein. Geplanter Zeitvertreib, auch bekannt als Urlaub. Oder eine Notwendigkeit, man denke da beispielsweise an die Pendler, Geschäfts- oder Dienstreisenden. Reisen, das kann Rausch sein, Unbekanntes, Neugier, Hast, Pflicht, eine Möglichkeit, die wir uns auferlegen oder der wir folgen.

Man kann daher getrost behaupten: Der Mensch ist zum Reisen gemacht. Unsere gesamte Physiognomie ist mehr aufs Laufen denn aufs Sitzen ausgerichtet. Und indem wir Schritt um Schritt setzen, erobern wir tagtäglich nahe und ferne Welten. Selbst wenn wir des Abends bequem im Sessel oder auf dem Sofa liegen, begleitet uns das Reisen in Lektüre, Film, Internet oder Fernsehen.

“Wenn jemand eine Reise tut,
So kann er was verzählen;
Drum nahm ich meinen Stock und Hut
Und tät das Reisen wählen.
Da hat Er gar nicht übel dran getan;
Verzähl er doch weiter, Herr Urian.”
(Matthias Claudius, Urians Reise um die Welt, 1785)

Was aber ist Reisen? Eine Bewegung zwischen zwei Punkten, unterfüttert mit einem ausreichenden Maß an Absicht. In der Vorzeit reiste der Mensch, um Gefahren zu entgehen, um geschützte Ort zu suchen, an denen er, möglichst vor unberechenbaren Wettereinflüssen geschützt, eine Existenzgrundlage aufbauen konnte. Die ersten Menschen könnte man daher durchaus als Klimareisende bezeichnen. Später, vor allem nach der Erfindung des Geldes, reiste man auch aus wirtschaftlichen Gründen. Handel bedeutete nicht nur die Erschließung unentdeckter Gebiete, sondern auch die Eroberung neuer Absatzmärkte. Hinzu kam das Reisen zu religiösen Orten oder gar Zentren. Zum Orakel von Delphi reiste man beispielsweise, um Weissagungen zu erbitten oder den Ausgang von Kriegen und Schlachten deuten zu lassen. Heere reisten hunderte oder tausende Kilometer, um Feinde zu vernichten oder ihrerseits von Armeen aufgerieben zu werden, so wie etwa der karthagische Feldherr Hannibal, von dessen legendärer Alpenüberquerung noch heute erzählt wird. In christlicher Zeit wiederum war das Pilgern (Pilger > veraltet: Pilgrim, Fremdling; lateinisch “peregrinari” > in der Fremde sein) zu Stätten der Heiligen- und Reliquienverehrung als Buße oder aufgrund eines Gelöbnisses eine gängige Reisepraxis. Noch heute erfreut es sich bei religiösen, aber auch bei nichtreligiösen Menschen enormer Beliebtheit. Graceland, das Anwesen des Sängers Elvis Presley etwa, zählt jährlich rund 600.000 Besucher aus aller Welt.

Die Globalisierung mit ihren immer schneller werdenden Fortbewegungsmöglichkeiten hat seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer regelrechten “Reiseexplosion” geführt. Die 80 Tage um die Welt des Phileas Fogg sind, je nach Reiseziel, zu 8 Stunden geworden. Für jede Preisklasse gibt es das entsprechende Paket: vom Low-Budget-Trip durch Europa bis zur Luxuskreuzfahrt in die Antarktis. Und ja, wir wollen reisen, sind geradezu reisehungrig, aller Pleiten von Airlines oder Reiseanbietern zum Trotz. Das Reisen ist dabei zu einer gewissen Art von Status geworden. Wir waren da. Wir sind dabei. Ein gemeinsames Reiseziel oder auch nur der gegenseitige Austausch davon symbolisiert eine Form sozio-kultureller Einigkeit. Haben Reisende in frühen Zeiten einem interessierten Publikum von ihren Reisen erzählt und diesen Bericht sicherlich das eine ums andere Mal mittels der eigenen Fantasie ausgeschmückt, wohlwissend, dass die Geschichten kaum jemand würde nachprüfen können, will man es heute einfach “wissen”. Das Privileg von damals hat sich heute zu einer neuen Art von Gruppenzugehörigkeit entwickelt. Ähnliches gilt für Pendler oder Geschäftsreisende; man ist im Reisen vereint, wobei es weniger um Orte oder Ideen, sondern vielmehr um Möglichkeiten in Form von Projekten, Vertragsabschlüssen oder die Erschließung neuer Standorte für Wirtschaft und Entwicklung geht.

Reise ist also niemals gleich Reise. Die Art des Reisens. Die Reisegründe, ja, gewissermaßen auch das eigene Reisewahrnehmen und das Reiseempfinden macht das Reisen subjektiv wie objektgerichtet zugleich.

Detlef Voigt, gelernter Wirtschaftskaufmann und Krankenpfleger, hat im November-Stammtisch des Arbeitskreises für Vergleichende Mythologie von einer seiner Reisen erzählt und dabei eingangs die Fragen gestellt, wohin Reisen uns leiten und was das Reisen für uns Menschen bedeutet. Seine eigene Reise führte ihn nach Frankreich, genauer gesagt ins südwestlich von Paris gelegene Chartres. In der Altstadt jenes Ortes, der kaum 40.000 Einwohner zählt, befindet sich Notre-Dame von Chartres, “die Mutter aller Kathedralen”. Eine ganze Woche lang durfte Detlef Voigt als Teil einer Reisegruppe diesen Ort besichtigen, erkunden, sich inspirieren, anleiten und in die Geheimnisse einführen lassen. Notre-Dame von Chartres, so sagt er, sei weder die einzige Kathedrale von Frankreich mit einer Marienverehrung noch die einzige, die ein steinernes Labyrinth sowie buntbemalte Glasfenster ihr Eigen nennt. Auch die figürlichen Darstellungen an der Außenfassade, die sowohl Heilige, Märtyrer, Bischöfe als auch antike Philosophen und Mathematiker zeigen, bedeuten kein echtes Novum, sind sie doch generell prägendes Merkmal von gotischen Kirchenbauten.

Einzigartig an Notre-Dame de Chartres ist vielmehr die komplett erhaltene Unterkirche, die um 1020 errichtet wurde, keine Grabstellen aufweist und noch niemals archäologisch untersucht wurde. Der Gotikbau von Chartres blieb zudem von den zerstörerischen Kräften des Hugenottensturms, der Französischen Revolution und der beiden Weltkriege komplett verschont. In der Unterkirche findet man einen keltischen Brunnen, zugleich das älteste Gemäuer des Bauwerks, sowie sieben Kapellen (drei davon romanischen Bautyps und vier im gotischen Bautyp, einander jeweils abwechselnd). Läuft man die Unterkirche entlang, so Detlef Voigt, durchquert man unterirdisch auch die gesamte Kathedrale. Forscher gehen davon aus, dass es vor dem Kathedralbau in Chartres schon zu neolithischer Zeit so etwas wie ein “Geistzentrum” mit Meniren und Dolmen an diesem Ort gegeben haben muss. Auch eine Art Druidenakademie soll existiert haben. Legenden berichten von der Verehrung einer gebärenden Jungfrau. Besonders eindrücklich ist Detlef Voigt bei der Umrundung der Kathedrale der eigentümliche, fast schon ein wenig unheimliche Wechsel von Wind und Windstille (jeweils abhängig von den Fassaden des Bauwerks) in Erinnerung geblieben.

Schon im 4. Jahrhundert n. Chr. soll der erste Kathedralbau stattgefunden haben, der nach dem Durchzug der Westgoten zerstört und wiederrichtet wurde. Eine Hypothese, denn über den ältesten Kathedralkomplex, seinen Umfang und sein Aussehen, ist nichts bekannt. Dass es spätestens im 9. Jahrhundert allerdings ein Kathedralgebäude gegeben haben muss (oder dieses sich im Bau befand), darf mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, denn 876 stiftete der westfränkische König und römische Kaiser Karl der Kahle (823-877) Chartres die “Sancta Camisia”, das Hemd, welches Maria bei der Geburt von Jesus getragen haben soll. Einer anderen Erzählung nach war die Gottesmutter mit dem Hemd bekleidet, während der Erzengel Gabriel die Geburt ihres Sohnes verkündete. Die ausgestellten Stoffreste machten Chartres jedenfalls zu einem der bedeutendsten Marienwallfahrtsorte des christlichen Abendlandes.

In den nachfolgenden Jahrhunderten ist Notre-Dame de Chartres immer wieder der Zerstörung anheimgefallen. Vor allem Brände waren die Ursache. Bemerkenswert ist dabei nicht nur, dass die Reliquien jedes Mal dem Raub der Flammen entkamen, sondern auch die relativ kurze Zeit der Wiedererrichtungen. So entstand der Neubau nach dem Brand von 1194 in “nur” fünfundzwanzig Jahren. Bedenkt man die über 600-jährige Bauzeit des Kölner Doms, mutet diese Zeitspanne fast wie ein Atemzug an. Warum Chartres so rasch eine bauliche Auferstehung erfuhr, mag auch mit den Baumeistern zusammenhängen, über welche allerdings fast gänzlich die Informationen fehlen. Nicht das einzige Rätsel, das sich um Chartres rankt. Die Figuren der Außenfassaden, die Maße der Kathedrale und ihrer Bauelemente kombiniert mit, wie bereits erwähnt, fehlenden archäologischen Untersuchungen ziehen noch heute Forscher, Mathematiker und Esoteriker in Bann – und das nicht nur, weil sich in Chartres ein Zentrum der mittelalterlichen Scholastik befand. Sogar der Templerorden soll der Kathedrale seine Zeichen eingemeißelt haben. So ist Chartres nicht nach Osten orientiert, und es soll die sogenannte Chartres Elle geben, die sich an Meridian und Breitengraden orientiert, was bedeuten würde, dass die Baumeister den Umfang der Erde genau gekannt hätten.

Im Inneren der Kathedrale wartet eine weitere Besonderheit auf den Besucher, die gewissermaßen die Aufforderung zu einer weiteren Reise ist: Denn auf dem Steinboden gilt es ein kreisrund angelegtes Labyrinth abzuschreiten. Auf einer Rosette im Zentrum soll sich eine Darstellung mit dem Minotauros befunden haben, jenem mythischen Wesen – halb Stier, halb Mensch -, das im Labyrinth des kretischen Palastes von Knossos sein Dasein fristete, bis der Held Theseus es tötete. Allerdings ist die Rosette in den Wirren der Französischen Revolution verlorengegangen.

Die schönste Tageszeit, um Chartres zu besuchen und die Faszination der Kathedrale zu bestaunen, ist, so Detlef Voigt, der Morgen, wenn sich das Licht sowohl im Äußeren als auch im Inneren seinen Weg in den Tag bahnt. Eine klare Empfehlung, dass sich die Reise lohnt, verbunden mit der Erkenntnis, dass diese Reise nach sieben Tagen niemals abgeschlossen sein kann.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm

 

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
 

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .