Anfang der 1990er Jahre saß eine alleinerziehende Mutter regelmäßig in einem Café in Edinburgh und schrieb einen Roman, der den Auftakt zu einer Serie bilden sollte, die bis heute die erfolgreichste im Kinder- und Jugendbuch ist. J.K. Rowling wollte schon als Kind schreiben, und nun erfand sie einen Zauberlehrling, der sich in die Herzen aller nachgeborenen Kinder einschleichen sollte: Harry Potter. Ein Märchen, nicht nur wie die Bücher entstanden sind, sondern auch der Erfolg, der ihnen zuteil wurde. Und auch dieser Erfolg ist ohne das Märchen nicht denkbar, denn die Bücher stehen in einer europäischen oder auch weiter greifenden Märchenordnung. Hier wie dort gibt es Böse und Gute, Verwandlung, Verzauberung, Fabelwesen, Monster, dunkle Mächte, magische Objekte, Schloss, Nacht und Angst sowie Erlösung und Erleichterung, wenn das Böse einmal wieder überwunden ist. J.K. Rowlings Phantasie lebt wie alle erzählenswerten Geschichten von Archetypen, von Urmodellen der Darstellung, in denen Namenloses benennbar wird, von weisen, guten oder bösen alten Frauen oder Männern, von armen Tieren und geizigen Menschen, von ehrsüchtigen Königen und Dummköpfen, die klüger sind als die für klug Gehaltenen. Mit anderen Worten: noch und vielleicht erst recht in Zeiten der Digitalisierung, die alles, was irgendwo geschehen ist, in einem Nu global machen kann, zählen solche alten Muster. Nach ihnen ordnen und erkennen wir die Welt weiterhin, ob in der einen Realität des Computers oder in der anderen, die wir analog auch weiterhin bewohnen werden. Da die Welt so groß geworden ist, müssen wir vieles klein halten, um ihr noch standzuhalten.
„Im Bann des Zauberdrachen: Über rumänische Märchen und Märchen überhaupt“ weiterlesenRumänische Phantastik oder Wie ich Mircea Eliade wieder entdeckte
Vor einiger Zeit lief uns ein löwenfarbiger Kater zu. Morgens steht er aufgereckt an der Terrassentür und verlangt nach Milch, lungert manchmal auf einem Stuhl herum, aber ansonsten durchstreift er die Wildnis bürgerlicher Wohnstätten. Inzwischen hört er auf den Namen Mircea – so haben wir ihn getauft –, da seine früheren Besitzer Rumänen waren. Ich dachte mir, es ist ein guter Name für eine Katze, die zwischen den Häusern lebt, insbesondere weil Mircea der erste Name ist, den ich mit Rumänien verband. In meiner Jugend las ich viele Bücher von Mircea Eliade, der 1907 in Bukarest geboren wurde und 1986 in Chicago starb. Ich las sie, da ich Romanistik studierte, auf Französisch, und sie gaben mir eine gute Grundlage für die Sprache, zumal sie nicht idiomatisch erschwert waren. Eliade hatte sie auf Französisch geschrieben, wie er überhaupt ein Sprachengenie war (Sanskrit, Bengali, Griechisch und noch einige andere). Er lebte nach dem Krieg 15 Jahre in Paris, wo er seinen internationalen Ruf als Religions- und Mythenforscher etablierte, unterstützt von Georges Dumézil und anderen. Dort war er auch Teil der rumänischen Exilgemeinde, zu der etwa Emil Cioran oder Eugène Ionesco gehörten.
„Rumänische Phantastik oder Wie ich Mircea Eliade wieder entdeckte“ weiterlesen
