“Mythologie muß kein strohtrockener Lehrstoff sein”

Auch bei den alten Göttern ging es sehr irdisch zu

Man traf sich regelmäßig im Kulturcafé Alte Nikolaischule zum Abendplausch. Am 27. Januar 1995 saßen die Mythenfans zu dreizehnt an ihrem Stammtisch und beschlossen, einen Verein zu gründen, der das Ziel hat, sich mit den Mythen der Völker zu beschäftigen, dem Einfluß ihrer Lebens- und Denkweisen auf die Spure zu kommen und mit Vorträgen, Tagungen und Diskussionen an die Öffentlichkeit zu gehen.

Klang zuerst ganz trocken. Aber wenn der Arbeitskreis heute irgendwo in Sachsen einen Vortrag über germanische Götterliebe, über keltische Mythologie oder “mythische” Länder wie Island und Irland veranstaltet, stehen die Neugierigen Schlange. Gerade junge Leute sperren bei Auftritten von Völkerkundlern, Schriftstellern und Historikern Augen und Ohren auf. Mythen sind erstaunlich lebendig. Seit der Name ndes Vereins deutschlandweit von sich reden macht, bieten sich die Fachleute der Branche reihenweise für Vorträge und Diskussionen an. Manche schicken gleich ihre Bücher mit.

“So entsteht vielleicht eine kleine, ganz kleine Bibliothek. Für Bücherkäufe haben wir gar nicht das Geld” meint Reiner Tetzner, Vorsitzender des Vereins. “Das Wichtigste sind die Vorträge. Ein bis zwei im Monat öffentlich. Neuerdings auch in Schulen und Freizeitzentren. Da gibt’s auch eine Menge Aufklärung zu leisten.”

Denn gerade die nordischen Mythen haben einen schlechten Ruf. Als Reiner Tetzner in der naTo einen Vortrag darüber halten wollte, rissen junge Leute die Plakate ab: “Das sind die Nazis!” war ihr Schreckensruf. Dabei geht’s dem Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie um Toleranz und Verständnis, sind chinesische und afrikanische Mythen genauso gefragt wie Adams zwei Frauen (bei diesem Thema war bis jetzt jeder Saal zu klein). Der Verein hat Mitglieder aus Pollen, Dänemark und Israel.

Im Februar erscheint zum erstemal die Publikation des Vereins: “Kultur und Mythologie”, ein richtig dickes Heft mit aktuellen Vorträgen und Artikeln. Stoff für die Vereinsarbeit gibt’s genug. Moderne Mythen wie Rambo und 007 werden eine Rolle spielen. Am Montag, 27. Januar, ist Dr. Sabine Tanz, Dozentin für mittelalterliche Geschichte an der Uni Leipzig, eingeladen. Irh Vortragsthema im Haus des Buches: “Frauen im Mittelalter – Mythos und Realität”.

Ralf Julke

Quelle: Hallo. Januar 1997.