Blau. Die Farbe, welche Besucherinnern und Besucher aus aller Welt angelockt und begleitet hat, wenn sie durch die Ausstellungsräume des Vorderasiatischen Museums auf der Berliner Museumsinsel gewandert sind. (Im Rahmen von bis 2037 andauernden Umbaumaßnahmen des Pergamonmuseums ist das Vorderasiatische Museum aktuell geschlossen.)
Blau. Einprägsam. Kraftvoll. Ohne melancholisch zu wirken. Ein Blau, in dem sich die Betrachtung eines wolkenlosen Himmels mit der paradiesischen Idylle eines unbewegten Meeres an einem Strand verbindet, um dabei in irdisch erzeugte Ziegel gebannt zu sein. Blau, das darauf drängt, dass man sich seiner erinnert. Und es dürfte wohl kaum
jemanden geben, dem das nach der babylonischen Göttin der Liebe und des Krieges benannte Ischtar-Tor mit seinen Flachglasurziegeln bisher nicht auf die eine oder andere Weise im Gedächtnis geblieben ist. Im Zeitraum von Juli bis Dezember des Jahres 1902 wurde das berühmteste der fünf Stadttore Babylons des antiken Zweistromlandes unter der Leitung des deutschen Architekten Robert Koldewey ausgegraben und feierte dabei seine historische, archäologische, kunstwissenschaftliche und in gewisser Hinsicht auch mythische Auferstehung. Fast 800 Kisten mit Ziegelbruchstücken fanden bis 1927 ihren Weg an die Spree, wo man sie mittels chemischer Verfahren behandelte, im Anschluss sortierte und schließlich in geduldiger Puzzlearbeit und dank Nummerierungen rekonstruierte. Die bei der Ausgrabung ebenfalls freigelegte temennu (Gründungsstein, Weihinschrift) liefert dabei nicht nur wichtige Hinweise über die Identität des Bauherrn oder darüber, welcher Gottheit das Tor gewidmet war, sondern gibt neben dem Verweis auf die blaue Farbe auch Aufschluss über verschiedene tierische Besonderheiten, die den Betrachter erwarten. „[Ich, Nebukadnezar, der König von Babylon, der Sohn] Nabupolassars, [des Königs von Babylon, habe] das Tor der Ischtar mit [blauglasierten] Backsteinen für [meinen] Herrn Marduk [gebaut] und unge[stüme] Wildstiere aus Kupfer und [zorngewaltige Schlangendrachen] an seinen Türlaibungen [aufgestellt.] […] Marduk, mein Herr, […sch]enke [mir] langes Leben“
Die erwähnten Stiere und Schlangengebilde, mindestens 575 Tiere, setzen nicht nur visuell ein Ausrufezeichen und dienten, in horizontalen Reihen in die Torfassade eingelassen und dabei stets den Eintretenden zugewandt, als Schmuckelemente. Sie symbolisieren auch die Übergänge zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen und lassen, wenn man so will, die Grenzen von Realität und Fantasie verschwimmen. Wobei „Fantasie“ hier kein spontan-kreatives Konstrukt meint, sondern durch und durch mythische und religiös-zielgerichtete Züge trägt. Die Tier- und Fabelwesen des antiken Mesopotamiens verlangen Staunen, geben Warnung, fordern Verehrung oder verheißen Schutz. Sie fordern aber auch eine gewisse Einlassung, denn im Gegensatz zu den uns bekannten Einhörnern, Phönixen, Zentauren oder Drachen können sie sowohl vertraut als auch mysteriös oder gar bedrängend-wuchtig wirken. Und da viele von ihnen im Vorderasiatischen Museum vereint sind, seien Sie als Leserinnen und Leser herzlich auf einen imaginären Rundgang eingeladen.
Zunächst ganz klassisch? – Stiere
Zu den Stieren auf dem Ischtar-Tor bemerkt Robert Koldewey in seiner Baubeschreibung der Ausgrabung: „Bei der Komposition des Stieres fällt die steile Haltung des Kopfes auf, die dem gewöhnlichen Benehmen dieser Tiergattung beim, hier im Übrigen wiedergegebenen, ruhigen Schreiten nicht entspricht.“ Die Tiere sind zudem im Profil dargestellt. Ihr Fell ist glatt und kurz. Hinzu kommt die ausgeprägte Darstellung einer mähnenartigen blauen Behaarung an Rücken, Brust, Hals und Bauch. Koldewey vergleicht das Bild mit dem eines Wisents. Als weitere für den Vorderen Orient belegte Tierarten, die auch domestiziert wurden, kommen Auerochsen und Wasserbüffel infrage.
„Daß die Mähne blau gehalten ist, liegt in der Auffassung der damaligen Zeit. Wir haben zahlreiche Stücke von polylithen Statuen gefunden, bei denen das Haar aus Lapislazuli bestand. […] In der Tat hat das schwarze Haar bei Mensch und Tier namentlich der östlichen Welt immer einen Stich ins Bläuliche. Bei uns Neuern wiegt dabei der Eindruck des schwarzen, bei den Alten der des blauen Bestandteils dieser Farbspielarten.“
Der Stier entspricht auf dem Ischtar-Tor also einem natürlichen Vorbild. Er trägt hier keine Züge eines Mischwesens, sondern symbolisiert auf dem ersten Blick das Reale durch den Verweis auf das Nutzvieh, welches für das Überleben der Menschen eine wichtige Rolle spielte. Interessant sind hierbei auch die in Koldeweys Beschreibungen angegebenen Übersetzungen auf der Weihinschrift mit „Wildstiere“ (Wilcke; jüngere Übersetzung) oder (Bronze-)„Stiere“ (Messerschmidt; ältere Übersetzung). Beide Übersetzungen haben meiner Meinung nach ihre Berechtigung. Denn auf den zweiten Blick manifestiert sich im Stier auch die göttliche Ordnung, galt dieser doch als Symbol für den Wettergott Hadad (akkadisch: Adad; sumerisch: Iškur), dessen Verehrung vor allem im syrisch-phönizischen Raum präsent war und der in Mesopotamien oftmals mit Tešup oder dem kassitischen Gott Buriaš gleichgesetzt wurde. Bei Hadad handelt es sich um eine Sturm-, Wind-, Wetter- und Vegetationsgottheit. Man assoziierte ihn mit Fruchtbarkeit, aber auch mit Dürren und Missernten. Bereits auf Zylindersiegeln der altbabylonischen Zeit ist er mit Blitzbündeln oder Sturmwolken dargestellt. Zudem steht er häufig auf einem Stier oder einem Löwendrachen. Sein Keilschriftzeichen wurde auch synonym für das Wort „Wind“ gebraucht.
Obwohl der Stier mit dem Göttlichen in Verbindung stehen kann, weist er innerhalb der mesopotamischen Mythen als Mischwesen durchaus, wenn auch nicht ausschließlich, götterfeindliche Züge auf. Im babylonischen Schöpfungsmythos Enuma elisch (Enūma eliš) erschafft die Ur-Göttin Tiamat den Stiermenschen (Kusarikku) als eines von elf Dämonen, um sich an den Göttern zu rächen, die ihren Gemahl Apsȗ ermordet haben.
Generell finden sich Darstellungen von Stiermenschen recht häufig auf Zylindersiegeln. Vielfach besitzen diese den Oberkörper eines Menschen, häufig mit lockigem Haar, Stierhörnern sowie eine tierische untere Körperhälfte – ganz im Gegensatz beispielsweise zum Minotaurus aus der griechischen Mythologie, der den Oberkörper eines Stiers und den Unterleib eines Menschen aufweist. Der mesopotamische Stiermensch kann gegen Löwen kämpfend dargestellt sein, aber auch die Rolle eines Wächters oder Beschützers annehmen, etwa in Form von Statuen oder auf Reliefs, meist an Eingängen oder im Inneren von Gebäuden aufgestellt, um die Bewohner vor Schaden zu bewahren. Abbildungen von Stiermenschen reichen bis in Proto-Elamitische Zeit (4. Jahrtausend v. Chr., Iran) zurück.
Der Stier als reines Fabelwesen begegnet uns derweil als Himmelsstier (auch assoziiert mit dem Sternbild Taurus) im Gilgamesch-Epos, von dem Versionen aus sumerischer und altbabylonischer Zeit (2. Jahrtausend v. Chr.) überliefert sind. Die Geschichte berichtet vom legendären König Gilgamesch aus Uruk. Gemeinsam mit seinem Gefährten Enkidu hat er vielfältige Heldentaten zu bestehen. Als er es ablehnt, mit der Liebesgöttin Ishtar die heilige Hochzeit zu vollziehen, erbittet diese den Himmelsstier von ihrem Vater An (Anum), der in der Lage ist, das Land zu verwüsten:
„Mein Vater, gib mir doch den Himmelsstier, / auf daß ich Gilgamesch an seinem (eigenen) Wohnsitz erschlage! […] Da legte er das Nasenseil des Himmelsstiers in ihre Hände. […] Es drang Enkidu vor zum Hinterteil des Himmelsstiers. / Er packte ihn bei der Wurzel seines Schwanzes / und stellte seinen Fuß dann auf den Rücken seines Oberschenkels. / Mit seinem starken Tritt hielt er ihn fest am Boden. / Doch Gilgamesch legte wie ein Schlachter, heldenhaft und auch gekonnt, /seinen Dolch zwischen dem Ansatz des Genicks bei den Hörnern / und der Stelle, an der man den Genickschlag setzt. / Als sie den Himmelsstier erschlagen hatten, / nahmen sie sein Herz heraus“.
Die Tat bleibt nicht ungestraft, denn sie besiegelt den Tod von Enkidu. Ob die Architekten des Ischtar-Tors von dieser Erzählung beeinflusst waren, wäre zumindest möglich. Andererseits wirken die Stierbilder des Tores nicht eben wie visuelle Zeugnisse einer entfesselten göttlichen Macht, so dass eine Verbindung zum Gott Hadad oder eben auch zur Viehzucht in diesem Zusammenhang schlüssiger erscheint.
Ein Beitrag von Dr. Constance Timm
Der vollständige Artikel inkl. Anmerkungen und weiterführender Literatur ist erschienen in:
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie und Edition Hamouda



Unter mythologischen Gesichtspunkten, ist der Stier extrem bedeutsam. Meist heißt es, dass sie sumerischen Keiltexte als Start der schriftlichen Aufzeichnungen zu betrachten sind. Wie aus dem Beitrag hervorgeht, spielt auch dort der Stier sofort eine zentrale Rolle.
Die sumerischen Keiltexte bilden nach meiner Schätzung die Grundlage für alle schriftlichen Religionen und Mythologien – und eben auch für die Religionen Christentum und Islam. So einfach fallen Weltreligionen nämlich nicht vom Himmel.
Im Rahmen der griechischen Mythologie (mit der ich mich als Anker beschäftige) hat der Stier eine extrem große Bedeutung. Da wurde es dem Stier des Poseidon („Kretischer Stier“) das Sternbild Stier. Zeus verwandelte sich einst in einen Stier und entführte in dieser Gestalt die am Strand von Sidon spielende Europa auf die Insel Kreta. Natürlich muss man auch den Minotauros von Kreta betrachten, halb Mensch (Anteil der Pasiphae) und halb Stier (Anteil vom Kretischen Stier).
Noch heute wird der Stier als Kraftwesen betrachtet und es gibt noch immer die Tradition der Stierkämpfe. In verschiedenen Regionen Spaniens beispielsweise werden Stierkämpfe ausgetragen. Betrachten wir den Stier des Poseidon, so war dieser ein göttliches Kraftwesen.
Da ich mich als Anker mit der griechischen Mythologie beschäftige, betreibe ich mehrere Projekte dazu. Mein Gästebuch beispielsweise enthält eine auf die griechische Mythologie optimierte Suchmaschine ->
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