Die (postmodernen) Nibelungen: In Worms

Nach Worms zu gelangen, ist dieser Tage gar nicht so einfach. Gewiss, man reitet nicht mehr zu Pferd, reist mit der Postkutsche oder pilgert per pedes. Doch da ist die Zeit, die sich viel zu leicht und viel zu unnachgiebig auf die Entschlussfreudigkeit auswirkt. Zeit ist Zeit ist Zeit – das gilt auch in Bezug auf den Zug. Ebenfalls nicht zu unterschätzen: das Wetter. Gefolgt von Schwankungen im allgemeinen Wohlbefinden (auch der innere Reiseschweinehund will gut gefüttert werden) oder von anderweitigen arbeitstechnischen Ablenkungen. Beim dritten Anlauf soll es daher endlich gelingen:


„Uns sind in alten Mären Wunder viel gesagt

von Helden, reich an Ehren, von Kühnheit unverzagt,

von Freude und Festlichkeiten, von Weinen und von Klagen,

von kühner Recken Streiten, mögt ihr nun Wunder hören sagen.“ (Vs. 1)


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Odyssee durchs Winter-Wunderland: “Der Schneesturm” von Vladimir Sorokin

Es war einmal … Schnee. Schnee ist “das” Symbol für den Winter. Wir bauen Schneemänner. Wir lieben Schneeballschlachten. Wir laufen Ski. Wir warten auf “weiße Weihnachten” und sind enttäuscht, wenn uns Petrus den Wunsch (mal wieder) nicht erfüllt hat. Wir fluchen über Schneematsch und schliddern über von feinen Schneeschichten überzuckertes Eis. Und nichts ist schöner, als sich an einem Sonntag mit einem Buch unter die Decke zu mummeln, während draußen sacht die Flocken fallen. Schnee besitzt gefühlsmäßig etwas geradezu verkitscht-heimeliges. Deshalb Vorsicht! Der Roman “Der Schneesturm” des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin, erschienen 2012 in deutscher Übersetzung im Verlag Kiepenheuer & Witsch, könnte das traute Bild vom mythisch weißen Winter-Wunderland etwas dämpfen.

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All along the Ishtar Gate: Teil 1 – Perspektiven

Blau. Es ist diese besondere Farbe, die man nicht so schnell vergisst. Die Farbe, in der sich die Betrachtung eines wolkenlosen Himmels mit der paradiesischen Idylle eines unbewegten Meeres an einem Strand verbindet. Die Farbe, die Besucherinnen und Besucher aus aller Welt angelockt hat – und vermutlich ab 2037 erneut anlocken wird. Blau. Die Farbe des wiedererstanden Babylon im Vorderasiatischen Museum Berlin.

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“… und den Wahnsinn der Liebe nannten wir den besten“ – Liebes- und Zauberkräuter in Mythologie und Botanik”

„Den göttlichen Wahnsinn aber teilten wir nach vier Göttern in vier Teile und eigneten den weissagenden Wahnsinn dem Apollon zu, den der Weihen dem Dionysos, den dichterischen den Musen, den vierten aber der Aphrodite und dem Eros, und den Wahnsinn der Liebe nannten wir den besten.“ (Platon, Phaidros)

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„… und der Tote ward wieder ins Leben gebracht“ – Von Kräutern, Wurzeln und Unsterblichkeit

In der vergangenen Woche hatte ich das Vergnügen, der Fachtagung der Europäischen Märchengesellschaft im Rheinland-Pfälzischen Vallendar beizuwohnen. “Zauberpflanzen – Pflanzenzauber” stand auf der Agenda. Ein Thema, dem man nicht nur in Märchen, sondern auch in der Mythologie auf die Spur kommen kann, und vielleicht ist es kein Zufall, dass der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie gerade in Leipzig gegründet wurde, in “Libzi”, dem Ort der Linden (sorbisch “lipa” > Linde). Linden galten bei Germanen und Slawen als heilige Bäume. Ihre herzförmigen Blätter symbolisierten und symbolisieren die Liebe, oft wurde aber auch unter Linden Gericht gehalten. Nach Seuchen- oder Kriegsjahren stiftete man Friedens- oder auch Kaiserlinden und unter Dorflinden tauschte man Nachrichten aus, hielt Brautschau oder spielte zum Tanz auf. Von Lindenblättern weiß man, dass sie das Gemüt beruhigen. Früher glaubte man gar, dass sie böse Geister und Dämonen fernhielten. Beste Voraussetzungen also, sich in ein magisch-botanisches Abenteuer zu stürzen und vor allem die Kräuter, welche in Mythen und Märchen die ewige Jugend verheißen oder Verstorbene vom Tod zurück ins Leben holen, ein wenig näher unter die Lupe zu nehmen.

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Mythen der Macht – Macht der Mythen

Was ist er nun, der Mythos? Schon häufig hat der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie diese fast schon Frage aller Fragen aufgetan. Ohne eine befriedigende Antwort zu finden. Ein Mythos ist eine Erzählung, eine Vorstellung vom Anfang und vom Ende und vom Dazwischen der Welt. Göttinnen und Götter, zumindest aber überirdische Wesen wie zum Beispiel Fabeltiere und Helden, können darin vorkommen. Mythen erzählen von Verwandlungen in Tiere oder Pflanzen, von heiligen Bäumen oder Orten, denen eine besondere Macht innewohnt. Und sie berichten von den Menschen bzw. sie lesen sich zumeist gar als Berichte für den Menschen. Ein Mythos kann Verortung bedeuten, das skelettale Konstrukt einer Ordnung, die ständig vom Chaos bedroht wird oder gar aus diesem hervorgeht.

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Bibliotheken im Alten Ägypten

“Wie Sie wissen kann man sich in Bibliotheken – besonders in verschwundenen – leicht verirren.” (Hinweis für Bibliotheksbenutzer, In: Luciano Canfora, Die verschwundene Bibliothek)

Am Anfang war das Wort, lautet der Beginn des Johannesevangeliums

in dem u. a. von der Schöpfung der Welt und des Menschen, dessen bewusst inszenierter oder geduldeter Verführung sowie der Vertreibung aus dem Paradies die Rede ist.

Wort – Schrift – Was verstehen wir eine Bibliothek

Blicken wir zurück ins Altertum, wie etwa ins Alte Ägypten wird es mit der “Bibliothek” und wie wir sie uns in der Vorstellung imaginieren schon schwieriger.

“Das, was die abendländische Kultur jahrhundertelang dem Buch zuschrieb – Wissen in sich aufzunehmen und an Lesekundige oder auch Befugte nach Bedarf wieder abgeben zu können – wird im alten Ägypten durch Tempel erfüllt, an dessen Wänden Ritualtexte oder solche mit geschichtlicher Bedeutsamkeit aufgeschrieben wurden.” (Zinn, S. 90)

Literaturhinweise:

Fayza M. Haikal. Private Collections and Temple Libraries in Ancient Egypt. In: Mostafa El-Abbadi/Omnia Mounir Fathallah (Hrsg.). What Happened to the Ancient Library of Alexandria? Library of the Written Word 3, Brill: Leiden 2008, S. 39-54.

Luciano Canfora. Die verschwundene Bibliothek. Das Wissen der Welt und der Brand von Alexandria. Rotbuch: Hamburg 1998.

Ein bisschen Nacht muss sein – Mit der Autorin Karin Kalisa auf Streifzug durch das Dunkel

Magst du die Nacht? Im ersten Moment eine einfache Frage, oder? Vielleicht doch nicht? Gewiss könnte man die Antwort auf ein simples Ja oder Nein reduzieren, doch würden beide Worte ein wenig trostlos im gesprochenen oder geschriebenen Raum stehen. Die Nacht mit ihren Herausforderungen und Geheimnissen, ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, kurzum ihrem Dazwischen, hat sich ein „Mehr“ geradezu metaphorisch auf den Leib geschneidert, vielleicht eher auf den Leib schneidern lassen. Denn rein naturwissenschaftlich und biologisch betrachtet, ist die Nacht erst einmal nichts anderes als das Dunkel, die Gegenseite des Tages, die Zeit des Schlafs und der Träume, der Entschleunigung, der körperlichen Ruhe und Regeneration. Darüber hinaus wird sie aber auch mit Furcht und dem Tod in Verbindung gebracht.

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Zwischen Himmel und Erde 1.0: Eine Lektion im Lächeln – Der Naumburger Dom

Seit jeher ist der Mensch fasziniert vom “Oben”, dem Blick zu den Wolken, zur Sonne, zum Mond oder zu den Sternen. Das Oben scheint unendlich. Und ungreifbar. Ein weiter Raum, der unsere Vorstellungskraft anregt, und vielleicht war und ist es genau das, weshalb das Oben seit jeher mit dem Sitz von Göttern, dem Reich der himmlischen Heerscharen oder aber mit dem Paradies assoziiert wurde. Alles Gute kommt von oben. Alles Schlechte lauert in der Tiefe, der Unterwelt, der Hölle, dem Reich fernab des Lichts. Schon im Schamanismus finden wir die Dreigeteiltheit des Kosmos in Ober- und Unterwelt, verbunden durch die axis mundi (die Weltenachse), symbolisiert etwa durch den Weltenbaum, einen heiligen Berg oder auch eine Trommel. Auf der Tabula Smaragdina (Smaragdtafel), der grundlegenden Schrift der Alchemisten, heißt es: Quod est inferius, est sicut (id) quod est superius, et quod est superius, est sicut (id) quod est inferius – Das Unten ist wie das Oben, und das Oben ist wie das Unten.

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Die Regentrude

“Einen so heißen Sommer, wie nun vor hundert Jahren, hat es seitdem nicht wieder gegeben. Kein Grün war zu sehen; zahmes und wildes Getier lag verschmachtet auf den Feldern.” Man könnte meinen, der Beginn von Theodor Storms Märchen “Die Regentrude” träfe auf die Sommer der letzten Jahre zu. Nun gehen und fahren wir zwar nicht an Tierkadavern vorüber, wenn wir den Urlaub antreten oder unseren Alltagsverpflichtungen nachgehen. Aber zu oft fallen uns die von der Sonne vertrockneten Grasflächen auf, hören wir Nachrichten von brennenden Wäldern, sehen wir Bilder von Flussbetten, die einer Mondlandschaft gleichen. Im Januar ging ich am Rhein spazieren, den wir wie kaum einen zweiten mit Schifffahrt, Geschichte oder Romantik verbinden. Mit unaufgeregtem Selbstverständnis strömte das Wasser in Richtung Nordsee. Die aktuellen Bilder von sinkenden Pegeln wirken im Vergleich zu diesen Erinnerungen beinahe surreal. Und surreal ist es auch an der Ahr (wie auch an der Elbe und an jedem anderen Fluss), die derzeit streckenweise zur einem Rinnsal verkommen ist, wiewohl deren Flut im Jahr 2021 Tod und Zerstörung gebracht hat.

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(Un-)Mythische Perspektiven – Stadtansichten, Schatten und ein Blick durch die Camera obscura

Vielleicht sind es die Details, die es verstehen, den Betrachter in Bann zu ziehen: das Mädchen, das seine Handfläche stoisch, fast schon schicksalsergeben, zwei Frauen entgegenstreckt, um ein Geldstück zu erbetteln, Kirchenbesucher, die nach Ende des Gottesdienstes aus dem Eingangsdunkel der im Renaissancestil zwischen 1579 bis 1584 umgebauten Dresdner Kreuzkirche streben oder aber die dunkelbraunen Lasuren der Hausziegel, die dem Gebäude gleichermaßen das Aussehen von Erhabenheit und Verfall verleihen. Es scheint fast, als würde man beim Betrachten Teil der Szenen werden – eine Zeitreise der Gedanken ins Europa des 18. Jahrhunderts. “Zauber des Realen” – der einleitende Titel zur Ausstellung “Bernardo Bellotto am Sächsischen Hof” in der Gemäldegalerie Alte Meister des Dresdner Zwingers ist passend gewählt. Aus Amsterdam, Dublin, Hamburg, London, Los Angeles, Stockholm, Warschau etc. und natürlich aus Dresden kommen die ausgestellten Objekte. Der Zauber ist international, so kosmopolitisch wie der Künstler, dessen 300. Geburtstag man im Jahr 2022 begeht, für seine Zeit selbst.

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“Du bist mein Schatten” – Magievorstellungen im alten Mesopotamien

“Sie hexten im Himmel, sie hex[ten] auf der Erde.”
(Auszug Gira-Hymnus – Übersetzung Schwemer, Abwehrzauber, S. 21)

Die Welt, das Leben, unser Denken, Handeln und Fühlen, all unsere Bewegungen und auch unsere Worte – gesprochene wie geschriebene, solche mit und ohne Absicht, Wissen, Zerstreuung oder Erkenntnis erlangen zu wollen – all dem ist ein grundlegender Schlüssel zu eigen, welchem wir uns nur selten bewusst sind: die Wiederholung. Bei Wiederholung denkt man vielleicht an die Jahreszeiten, an Geburtstage, an wiederkehrende Sportereignisse, an das freitägliche Gespräch in der Kneipe oder an den regelmäßigen Austausch beim Lesekreis, vielleicht stellt man sich auch einen mittelalterlichen Benediktinermönch im klösterlichen Skriptorium vor, wie er Handschriften für die hauseigene Bibliothek illuminiert oder abschreibt.

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Der Totentanz

Im Jahr 1813 schrieb Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) die Ballade „Der Totentanz“, was vielleicht Zufall oder aber Vorsehung gewesen sein mag, ist 1813 doch als Jahr der Völkerschlacht bei Leipzig, der bis dato größten Schlacht der Weltgeschichte mit ca. 100.000 Toten und Verwundeten, in die Geschichte eingegangen. Nun sind die Verse keine explizite Kritik an Krieg, Krankheit und Elend, sondern lesen sich vielmehr wie eine gruselige Geschichte davon, was uns am Ende alle vereint und was seit der Aufklärung mehr und mehr in Vergessenheit geraten zu sein scheint: die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. In Goethes Werk erheben sich die Toten zur Geisterstunde aus ihren Gräbern und finden sich gemeinsam und unabhängig von Rang, Namen und Stand zum Tanz zusammen. Der noch lebende Türmer wird durch eigenes Verschulden Teil des makaberen Geschehens und kann dem Spuk erst durch den Glockenschlag der ersten Stunde nach Mitternacht entrinnen. Mit den Toten sollte man eben keinen Spott treiben.

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Gottes Werk und Teufels Schuld – Engel: Versuch über eine Faszination

Glauben Sie an Engel? Oder anders formuliert: Glauben Sie an Engel, ohne dass sie vielleicht glauben? Engel begegnen uns oft und meist dann, wenn wir nicht mit ihnen rechnen. Beim Museumsbesuch zum Beispiel, wenn sie – wie die berühmten Engel zu Füßen von Raffaels Sixtinischer Madonna – voll Anbetung oder aber einfach nur knabenhaft verträumt nach oben schauen. Ganz sicher in den Altarbildern oder als Teil von Schnitzereien biblischer Szenen in Kirchen. Engelfiguren, Engelkarten, Engelketten können wir in Souvenirläden, im Online-Handel oder auf Weihnachtsmärkten erwerben, sie aufstellen, sie sammeln oder als Schutz- und Glücksbringer bei uns tragen. Es gibt Engeltarots, Engelbücher, Engelfilme – man denke hier an den Kultfilm „Stadt der Engel“ aus dem Jahr 1998 mit Nicolas Cage, in dem sich ein Engel in eine Sterbliche verliebt – und sogar Engelserien wie jüngst „Lucifer“ auf Amazon Prime, die Engelleben, Engelleiden und Engellieben in allen Zügen preisen und auskosten. Mit vollem Erfolg beim Publikum. Wir sind fasziniert von Engeln, vielleicht, weil wir uns immer wieder neu von ihnen faszinieren lassen, ja, sie mit neuen Augen entdecken können. Engeln wohnt etwas Spirituelles, Beruhigendes, aber auch Kreatives – Ästhetisches wie Ätherisches – inne. Wie etwa, wenn in Dantes Göttlicher Komödie Beatrice – die große Liebe des Dichter, die in gewisser Weise selbst als ein lichtumflutetes, engelhaftes Wesen erscheint – dem Jenseitsreisenden über die neun Chöre der Engel, die sämtlich zum Gottespunkt (dem Ursprung allen Anfangs und allen Endes) streben, aufklärt:

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Wälder, Träume, kalte Herzen – Von der Magie eines Märchens

“Schatzhauser im grünen Tannenwald,
Bist schon viel hundert Jahre alt;
Dein ist all Land, wo Tannen stehn,
Lässt dich nur Sonntagskindern sehn.”

Es war einmal … Die Ahnung eines dichten Waldes. Stille. Der Alltag nur eine vage Ahnung der Wirklichkeit. Und in der Stille Gekicher. Mal von hier, mal von dort. Eine finstere Kulisse und in der Mitte, sich langsam bewegend, ein weißes Männlein mit spitzem weißen Hut, bei dem man nicht umhinkommt, an die Kopfbedeckung eines Zauberers zu denken. Näher und näher kommt die Gestalt, die geisterhaft wirkt vor der Düsternis der irrealen Bäume; ein sich bewegender Lichtpunkt von Ferne, ummalt von einem schon fast schmerzlich grellweiß ausgeleuchtetem Rahmen, der an die aufgeschlagene Seite eines elektronischen Buches erinnert. Und die erste Frage ist bereits beantwortet, bevor sie sich stellt: Es ist Magie im Spiel in den kommenden neunzig Minuten.

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Kleines Mythologisches Alphabet: Zwischen Kap Arkona und dem Lausitzer Bergland. Westslawische Mythologie

Hören wir den Begriff “Slawen”, denken die meisten vermutlich an Gebiete wie Tschechien, Polen, die Länder des Balkans oder an Russland, kurzum, man assoziiert damit in gewisser Weise den “Osten”. Wobei es “den Osten” als konkreten Ort ebenso wenig gibt wie “die Slawen” als eine einheitliche Ethnie. Allenfalls lassen sich Letztere als regionales Unterscheidungsmerkmal in Süd-, Ost- und Westslawen unterteilen. Dabei sind es die kulturellen und mythologischen Zeugnisse der westslawischen Stämme der Germania Slavica, die man zwischen den Flüssen Elbe und Oder respektive dem Kap Arkona auf Rügen und den Lausitzen (Oberlausitz/Niederlausitz) verorten kann, denen der Slawist Hans-Christian Trepte im unter dem Buchstaben “S” erschienenen Band der Reihe “Kleines Mythologisches Alphabet” eine intensivere Betrachtung widmet.

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Über die Rose

Die Schriftstellerin Gertrude Stein hätte es nicht treffender beschreiben können: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Doch was hat es wirklich auf sich mit der Rose, der erstmals von der antiken griechischen Dichterin Sappho benannten „Königin der Blumen“? Sie ist real: Wir können sie berühren, den Duft riechen, Blütenblätter, Farben und Gestalt mit unseren Augen erfassen. Wir können sie im Blumenladen kaufen, im Garten züchten oder in der freien Natur bewundern. Rund zweihundertfünfzig Arten sind nachgewiesen und wer sich wissenschaftlich mit ihnen beschäftigen mag, ist in der Rhodologie trefflich aufgehoben. Dennoch bleibt die Rose ein Mysterium.

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Löwenmenschen und Schamanen – Magie in der Vorgeschichte

Was ist Magie? Ist sie das Tor zu dem, was wir jenseits unserer Sinne und unserer Vorstellungskraft vermuten? Unsere ureigene Manipulation und Projektion von Wünschen, Ängsten und Träumen in einem? Die treibende Kraft für das, was greifbar scheint und doch ungreifbar bleibt – das Versprechen nach dem Möglichen, der Sehnsucht nach Erkenntnis, an welcher sich der Goethische Faust fast schon verzweifelt abmühte? Oder ist Magie ein Mittel der Ordnung, das unserer von Augenblick zu Augenblick neu erlebten und wahrgenommenen Welt Strukturen verleiht mithilfe von Amuletten, Bildern, Ritualen und nicht zuletzt dem (schriftlichen und gesprochenen) Wort?

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Dante – Gedanken zu einem poetischen und historischen Phänomen

“Dies ist kein Märchen. Und es ist auch kein Traum. Sondern eine Lebenswende” [1]

Viel ist in 700 Jahren geschrieben worden über Dante Alighieri (1265-1321), den florentinischen Dichter und Gelehrten, der dem Minnesang in der poetischen Prosa und in den Versen der “Vita Nuova” (Das Neue Leben) huldigt, die Philosophie im Werk “Convivio” (Gastmahl) zu Wort kommen lässt und seine nach dem Vorbild des Aristoteles entworfene Politiktheorie in der “Monarchia” beschreibt. Berühmt und auf seine Weise berüchtigt wurde er indes durch sein Hauptwerk, die “Commedia” (Komödie), heute zumeist unter dem Titel “Divina Commedia” (Die Göttliche Komödie) bekannt, wobei das “Divina” auf eine Anmerkung des Schriftstellers Giovanni Boccaccio (1313-1375) zurückgeht; eine ganz ureigene und zugleich seltsam zeitlose Reise in eine Anderswelt, die wir fürchten und deren wahre Gestalt sich unserer Erkenntnis entzieht. In seiner Dichtung durchmisst Dante das gesamte physische und geistig-seelische Universum des Mittelalters und hat es in einem gewissen Sinne innovativ neu erschaffen. “Niemand verlieh der Verbindung des Schöpfungssystems auf dieser Welt mit demjenigen im Jenseits einen vollkommeneren Ausdruck als Dante. Aus der Hölle steigt man in die intermediäre, zeitlich begrenzte Welt auf. Dort erhebt sich der Purgatoriumsberg zum Himmel, gekrönt vom irdischen Paradies, das nicht mehr in einem verlorenen Winkel des Universums, sondern auf seiner ideologischen Ebene, der Ebene der Unschuld zwischen der höchsten Läuterung im Purgatorio und dem Beginn der Glorifizierung im Himmel, liegt.” [2]

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Die Geister Roms – Von Wiedergängern und Nachtgestalten

„Ich, ihr Bürger, bin körperlich tot, aber in dem Wohlwollen und der Freundlichkeit, die ich euch gegenüber empfinde, bin ich lebendig. Ich bin, nachdem ich mich an die gewandt habe, die unter der Erde die Herren der Dinge sind, hier bei euch nun zu eurem Nutzen. Und so rufe ich euch, da ihr ja meine Mitbürger seid, jetzt auf, nicht furchtsam oder verschreckt zu sein, nur weil unerwartet ein Geist anwesend ist. […] Freilich verzeihe ich euch, daß ihr angesichts eines so merkwürdigen Anblicks nicht wißt, was ihr recht tun sollt. Wenn ihr mir zudem ohne Furcht gehorchen wollt, werdet ihr von eurer gegenwärtigen Furcht ebenso befreit wie von der bevorstehenden Katastrophe. Doch wenn ihr zu einer anderen Auffassung gelangt, bange ich um euch, daß ihr wegen eures Mißtrauens uns gegenüber in ein unheilbares Unglück stürzen werdet. Weil ich euch schon zu meinen Lebzeiten wohlgesonnen war, habe ich auch jetzt in diesem meinen unerwarteten Erscheinen vorhergesagt, was für euch vorteilhaft ist. […] Es ist mir nämlich nicht gestattet, lange zu bleiben, wegen derer, die unter der Erde die Herrscher sind.“ (Phlegon von Tralleis, Das Buch der Wunder, S. 19 f. )

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Die Rose am Rad der Fortuna – Über Lieder, Schicksal und die Zeitlosigkeit von Worten: Eine Impression aus Benediktbeuern

“O Fortuna, velud luna
statu variabilis,
semper crecis aut decrecis,
vita detestabilis!
nunc obdurat et tunc curat
ludo mentis aciem,
egestatem, potestatem
dissolvet ut glaciem.”


O Fortuna, veränderlich wie die Phasen des Mondes, nimmst du immer zu oder ab, verabscheuungswürdig in deinem Wandel!
Jetzt lähmt sie, dann beflügelt sie wieder,
ganz nach Laune, den Schwung des Geistes, läßt bittere Armut und Herrschergewalt schwinden wie Eis.

(Carmina Burana, 17)

Ein Wechsel von Regen und Sonnenschein begleitet mich auf der Reise gen Süden, als wollte mich das Wetter, das sich seit jeher dem menschlichen Zutun zu entziehen versteht, auf das Wochenende einstimmen. Eine schwer in Worte zu fassende Ruhe liegt in der Septemberluft, die nach Wiesen, Weite und Land duftet. In der Ferne künden Blitze, die sich in den Wolken verfangen zu haben scheinen und meinen Weg durch die Dämmerung begleiten, von spätsommerlichen Gewittern. Es ist ein magischer Moment, einer von denen, die allzu leicht ins Vergessen gleiten, sobald man von hohen Häusern umschlossen ist und die dann allenfalls noch in der Vorstellung existieren. Ich bin in Benediktbeuern etwa eine Stunde Fahrzeit von München entfernt; die Zeit hier draußen scheint anders zu laufen, nicht langsamer, aber gelassener, als sei sie sich ihrer eigenen Vergänglichkeit und vor allem ihrer Geschichte bewusst.

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Vergessene Götter: Die Königin der Nacht

Im Juli dieses Jahres war es im Botanischen Garten Leipzig wieder soweit: Für wenige Stunden öffnete die ursprünglich in der Karibik heimische Selenicereus grandiflorus aus der Familie der Kakteengewächse ihre etwa dreißig Zentimeter großen Blüten. Das Schauspiel ereignet sich gewöhnlich zwischen Juni und August (was jedoch abhängig ist von Blüte zu Blüte) und innerhalb einer bestimmten Zeitspanne, vom frühen Abend bis zum Morgengrauen des nächsten Tages. Aus diesem Grund ist die Selenicereus grandiflorus auch als die “Queen of Night”, die Königin der Nacht, bekannt und das Ereignis, wenn die Knospen ihr Geheimnis preisgeben, ist nicht nur für eingefleischte Botaniker ein außergewöhnliches Spektakel.

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Masken, Geister und Vitrinen oder: Wie man die Welt bereist, ohne 80 Tage zu brauchen – Impression eines Rundgangs

Es ist nicht ganz einfach, gegen das Glas anzufotografieren, das die ihm anvertrauten Schätze vor Berührungen schützt. Im Zusammenspiel mit seinem Verbündeten Licht hat es die Kamera oft schwer, den richtigen Blickwinkel zu finden und die Bilder jenseits der Barriere einzufangen, Bilder, die es auf diese Weise künftig wohl nicht mehr im Grassi Museum für Völkerkunde Leipzig geben wird. Zumindest in der bisher präsentierten Weise, denn das Museum befindet sich in der Umgestaltung, und wie es immer so ist mit dem, was man kennt und was einem vertraut ist, schwingt auf dem Rundgang, den ich dankenswerterweise noch einmal antreten darf, auch eine Portion Wehmut mit. Es ist, als würde sich auf der Reise von Raum zu Raum nicht nur die gefühlte Tageszeit ändern, sondern als sei man auch der eigentlichen Welt entrückt. Auf metaphorischen Sieben-Meilen-Stiefeln geht man als Beobachter auf Zeitreise um die Welt, allerdings ohne dafür die von Jules Vernes veranschlagten 80 Tage zu brauchen. Man ist in einer Art Schwebezustand, einem Dazwischen, das doch kein Dazwischen ist, oder, wie es der Schriftsteller Clemens Meyer auf den Punkt gebracht hat: “Es gibt kein Dazwischen. Es gibt nur ein Jetzt.” Seien Sie herzlich eingeladen zum Rundgang.

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Von Schatten, Träumen und Schaufensterpuppen – Steven Millhausers “Zaubernacht”

“Kommt raus, kommt raus, wo immer ihr seid, ihr Träumer und Tagediebe, ihr Faulpelze und Verlierer, ihr Schattensuchenden und Sonnenwaisen. Kommt raus, kommt raus, ihr Nieten und Nullen, ihr Taugenichtse und Habenichtse, ihr vom Tag Ausgestoßenen, Liebkinder der Nacht. Kommet, ihr alle, die ihr scheußlich seid und kummervoll, ihr alle, die ihr schwarze Gedanken hegt und rote Fieberträume, kommt schon, ihr Kleinstadt-Ismaels mit euren traurigen blauen Augen, ihr Mauerblümchen und Pechvögel, kommt, ihr Nörgler und Ächzer, ihr Außenseiter und Sonderlinge, ihr Eigenbrötler und Wunderlinge, kommt nur, kommt nur, ihr bleichen Romantiker und nutzlosen Trunkenbolde, ihr Wart-noch-nie und Werdet-nie sein, ihr von der Sonne Verspotteten, vom Tag Verdammten, ihr Wesen der Dunkelheit: Kommt heraus in die Nacht.”

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Vergessene Götter: Bes, der göttliche Dämon

Hören oder lesen wir von den Gottheiten des ägyptischen Pantheons, ist zumeist von Re, dem Sonnengott, Isis, der Göttin der Magie sowie der Geburt und Wiedergeburt, ihrem Gemahl, dem Totengott Osiris, oder aber dem Himmels- und Königsgott Horus und dessen Gegenspieler Seth, dem Gott der Wüsten und des Chaos, die Rede. Bes (“der Schützer”, vermutlich von “besa” > beschützen) dagegen ist vor allem den Ägyptologen ein Begriff. Dabei kann es seine Popularität in der ägyptischen Religion durchaus mit der der “Großen Götter” aufnehmen. Seine Präsenz ist seit dem Mittleren Reich (ca. 2000 v. Chr.) durch verschiedene archäologische Funde belegt. Bes ist Dämon, Zwerg, Gottheit, Fabelwesen, Magier, Tänzer, Symbol, Maske, mythischer Besänftiger – einer der beliebtesten und weitverbreitetsten ägyptischen Götter (Wilkinson, S. 102), über dessen Anfänge wir nur wenig wissen. Das Museum August Kestner (MAK) in Hannover hat ihm gegenwärtig unter dem Titel “Guter Dämon Bes – Schutzgott der Ägypter” eine Sonder- und Wanderausstellung gewidmet, welche in Kooperation mit dem Allard Pierson Museum in Amsterdam und der Ny Carlsberg Glyptotek Kopenhagen entstanden ist. Sammlungsstücke aus ganz Europa (u. a. auch aus dem Ägyptischen Museum Georg Steindorff der Universität Leipzig) sind hier – hoffentlich recht bald wieder – für das Publikum zugänglich.

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Fabelwesen aus Sicht eines Zoologen: Einstimmung zum Mythen-Tag

Liebe Leserinnen und Leser des MYTHO-Blogs,

ein turbulentes Jahr neigt sich ganz allmählich dem Ende entgegen, und wir sind immer noch mittendrin im Reich der Fabelwesen, die sich nicht nur in unserem Bestiarium sehr heimisch fühlen, sondern auch Thema des 1. Leipziger Mythen-Tages im Heinrich-Budde-Haus sind. Vom indischen Garuda wird dort die Rede sein, vom dämonischen Wendigo und von keltischen Drachen. Wir freuen uns auf viele neue Impressionen und auf spannenden Gesprächsstoff.

Dabei stellt sich gleichzeitig die Frage, ob Fabelwesen wie der Phönix, der Drache oder der Wolpertinger gänzlich unserer Fantasie entsprungen sind oder ob es die einen oder anderen realen Vorbilder gegeben hat, die die Imagination der Menschen dermaßen beflügelt haben, dass aus diesen Tieren mehr wurde, als das bloße Auge uns glauben macht.

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Kupfer: Metall, Heil- und Zaubermittel

Auf dem jüngsten Familientreffen verriet mir mein Bruder, er habe kürzlich einen Artikel über die kulturhistorische Bedeutung von Kupfer gelesen. Neugierig geworden, begann ich, bezüglich der Herkunft sowie der vielseitigen Verwendungsmöglichkeiten dieses Halbedelmetalls, das wir am ehesten als Wärme- und Stromleiter oder als Material der Münzprägung kennen, selbst in der heimischen Lektüre zu blättern. Die nachfolgenden Zeilen sind die Ergebnisse einer ersten Spurensuche.

Kýprion – Cuprum – Koparr – Kupfer

Etymologisch ist Kupfer von “kýprion” abgeleitet, herkommend von Kýpros (Κύπρος), dem altgriechischen Namen für die Insel Zypern. Im Lateinischen nennt man es volkstümlich “cuprum” (oder cyprom) bzw. kennt es als aes Cyprium oder Aes (in der Bedeutung Erz, Kupfer oder Bronze), Althochdeutsch “koffer”, Altnordisch “koparr”. Das Mittelhochdeutsche weist Kupfer als “kupfer” aus, während das Niederländische “koper” Ähnlichkeiten mit dem Altenglischen “copor”, später “copper” besitzt.

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Vergessene Götter: Anu, “der allerfernste der Götter im weiten Himmel”

“Als die Götter Mensch waren, trugen sie die Mühsal, schleppten sie den Tragkorb. Der Tragkorb der Götter war groß, die Mühsal schwer, übermäßig war die Drangsal. Die großen Anunnaku ließen siebenfach die Igigu die Mühsal tragen. Anu, ihr Vater, war der König; ihr Ratgeber der Held Enlil. Ihr Thronträger war Ninurta, ihr Kanalinspektor Ennugi. Sie fassten die (Los-)Flasche an ihrer ‘Wange’, warfen das Los, woraufhin die Götter teilten: Anu stieg (sodann) zum Himmel empor, Enlil nahm sich die Erde für seine Untertanen. Die Riegel und die Schlingen des Meeres wurden dem weitsichtigen Enki hingelegt. Diejenigen des Anum stiegen zum Himmel empor, diejenigen des (Grundwassers) Apsu stiegen endgültig hinab. Es waren müßig diejenigen des Himmels, die Mühsal ließen sie tragen die Igigu. Die Götter begannen, Flüsse zu graben – die Wasserläufe der Götter, das Leben für das Land.” (Als die Götter Mensch waren, Die altorientalische Sintfluterzählung, S. 10)

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“Sphinx” oder: Die (Un-)Liebe des Dichters zu seinen Worten in drei literarischen Rätseln

Es wird Abend in der Stadt Leipzig. Unwillig entschließt sich die Junisonne, hinter den Häusern im Westen zu versinken, aber nicht ohne ein letztes, trotziges Aufglühen, das manchem, der längst das dämmernde Dunkel erwartet, in den Augen blendet. Fast zeitgleich legen sich die langsamer werdenden Geräusche des Abends im Einklang mit sommerlicher Kühle über Straßen und Menschen. Der Sommer hat so seine eigene Art, uns zu überfallen. Er ist ein Gaukler, der uns weismacht, all unsere Gedanken zu kennen, und mehr noch; er gibt vor, sie uns aussprechen zu lassen. Und dann, wenn wir dem Trick auf dem Leim gehen – und das tun wir immer -, stellen wir fest, dass die Gedanken ins Ungreifbare entwickelt, sie uns vielleicht sogar wie wundersam abhandengekommen sind. Wir ringen nach Worten, Worte, worum sich alles dreht. Worte, die die Hitze im Zwielicht von Tag und Nacht wieder freigibt; doch es ist ein zögerliches Freilassen, als hätten wir die Wärme in flagranti ertappt, uns insgeheim eine Scherbe unserer selbst gestohlen und in die Welt geworfen zu haben.

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Grässlich, hässlich, menschlich? – Auf Spurensuche in der mythischen Welt der Monster

Ob Alf, der knuffige Besucher vom Planeten Melmac, das geifertriefende Alien mit seinen Rasiermesserzähnen, Bram Stokers blutgierender Graf Dracula oder das aus Leichenteilen gefertigte Geschöpf des Viktor Frankenstein, sieht man sich in der modernen und postmodernen Fernseh-, Film-, Werbe-  und Literaturlandschaft um, kommt man um die absonderlichen Gestalten nicht herum, die uns mal Furcht einflößen, mal Mitleid in uns erwecken oder uns sogar zum Lachen bringen.

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“Geschaffen, nicht geboren” – Von Mythen und Maschinen

Wunderlich ist es doch, daß viele von uns über Olimpia ziemlich gleich urteilen. Sie ist uns … auf seltsame Weise starr und seelenlos erschienen. Ihr Wuchs ist regelmäßig, so wie ihr Gesicht, das ist wahr! – Sie könnte für schön gelten, wenn ihr Blick nicht so ganz ohne Lebensstrahl, ich möchte sagen, ohne Sehkraft wäre. Ihr Schritt ist sonderbar abgemessen, jede Bewegung scheint durch den Gang eines aufgezogenen Räderwerks bedingt. Ihr Spiel, ihr Singen hat den unangenehm richtigen geistlosen Takt der singenden Maschine und ebenso ist ihr Tanz. Uns ist diese Olimpia ganz unheimlich geworden, wir mochten nichts mit ihr zu schaffen haben, es war uns als tue sie nur so wie ein lebendiges Wesen und doch habe es mit ihr eine eigne Bewandtnis.” (E.T.A Hofmann, Der Sandmann)

Sie trägt ein menschliches Antlitz. Und doch ist sie kein Mensch. Ein Irrtum, dem der Student Nathanael in E.T.A. Hofmanns Erzählung “Der Sandmann” (erschienenen 1816) erliegt, als er sich in die als Tochter proklamierte Holzpuppe des Physikers Spalazani verliebt, die er als “himmlische Schönheit” wahrnimmt, mit ihr tanzt, ihr vorliest, sie küsst und ihr sogar einen Heiratsantrag macht. Erst später erkennt er sie und ihre “Glasaugen” als das, was sie ist: ein Automat, ein künstliches Wesen, so lebensecht, dass sie es schafft, Menschen zu täuschen und Gefühle in diesen wachzurufen, sei es glühende Verehrung oder den Schauder des Unheimlichen.

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Von heiligen Wassern und gesponnenen Fäden – Gedanken über das Schicksal

Es ist eine gewaltige, immer-sprudelnde Fontäne aus Wasser inmitten einer Höhle, schlicht, abgelegen, vergessen und blutrot funkelnd, wenn ein Sterblicher in ihr umkommt. Die Macher des Films Sindbads gefährliche Abenteuer aus dem Jahr 1973 (Regie: Gordon Hessler) haben einiges an Effekten auf die Darstellung des Schicksalsbrunnens verwendet, welchen die Reisenden um den legendären Kapitän am Ende ihres vorherbestimmten Weges aufsuchen müssen. Schicksal, Schicksal, Schicksal hat zuvor schon das Allwissende Orakel in seinem Tempel prophezeit. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss. Die Helden besiegen das Böse im letzten Moment. Dabei wird alles noch einmal in die Waagschale geworfen: Tod und Leben, Liebe und Hoffnung, Mut und Opfer. Ein wunderbarer Film, der mich seit meiner Jugend begleitet. Dem Schicksalsbrunnen wohnt darin eine eigene, unberechenbare und doch wissende Kraft inne, obwohl das Motiv in einer Sindbad-Geschichte überraschen mag. Denn Schicksalsquellen sucht man in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht vergeblich. Schon eher wird man dazu in der Nordischen Mythologie fündig. Dort wird der Schicksalsbrunnen meist als Urdabrunnen (Urdbrunnen) bezeichnet. Im Gylfagynning, einem Hauptteil der in Prosa verfassten Snorra-Edda, die auf den isländischen Skalden Snorri Sturluson (1179-1241) zurückgeht, heißt es dazu:

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Ragnarök oder: Von modernen Riesen und jugendlichen Helden

“Die Söhne Thors werden Mjöllnir tragen, zum Schutz gegen neue Feinde. Warum sollte kein Riese überleben? […] Die neuen Asen werden über die Taten in der Vergangenheit reden, wie Thor neun Schritte vor der Midgardschlange zurücktrat und als einziger der alten Götter siegte, wie Odin die Runen erfand und den Dichtermet heimholte. Die Asen werden im Schutt, von Gras überwachsen, ihr Brettspiel finden, das sie lieben. Und sie werden die goldenen Figuren neu setzen, Losstäbe werfen und die Zukunft erforschen.” (Eine Neue Welt, In: Tetzner, Germanische Götter- und Heldensagen, S. 135)

Die Reise der Helden hat begonnen, sagt die ältliche Supermarkt-Kassiererin mit dem merkwürdig durchdringenden Blick und dem Lächeln, welches stets mehr meint, als es zu sagen scheint. Verrückt sei sie, behaupten die Einwohner der norwegischen Stadt Edda, sind sie es doch seit Jahrzehnten gewohnt, beim Einkauf allerlei prophetische und in ihren Augen unsinnige Bemerkungen zu hören. Auch dem jungen Magne Sejer, unlängst mit seiner chaotisch-neurotischen Mutter und seinem durchtrieben-schlauen Bruder Laurits in den Ort am Fjord gezogen, flößt die Dame Unbehagen ein. Bei ihrer ersten Begegnung hat sie auf merkwürdige Weise seine Stirn berührt und seitdem passiert etwas mit ihm. Magne scheint sich auf eigenartige Weise zu verändern.

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“Wir sind die Schlangen, die Schlangen sind wir” – Fabelwesen und Schöpfertiere in den Mythen Australiens

Australien. Für uns Europäer der Kontinent am anderen Ende der Welt, den wir u.a. mit Kängurus, Koalas, dem roten Felsgestein des Ayers Rock, dem Great Barrier Reef, der zu Silvester von Feuerwerk umrahmten Oper von Sydney, James Cook, dem Commonwealth und leider auch mit verheerenden Buschbränden in Verbindung bringen. Australien. Das ist auch das Land der Aborigines, seiner Ureinwohner, und es ist das Land der immer noch lebendigen Mythen. 60.000 Jahre (sogar von 120.000 Jahren ist in manchen Quellen aufgrund der Datierung von Felsritzungen die Rede) reicht diese lebendige Kultur mit ihren Traumpfaden zurück.

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Magische Begegnungen, oder: Vom realen Zauber einer Ausstellung

“Der menschliche Geist ist allein der Vollbringer wunderbarer Werke, dass er sich mit einem jeden Geist, mit welchem er will, verbinden mag, und wann dies geschehen, so tut und wirkt er, was er will. Deshalb soll man in magischen Sachen vorsichtig handeln, damit einem die Sirenen und andere Monstra nicht betrügen, welche gleicher Weise mit den Menschen Gemeinschaft zu machen begehren. Daher berge sich ein rechter Magier allezeit unter den Flügen des Höchsten und lasse sich nit von den brüllenden Löwen verschlingen, denn die, welche nach weltlichen Dingen begierig sind, können schwerlich des Satans Stricken entfliehen.”

(Liber Arbatel, Basel 1575, Aphorismus XXXV)

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"Beschreiben nützt nichts, ansehen." – Der Mythos Nofretete

“Lebensgroße bemalte Büste der Königin, 47 Zentimeter hoch. Mit der oben gerade abgeschnittenen blauen Perücke, die auf halber Höhe noch ein umgelegtes Band hat. Farben wie eben aufgelegt. Arbeit ganz hervorragend. Beschreiben nützt nichts, ansehen.” (Tyldesley, S. 140)

Die Sätze, die der deutsche Ägyptologe Ludwig Borchardt in seinem Grabungstagebuch von 1912/13 notierte, klingen präzise und nüchtern angesichts der Tatsache, dass es ihm gelungen war, einen der bedeutendsten Funde der ägyptischen Amarna-Zeit zu entdecken. Natürlich war er sich zu diesem Zeitpunkt des Hypes, den der mit bemaltem Gips überzogene Kalkstein im christlichen Abendland auslösen sollte, nicht bewusst. Ein Hype, der bis heute nichts an Intensität verloren hat und Künstler, Bewunderer und Schönheitsfetischisten gleichermaßen in seinen Bann schlägt.

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Küsse, Zauber und Druiden, oder: Geschichten unter dem Mistelzweig

“Wir befinden uns im Jahr 50 v. Chr. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die römischen Legionäre…” Denn die zähen Gallier wie der schlaue Asterix, sein Wildschwein liebender Kumpel Obelix, der auf einem Schild herumbugsierte Dorfchef Majestix oder der schräge Lieder trällernde Barde Troubadix, sie alle sind bei den Römern für viele blaue Augen, Prellungen und zerschlagene Knochen verantwortlich. Das Geheimnis ist der Zaubertrank des Druiden Miraculix, der in seinem Kessel allerlei Kräuter und Substanzen zusammenrührt. Doch alles Brauen und Beschwören würde nichts bringen ohne die wichtigste Zutat, die dem Zaubertrank erst seine Macht verleiht: Die Mistel.

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Gesänge für die Ahnen – Europäische Begegnungen mit den Ureinwohnern Australiens

Es sind Gesänge, wie man sie nicht oft in den Räumen des Grassi Museums für Völkerkunde zu Leipzig hört. Major Sumner, genannt Uncle Moogy, von der Ngarrindjeri Community Südaustralien, ruft mit seiner eindringlichen Stimme die Geister der Ahnen herbei. Einen seiner mit rituellen Zeichen versehenen beiden Bumerangs hält er in alle vier Himmelsrichtungen. Der dazugehörende Gesang und das Aneinanderschlagen von Holz, welches mit einem eindringlichen Sprechgesang einhergeht, richten sich nicht nur an die Ahnen seines eigenen Clans, sondern auch an die Ahnen der Anwesenden. Alle sind willkommen. Denn in der Schöpfung wie im Tod sind wir alle gleich. Die Ahnen sind unser aller Verbindung. Und es scheint tatsächlich, als würde sich an diesem 27. November 2019 eine enorme Ruhe über den Veranstaltungsraum im zweiten Museumsobergeschoss legen, eine Gelassenheit, welche Zuhörer und Erzählende durch den Abend trägt.

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"Ich bin Circe" – Weibliche Irrfahrten durch die Griechische Mythologie

Fast jeder kennt die Irrfahrten des Odysseus, von denen der griechische Dichter Homer in seiner “Odyssee” berichtet. Gemeinsam mit der “Ilias” gehört das Epos sowohl zu den ältesten als auch zu den berühmtesten Dichtungen der abendländischen Literatur. Folgt man der Poetik des Philosophen Aristoteles, ist der Inhalt schnell erzählt: “Jemand weilt viele Jahre in der Fremde, wird ständig von Poseidon überwacht und ist ganz allein; bei ihm zu Hause steht es so, daß Freier seinen Besitz verzehren und seinem Sohn nachstellen. Er kehrt nach schweren Bedrängnissen zurück und gibt sich einigen Personen zu erkennen; er fällt über seine Feinde her, bleibt selbst unversehrt und vernichtet die Feinde”. (Aristoteles, Poetik, 17)

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Symbolon – Europas Kinder auf Reisen: Eine Erzählung von Florian Russi

Was ist Europa? Die Frage scheint so simpel wie kompliziert. Europa, das ist der zweitkleinste Kontinent der Erde mit drei Zeitzonen, derzeit siebenundvierzig unabhängigen Staaten und über siebenhundert Millionen Einwohnern. Europa assoziieren wir im Allgemeinen mit dem “Abendland”, das, der in der Schule vermittelten geographischen Definition zufolge, im Westen vom Atlantik und im Osten vom Ural respektive dem Kaukasus eingefasst wird. Europa ist die Geburtsstätte mehrerer Weltreiche, Schauplatz unzähliger Konflikte und Auseinandersetzungen, Ursprung zweier Weltkriege und infolgendessen auch der Ursprung der Europäischen Union, einer Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft, der bis heute achtundzwanzig Staaten angehören, wobei neunzehn davon mit dem “Euro” auch einen einheitlichen Währungsraum bilden. Europa, das ist eine Idee, wie es der französische Journalist Bernard-Henri Lévy postuliert hat, die Wiege der abendländischen Kultur, vor allem aber ist Europa ein ureigener Mythos.

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Mythisches zu Halloween: Die Vogelscheuche

“Die Raben rufen: ‘Krah, krah, krah!
Wer steht denn da, wer steht denn da?
Wir fürchten uns nicht, wir fürchten uns nicht
vor dir mit deinem Brillengesicht.

Wir wissen ja ganz genau,
du bist nicht Mann, du bist nicht Frau.
Du kannst ja nicht zwei Schritte gehn
und bleibst bei Wind und Wetter stehn.

Du bist ja nur ein bloßer Stock,
mit Stiefeln, Hosen, Hut und Rock.
Krah, krah, krah!'”

(Die Vogelscheuche, Christian Morgenstern)

Nachdem wir in den vergangenen Wochen den Spuren steinerner Herzen, erzählender Bäume, heiliger Berge und morgenländischer Märchen gefolgt sind, ist es nun an der Zeit uns dem mythischen Herbst zuzuwenden. Und welches Fest wäre besser für solche Gedanken geeignet als das bevorstehende Halloween? Das Fest, das Erntedank und Totenfeier miteinander vereint. Halloween, das bedeutet Verkleidung, Grusel, “trick or treat” (Süßes oder Saures). Man schlüpft in die Rolle der Geister und schlägt der Angst ein Schnippchen.

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Tausendundeine Nacht – Der Anfang und das glückliche Ende

“Das Schicksal besteht aus zwei Tagen: einer ist Sicherheit, einer Gefahr.
Und unser Leben hat zwei Hälften: eine ist trübe, und eine ist klar.
Sage zu dem, der uns geschmäht hat um unsres Schicksals willen:
‘Hat je das Schicksal einen geprüft, der ohne Bedeutsamkeit war?'”

(Der Kaufmann und der Dschinni, Die erste Nacht)

Wer kennt nicht die Abenteuer von Aladdin und dem Geist aus der Wunderlampe oder das “Sesam öffne dich” aus der Erzählung von Ali Baba und den vierzig Räubern? Gute und böse Geister, Verwandlungen wie etwa in der Geschichte “Der Dieb von Bagdad” oder die Reisen des Sindbad – es weht ein Hauch von Exotik, Ferne, Gefahr, Spannung und Poesie und Mythos durch die Seiten, bei denen man fortgetragen wird von Erzählung zu Erzählung. “Wenn du nicht schläfst, so erzähle uns deine Geschichte zu Ende!” In dieser Nacht und in der nächsten. Es kann keinen Zweifel geben: Wir befinden uns auf einer fantastischen Reise durch das Morgenland und sind dem Bann von Tausendundeine Nacht erlegen; “alf laila wa-laila” wie es im Arabischen heißt oder das Buch, welches mit der Absicht geschrieben wurde, “jedem nützlich zu sein, der darin liest”.

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Der Baum des Mythenerzählers

Der letzte Atem des Sommers liegt in der Luft. Abendverkehr rollt. Sirenen von Einsatzfahrzeugen summen durch die Straßen und verlieren sich in der Entfernung, die nicht so weit ist, wie sie dem Hörenden glauben macht. Die Sonne versinkt hinter Wolken und Häusern und Bäumen. Regen hat innegehalten. Schirme und schützende Zufluchten werden nicht gebraucht an diesem Abend, der an einer kleinen Stelle der Stadt, abseits der großen Straßen und doch mittendrin im Trubel und vor allem inmitten eines Schwarms von Bäumen, ganz den Mythen gehört. Und ihren Erzählern.

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Herzen “Im Stein” – Von Liebe, Sex und Träumen

“Aber ich mag die Nacht. Ja. Man ist irgendwie auf der anderen Seite. Auch wenn das komisch klingt jetzt. Was Besonderes. Nachtarbeiter. Wir sind mit der Stille verbündet. Ich denke manchmal, dass wir alle Schlafwandler sind.”

(Clemens Meyer, Im Stein)

“Im Herzen froh, stieg ich bis zu des Berges Stelle,
Von der die Stadt sich voll dem Blick erschließt,
Spital, Bordell, Gefängnis, Fegefeuer, Hölle,
Wo alles Ungeheure so wie eine Blume sprießt.”

(Charles Baudelaire, Der Spleen von Paris)

Gepolsterte Sitzbänke. Holzstühle. Ledersessel. Das Licht von Edison-Glühbirnen taucht den von Trennwänden geteilten Raum in Dämmerung. Musik dudelt aus unsichtbaren Lautsprechern. Wärme. Das Echo von Gesprächen. Wind hat sich verirrt. Es ist Abend. Und alles scheint möglich. Die perfekte Atmosphäre zwischen Sein und Nichtsein, Realität und Traum und Gedanken, für die der Tag zu leer ist. Manches kann nur die Nacht offenbaren.

Das Literaturcafé im Haus des Buches Leipzig ist fast bis auf den letzten Platz besetzt an einem Donnerstagabend, der nicht mehr ganz dem Sommer, aber auch noch nicht vollständig dem Herbst gehört, sondern irgendwie im Dazwischen liegt. Und eben dieses Dazwischen ist es denn auch, das den Abend durchzieht. Der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer ist zu Gast und liest aus seinem 2013 im S. Fischer Verlag erschienenen und 2014 mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichneten Roman “Im Stein”. Es geht um käufliche Liebe, Nachtarbeiter, Macht, Geld, Abgrund, die Zukunft und die Vergangenheit, das Hier und das Jetzt. Ein Gesellschaftsroman, der den Leser in eine Parallelgesellschaft führt und dabei zwangsläufig mit der eigenen Angst, der eigenen Schuld, der eigenen Gier, der eigenen Lust, dem eigenen Tod konfrontiert und das auf eine Weise, die mal direkt, mal grob, mal brutal, mal hoffnungsvoll, mal ernüchternd, mal hinterfragend, mal schlüpfrig, aber ganz sicher mythisch und vor allem poetisch ist. Wobei sich in all den seidenen dunklen Fäden, die mich beim Lesen an ein Spiel von Schattenfiguren erinnert haben, unweigerlich die Frage stellt: Und was ist mit der Liebe in all den Bewegungen, den Gedanken, Stimmen und Verwicklungen? Mr. Orpheus sucht Eurydike. Doch Eurydike lacht und lässt den Geldbeutel klimpern.

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Mythos Mond

“Wie eine seltne Gegend ist dein Herz,
Wo Masken, die mit Bergamasken schreiten,
Zum Tanze spielen voll geheimem Schmerz
Im Truggewand, mit dem sie bunt sich kleiden.

Obgleich in weichem Ton sie singen, wie
Der Liebe Sieg dem Lebensglück sich eine,
So glauben doch nicht an die Freude sie,
Und ihr Gesang fliesst hin im Mondenscheine.

Im kalten Mondenschein, des trübe Pracht
Die Vögel träumen lässt auf ihren Zweigen,
Und der die Wasserstrahlen weinen macht,
Die schlank aus weissen Marmorschalen steigen.”

(Paul Verlaine, Clair de Lune – Mondschein)

Es war ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Schritt für die Menschheit. Am 21. Juli 1969 betraten die Astronauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin der Apollo 11 Mission als erste Menschen den Mond. Es war der Höhepunkt eines vom Kalten Krieg dominierten Duells zwischen den USA und der Sowjetunion: der Wettlauf ins All. Dabei sah es lange so aus, als hätte die Sowjetunion die Nase vorn, war es dem 1922 gegründeten föderativen Einparteienstaat doch seit den 1950er Jahren gelungen, zuerst den ersten menschengemachten Satelliten (Sputnik) in die Erdumlaufbahn und später die Sonden Lunik 9 und Luna 9 auf den Mond zu bringen. Vor allem der Sputnik-Erfolg löste in der westlichen Welt einen regelrechten Weltraum-Schock aus. Das Weltraumprogramm der USA wurde daraufhin zu einem Prestigeprojekt. Nicht nur Sonden und Satelliten wollte man ins All bringen. Der Mond sollte es sein! Und nach der ersten bemannten und erfolgreichen Mondumkreisung im Jahr 1968 war es an jenem Julitag vor 50 Jahren soweit. 384.400 Kilometer trennen Mond und Erde voneinander. Der Mensch hatte erstmals einen anderen Himmelskörper betreten. Ein wahrer Christoph-Columbus-Moment.

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Von Sternen und Hunden: Eine Begegnung mit dem Sommer

“Dunst ist die Welle,
Staub ist die Quelle!
Stumm sind die Wälder,
Feuermann tanzt über die Felder!

Nimm dich in acht!
Eh du erwacht,
Holt dich die Mutter
Heim in der Nacht!”

(Die Regentrude, Theodor Storm)

Liebe Leserinnen und Leser,

auch der Mytho-Blog bleibt dieser Tage von der Sommerhitze nicht verschont. Mir fällt dabei immer spontan das Märchen von der Regentrude aus der Feder des Schriftstellers und Lyrikers Theodor Storm (1817-1888) ein. Der Feuermann tanzt über die Felder und das Vieh verdurstet auf den Weiden. Nur durch ein magisches Sprüchlein und die Furchtlosigkeit eines Liebespaares, das sich durch eine fantastisch unwirkliche Landschaft kämpfen muss, die eher wie der Abstieg zur Hölle denn der Aufstieg in Himmel und Wolken anmutet, kann der Schlafbann, der über der Regentrude liegt, gebrochen werden. Noch immer habe ich die Märchenschallplatte dazu im Schrank stehen, und wenn mich bei diesen Temperaturen die Muße packt, hülle ich mich damit des Abends in wohliges Gruseln.

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Eine Reise zu den Riesen

“Burg Niedeck ist im Elsaß der Sage wohlbekannt,
Die Höhe, wo vorzeiten die Burg der Riesen stand;
Sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer;
Du fragest nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.”

(Adelbert von Chamisso, Das Riesenspielzeug)

Ich muss acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als ich Das Riesenspielzeug zum ersten Mal entdeckte; in einer illustrierten, ziemlich zerfledderten Ausgabe, die allerlei deutsche Balladen zum Inhalt hatte und die auf “westliche” Umwege in die DDR (genauer gesagt in das an der Elbe gelegene und ganz und gar nicht riesige, sondern vielmehr kleinbürgerliche Torgau) eingereist war. Bis heute ist die Ballade von Adelbert von Chamisso (1781-1838) aus dem Jahr 1831 einer der wenigen Texte, die ich aus dem Stehgreif zitieren kann, sobald ich das Wort “Riese” höre. Riese, das weckt nicht nur die Assoziation eines Wesens, das sehr viel größer ist als man selbst, sondern auf gewisse Weise auch unerreichbar, mit großer Kraft ausgestattet, über der Welt stehend und diese auch aus einem ganz anderen Blickwinkel wahrnehmend. Etwas, das riesenhaft ist, wirkt unüberwindlich und lässt alles andere im Vergleich dazu klein und unbedeutend erscheinen. Riesen sind auch selten freundlich (geschweige denn menschenfreundlich), sieht man einmal vom “Big Friendly Giant” (Disney, 2016) ab. Zudem werden die gigantischen Mythen- bzw. Fantasie-Zweibeiner öfter als dümmlich charakterisiert. Man denke da an den armen Grawp oder Grawpy aus Harry Potter, den Bruder des halbriesigen Rubeus Hagrid, der Hermine mit einer Fahrradklingel zu beeindrucken sucht. Im Grimmschen Märchen Von einem, der auszog das Fürchten zu lernen kegelt der Protagonist gar mit den Köpfen von Riesen um die Wette.

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Teuflische Tricks

Auf unserer mythischen, kulturellen und literarischen Spurensuche zum Trickster, die im Oktober 2018 begonnen hat, ist es an der Zeit einmal die “teuflische” Seite jenes Wesens zu betrachten, das nicht so recht in die Ordnung der Welt passen will, diese jedoch mehr oder minder erfolgreich – in allen Fällen aber folgenreich – durcheinander zu wirbeln versteht. Was haben nun aber Satan, Beelzebub oder der Herr der Hölle mit dem Trickster zu schaffen? Der christliche Teufel, dieser gefallenen Engel und Widersacher Gottes, besitzt ja ohnehin einen eigenen und vor allem eigentümlichen Werdegang. Mithin scheint er sogar eine richtige Chimäre zu sein, wenn man ihn einmal über die theologische Deutung hinaus betrachtet …

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Von Nachtmahren und Traumgestalten

Der Mensch verschläft ein Drittel seines Lebens und das ist auch gut so. Wir brauchen den Schlaf zur körperlichen und seelischen Regeneration. Im Schlaf verarbeiten wir die Ereignisse des Tages, wir setzen uns mit Ängsten auseinander oder finden Lösungen für Probleme. Schlaf kann auch kreative Ideen freisetzen. Wenn wir schlecht schlafen, werden wir unausgeglichen, unsere Aufmerksamkeit ist herabgesetzt, wir sind müde, können uns schlechter konzentrieren und auch für unseren Körper bedeutet verminderter Schlaf (vor allem, wenn er anhaltend ist) Schwerstarbeit. Im schlimmsten Fall drohen Bluthochdruck, Herzinfarkte oder Depressionen. Die Liste der Krankheiten, die im Zusammenhang mit Schlafunregelmäßigkeiten auftreten, ist lang geworden. Allerdings gelten Schlaflosigkeit, schlechter Schlaf oder Probleme mit dem Einschlafen längst als Volkskrankheiten. Der Schlafzyklus jedes Menschen, ob wir also Eulen sind oder doch eher Lerchen, ist individuell. Und auch welche Einschlafrituale man wählt, um sich sprichwörtlich in Morpheus Arme gleiten zu lassen (aktuelle Studien empfehlen dafür u. a. den Verzehr von zwei reifen Kiwis), ist jedem von uns selbst überlassen. Allerdings gilt nach wie vor: der Schlaf ist (immer noch) an die Nacht gebunden. Wir brauchen also nicht nur den Schlaf, sondern auch die Dunkelheit zur Erholung.

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Über die Grenzen

Liebe Leserinnen und Leser,

wir freuen uns sehr, ankündigen zu dürfen, dass es die Essays des Mytho-Blogs nun auch in klassischer Buchform zu lesen gibt. Anlässlich des diesjährigen Wave-Gotik-Treffens in Leipzig haben wir fünf unserer Beiträge unter dem Titel “Über die Grenzen – Geschichten zwischen Oberwelt und Unterwelt” publiziert. Weitere Texte sind in Arbeit.

Wenn Sie also nicht ausschließlich klicken und scrollen möchten, können sie sich über mythische Unterwelten, dem Wahnsinn verfallene Phantome, Geister, Glöckner, Kopflose Reiter und die Wilde Jagd ab sofort auch gemütlich auf dem Sofa informieren.

Denn Mythen kennen keine Grenzen.

Wir danken Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Treue!

Ihr Autorenteam vom Mytho-Blog

Dr. Constance Timm und Pia Stöger

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Auch Verfluchte dürfen hoffen – Die Sage vom Fliegenden Holländer

Es muss eine scheußliche Überfahrt von Riga nach London gewesen sein, die Richard Wagner im Jahr 1839 auf dem Schoner “Thetis” (benannt nach der griechischen Meernymphe) hinter sich gebracht hat. Nicht nur die überstürzte Flucht vor seinen Gläubigern, sondern auch die Gewalten von Meer und Sturm, die das Schiff beinahe in Seenot geraten ließen, machten aus der Reise ein gefährliches Abenteuer, welches den Komponisten schließlich zur Schöpfung seiner 1843 uraufgeführten “Romantische[n] Oper in drei Aufzügen” mit dem Titel “Der fliegende Holländer” beflügelte. Spätestens seit den Kinofilmen “Fluch der Karibik” dürfte beinahe jeder schon einmal von der “Flying Dutchman” (in dieser Version bezogen auf den Namen des Schiffes) und der untoten Crew um den charismatisch-skrupellosen Kapitän Davy Jones gehört haben, deren Fluch sich auch durch eine äußerliche Verwandlung in Fischwesen vollzieht. Wie das Schiff unter spannungsgeladenem Musik-Getöse die Wasseroberfläche durchbricht, um sich auf die Jagd nach den Lebenden zu machen, lässt den Cineasten wohlig schaudern.

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Antike Gegenwarten – Warum sich ein Gespräch mit Steinen lohnt

Nachdem ich im März auf Erkundungstour nach Pergamon gereist bin, führte mich eine erneute Reise dieser Tage in die anderen weiten Welten der griechischen und römischen Antike. Oder, womit mir eine Mitreisende aus dem Herzen sprach, in das schönste Museum der Berliner Museumsinsel: Das Alte Museum. Hätte ich je eine Statistik über meine bisherigen Berlinbesuche führen müssen, die beiden Etagen von Karl Friedrich Schinkels klassizistischem Bau mit den imposanten Reiterstandbildern “Amazone zu Pferd” (von Alfred Kiß) und “Löwenkämpfer” (von Albert Wolff) – seit 1999 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes – würden es tatsächlich unangefochten auf Platz eins schaffen.

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Die Welt und das Wir oder: Impressionen über das Erzählen

“Alles, was die Menschheit getan, gedacht, erlangt hat oder gewesen ist: es liegt wie in zauberartiger Erhaltung in den Blättern der Bücher aufbewahrt”, schrieb der schottische Philosoph, Essayist und Historiker Thomas Carlyle (1795-1881) im Jahr 1841. Seit jeher sind es Geschichten, Erzählungen und Mythen gewesen, welche die drei elementarsten Fragen überhaupt gestellt oder zu beantworten versucht haben: Wer waren wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Fragen, die auf den ersten Blick einfach erscheinen. Trotzdem gibt es darauf bis heute keine Antworten, die rundum befriedigen könnten, sind diese Antworten doch sowohl vom fachlichen Hintergrund (sei es nun Biologie, Geschichte, Sprachwissenschaft, Theologie, Philosophie, Physik etc.) desjenigen abhängig, der sich mit ihnen auseinandersetzt als auch von den jeweiligen Eigenerfahrungen des Schreibers. D.h. die Sicht auf das, “was die Welt im Innersten zusammenhält” wie es Johann Wolfgang Goethe so wunderbar im ersten Teil des Faust formulierte, das “Waren”, das “Sind” und das “Wohin” also, ob nun mündlich überliefert oder als Buch verfasst, vermittelt und hinterlassen, kann nie nur objektiv sein, sondern besitzt stets auch einen subjektiven Part.

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Von Ende und Anfang: Mythische Gedanken zum Osterfest

Der Tod und die Auferstehung liegen nah beinander. Nachdem am Montag die Bilder der brennenden, nicht erst durch Victor Hugos Roman bekannten Kathedrale von Notre-Dame de Paris um die Welt gingen, deren steinernes Skelett – glaubt man den Berichten – beinahe nicht hätte gerettet werden können, wächst nun von Tag zu Tag die Hoffnung auf einen raschen Wiederaufbau. In fünf Jahren soll die Rekonstruktion abgeschlossen sein, geht es nach dem Willen der Offiziellen; Jahrzehnte wird es mindestens brauchen, dämpfen Experten die von Schock und Fassungslosigkeit überlagerte Euphorie. Wie lange die Erneuerung tatsächlich dauert, wird wieder einmal die Zeit zeigen. Es entbehrt allerdings nicht der Tragik, bedenkt man, dass das Unglück ausgerechnet vor Ostern, dem wichtigsten Fest der Christenheit, seinen Lauf genommen hat.

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Pergamon, oder ein Blick hinter die Kulissen der Vergänglichkeit

Als ich 1996 auf einem Schulausflug das Pergamonmuseum in Berlin zum ersten Mal erkunden durfte, gab es nur eine Reaktion, um den Augenblick zu beschreiben, als ich den Altarraum betrat: ungläubiges Staunen, gefolgt von abwechselnder Begeisterung und dem Gefühl, irgendwie “klein” zu sein. Noch heute finde ich keine Worte für das Empfinden von damals. Was bleibt auch zu sagen, wenn man sich plötzlich Auge in Auge mit Architektur und Mythen aus über 2000 Jahren Menschheitsgeschichte gegenübersieht? Natürlich kannten wir die Antike aus dem Unterricht. Und hin und wieder begegnete uns die eine oder andere klassizistische oder renaissanceangehauchte Zeichnung in einem Buch für Kunsterziehung (und ja, die Wende-Zeit war da längst vorüber). Aber die Dinge in realis zu sehen ist, wie immer, eine vollkommen andere Erfahrung, als sie zweidimensional auf Papier gepresst vorzufinden. Das also war die Museumsinsel von Berlin. Das also war der Ort, der die Zeugnisse einer antiken Stadt bewahrte, deren Blütezeit längst vergangen war. Und es sollten in den angrenzenden Räumen noch weitere Beispiele aus versunkenen Zeiten folgen: das Markttor von Milet, das Ishtar-Tor von Babylon, Gräber und Reliefs aus dem Zweistromland (Mesopotamien), Kunst aus dem Islam, Münzen, Götterstatuen, Porträts und und und. Die alte Welt konserviert in Räumen. Und jeder ist eingeladen, diese zu besuchen; einzutauchen in eine andere Welt, die dennoch unsere Welt ist.

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“Leicht ist der Abstieg zur Unterwelt” – Eine mythische Reise unter Tage

Der Begriff “Unterwelt” weckt in uns verschiedenste Assoziationen. Manch einer verbindet damit etwas Düsteres, Kriminelles; eine Parallelwelt, in der Menschen leben und wirken, die sich einen eigenen Raum fernab gängiger Normen und Gesetze geschaffen haben. Für andere bedeutet “Unterwelt” ein Ort unter Tage, fernab vom Licht, bedrückt von Enge und Mangel an frischer Luft, wie es über Jahrhunderte lang im Kohle- und Erzbergbau der Fall gewesen ist. Die “Unterwelt” ist also eine räumliche Abgrenzung von der Welt, die wir kennen, die den Besucher mit besonderen Begebenheiten und Ansprüchen konfrontiert. In kultureller und mythischer Deutung ist sie auch die Welt, in der die Seelen der Verstorbenen nach dem Tod einziehen und leben, ein Reich, das für den Sterblichen verschlossen bleibt. Sie ist eine Vorstellung, ein Konstrukt, das wir uns in Geschichten und Legenden imaginieren und bevölkern. Vielleicht, um uns dadurch unsere Angst vor dem Dunkeln (und die Unterwelt wird mit Dunkelheit per se in Verbindung gebracht), dem Unbekannten, dem Unterbewussten in uns selbst und in unserer Umwelt einen Ausdruck zu verleihen. Vielleicht auch, um uns das Wissen um den Tod, der letzten Schwelle zum Unbekannten, die uns allen vorherbestimmt ist, erträglicher zu machen. Der Begründer der analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung (1875-1961), hat die “Unterwelt” mit den sogenannten Mutterarchetypen in Zusammenhang gebracht; das Gebärende, Fruchtspendende und Leben bringende einerseits, schließt andererseits das Geheime, das Finstere, Todbringende und Abgründige wie in einem Kreislauf mit ein. Oder, wie es die Alchemisten, ausgehend von ihrer mythischen Schrift, der Smaragdtafel des Hermes Trismegistos, auszudrücken wussten: Das Oberen ist das Untere. Das eine existiert nicht ohne das andere. Das passt in die dualistische Vorstellung, die dem Menschen zu eigen ist, man denke da an Gut und Böse, Groß und Klein, Laut und Leise, Himmel und Hölle, Schwarz und Weiß etc. Und so muss es – fast zwangsläufig – neben der Oberwelt auch einen Ort jenseits davon geben.

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“Der Wind, der Wind, das himmlische Kind”

Lasst uns vom Wind erzählen. Ich gebe zu, würde mich jemand fragen, was der Wind ist, würde mir im ersten Moment keine passende Antwort einfallen und im zweiten Moment vermutlich das Zitat aus Hänsel und Gretel: “Der Wind, der Wind, das himmlische Kind”. Zum einen, weil es ein bekannter Reim aus einem bekannten Märchen ist. Zum anderen, weil dem Wind, lässt man sich die Worte einmal gründlich auf der Zunge zergehen, tatsächlich etwas Kindliches anmutet. Er ist verspielt. Er ist unberechenbar. Ist er ausgeglichen, beglückt er uns mit einem lauen Lüftchen. Ist er aufgewühlt, stürmt und tobt er. Ist er traurig, heult er. Und ist er zufrieden, säuselt er. Wind ist im Grunde ständig um uns. Wir sehen von ihm aber nur seine Wirkung auf die sichtbaren Dinge und auf uns selbst. Sein Wesen, seine Gestalt ist für uns – mit Ausnahme von Tornados oder Superstürmen – weitgehend unsichtbar. Wind ist bewegte Luft und Luft brauchen wir zum Atmen und für die Erhaltung unserer Existenz.

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“Die Erde steht offen”: Geister, Tote und der heilige Valentin

Die Welt ist rot und besteht aus Herzen. Dieser Eindruck zwingt sich einem unmittelbar auf, schaut man dieser Tage ins private Mail-Postfach, wo sich die Werbungen tummeln. Dasselbe gilt für den Marsch durch Einkaufspassagen oder – der Konsumapathie zum Trotz – für den Besuch von Cafés, Drogerien, Kaufhäusern. Von den tausenden um tausenden Internetseiten ganz zu schweigen. Herzen. Bärchen. Rosen. Schokolade. Kissen. Kitsch. Es ist überall. Und wir ahnen es: Der Valentinstag steht bevor. Der Tag der Verliebten, an dem man sich besonders lieb hat (oder lieb haben sollte), was für die restlichen 364 Tage des Jahres hoffentlich genauso gilt.

Dabei ist es um den Festtag des heiligen Valentin, der am 14. Februar begangen wird, nicht gar so romantisch bestellt, zumindest nicht bis ins 14. Jahrhundert. Denn erst im Spätmittelalter erkor man den Tag, den Papst Gelasius I. im Jahre 496 offiziell als Gedenktag eingeführt hatte, als geeignet für das Fest der höfischen (und später der romantischen) Liebe. Die Süßigkeiten, Blumen und Liebesbekundungen sind sogar erst seit dem 18. Jahrhundert in Gebrauch. Auch begann um diese Zeit die Tradition, dem oder der Liebsten kleine Grußgarten zu senden, die sogenannten “Valentines”. Sogar Schlüssel erfreuten sich großer Beliebtheit, symbolisieren sie doch das Aufschließen des Herzens. Sogar an Kinder wurden sie verschenkt. Allerdings nur indirekt als Liebesbeweis, denn man sagte Schlüsseln nach, sie könnten die “Valentins-Krankheit” abhalten. Damit war die Epilepsie gemeint, denn der heilige Valentin von Terni (3. Jahrhundert n. Chr.) wurde bei Krankheiten (allen voran der benannten “Fallsucht”), um Beistand angerufen.

Allerdings war eben dieser Valentin nicht der einzige Valentin oder Valentinus. So gab es noch einen Valentin von Rom. Dieser war Priester und erlitt um 269 n. Chr. eben dort den Märtyrertod. Sein Begräbnisort, die Kirche San Valentino in Rom, galt bis zum Ende des Mittelalters als wichtiger Wallfahrtsort. Der bereits erwähnte Valentin von Terni wiederum war Bischof und erlitt das Martyrium um 273 n. Chr., nachdem er Kranke geheilt und christliche Taufen vollzogen hatte. Es wurde lange vermutet, dass es sich bei beiden um ein und dieselbe Person gehandelt haben könnte, unabhängig davon, dass in verschiedenen Kirchen Roms oder in Terni Reliquien von ihnen aufbewahrt und verehrt werden. Der endgültige Beweis darüber steht allerdings noch aus. Zudem erwähnt die “Katholische Enzyklopädie”, ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts publiziertes Nachschlagewerk zum katholischen Glauben, einen dritten Valentin, der angeblich in Afrika das Martyrium erlitt und über den ansonsten nicht viel bekannt ist.

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Der Mythos von Liebe und Tod, oder: Die drei Rätsel der Prinzessin Turandot

“Wer den Gong ertönen läßt,
dem erscheinet sie sofort!
Weiß wie Jade,
kalt wie Stahl:
das ist die schöne Turandot!”
(Turandot, Giacomo Puccini, Libretto)

Als der italienische Komponist Giacomo Puccini im Jahr 1920 zusammen mit dem Liberettisten Guiseppe Adami und dem Dramaturgen Renato Simoni über dem Stoff seiner sechs Jahre später uraufgeführten Oper “Turandot” zu brüten begann, schrieb er Letzterem geradezu hoffnungsvoll: “machen wir ein Märchen, gefiltert durch unser modernes Gehirn!” Das Märchen lag dem Kreativ-Trio zu dieser Zeit längst vor, u. a. in Form des Theaterstücks “Turandot” von Friedrich Schiller (1802 uraufgeführt), welches auf einer Vorlage des italienischen Theaterdichters Carlo Gozzi aus dem Jahr 1762 beruhte. Darüber hinaus war dem Stoff bereits eine Reihe von Vertonungen vorausgegangen. Franz Seraph Destouches, Carl Maria von Weber, Antonia Bazzini sind nur einige der Namen, die sich der Geschichte annahmen. Daher war sich Puccini unsicher, auf welche Weise er den bereits bekannten Stoff zum Leben erwecken sollte. Am ehesten schien ihm dies über die Psychologie der Figuren möglich, mehr noch über die Gefühle. “Sie müssen das Letzte an Gefühl und Rührung herausholen … und sie können die rechten Verse finden!”, schreibt er an Adami. “[Der] Liebesausbruch muss wie ein leuchtender Meteorstein unter die rufende Volksmenge fallen, die mit gespannten Nerven … das Fluidum der Liebe begeistert aufnimmt.”

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Was ist Liebe? – Eine mythische und literarische Einführung

Wenn wir von Liebe sprechen, verbinden wir mit ihr das intensive Gefühl von Zuneigung, Geborgenheit, Aufgehobensein, Verbundenheit, das sich im menschlich-emotionalen Erklärungskanon nicht mehr steigern lässt. “Es ist was es ist sagt die Liebe” in Erich Fried’s (1921-1988) bekanntem Gedicht und würde man eintausend Menschen darüber befragen, würde man wohl eintausend verschiedene Antworten erhalten. Denn Liebe ist nicht nur der romantische Höhepunkt jeder Paarbeziehung, so wie sie in Medien, Dichtung, Romanen, Liedern oder Kunst im Regelfall proklamiert wird. Liebe kann sich auch auf Gruppen beziehen, auf die Familie, Geschwister, Freunde, zu Tieren, Natur etc. Es gibt kein Limit für Liebe.

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Feuer der Götter: Vulkane und ihre Mythen

Erneut rumort es im Mongibello (gelegen zwischen den sizilianischen Städten Messina und Catania), den die meisten von uns als Ätna kennen. Seit Weihnachten spuckt der aktivste Vulkan Europas Asche und Lava. Experten prognostizieren gar das Bevorstehen eines größeren Ausbruchs. Erdbeben, Flugausfälle, Evakuierungen. Viele erinnern sich vielleicht noch an das Spektakel von 2010. Damals war es der Eyjafjallajökull an der Südküste von Island, der mit seinen Eruptionen vor allem die Geduld der Flugreisenden strapazierte. Im Gegensatz zum Ätna liegt der Eyjafjalla weistenstgehend abseits von Städten und Siedlungen. Von einer neuen Magmakammer unter dem “Gutmütigen” gehen die Forscher derzeit aus und in der Tat, sind spontane, exposionsartige Eruptionen am Ätna, wenn auch vorhanden, in den historischen Aufzeichnungen eher seltener Natur. Sein italienisches Pendant, der Vesus (gelegen am Golf von Neapel), hat es aufgrund seines verheerenden Ausbruchs im Jahr 79 n. Chr. (überliefert vom römischen Schriftsteller Plinius dem Jüngeren), bei dem die antiken Städte Pompeji, Herculaneum, Oplontis und Stabiae verschüttet wurden, zu wesentlich traurigerer Berühmtheit gebracht. Aus dem 12., 17. und 18. Jahrhundert sind weitere heftige Ausbrüche des Vesuvs bekannt; der zuletzt dokumentierte fand im Jahr 1944 statt.

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Böller, Papst und Neues Jahr

Liebe Leserinnen und Leser des MYTHO-Blogs,

es ist wieder soweit. The same procedure as every year. Silvester. Der letzte Tag des Jahres. Manch einen mag Wehmut über das Vergangene befallen. Manch einer ist froh, den “gesammelten Altkram” hinter sich zu lassen. Silvester ist die Zeit des Abschlusses. Der Vorsätze. Der Pläne. Des greifbaren Neuanfangs.

Wie Sie an diesem Abend und in dieser Rauhnacht auch feiern mögen, ob im Familienkreis oder mit Freunden, ob mit lauter Partymusik oder eher klassisch, ob sie dem Feuerwerk frönen oder dem Lärm eher fernbleiben, das Team vom Mytho-Blog bedankt sich herzlich für Ihr Interesse an unserer Seite und unseren Artikeln. Natürlich werden wir uns auch weiterhin bemühen, Sie freitags regelmäßig mit mythischen, volkskundlichen, literarischen, philosophischen, historischen und wissenschaftlichen Besonderheiten zu versorgen.

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Es weihnachtet schwer 6.0: Rauchige Nächte und Wilde Jäger

Die Tannenbäume sind geschmückt. Die Lieder sind gesungen. Die Geschenke sind verteilt und der Weihnachtsmann hat seine Aufgabe vollbracht. Wir befinden uns in der Zeit zwischen den Jahren, die einerseits noch zum alljährlichen Dezemberfestkanon zählt, andererseits aber gefühlt losgelöst zwischen dem zu Ende gehenden Alten und dem in den Startlöchern rumorenden Neuen steht. Grund genug, diese Tage und vor allem ihre Nächte im letzten Teil des diesjährigen Weihnachtsspecials ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen.

Dunkelheit, Finsternis, Schwarz, Nacht. Seit jeher ist die Zeit nach dem Sonnenuntergang Stoff für Geschichten, Phantasie, Furcht, Träume, Kreativität, Gedanken, Geheimnisse und Mythen gewesen. Alles, was der Tag verbirgt, wird in der Nacht aufgedeckt. Es sind die Stunden, in denen Geister oder Wesen der Anderswelten umgehen. Das Christentum assoziierte die Nacht lange mit dem Tod und dem Bösen. Die Zeit der Dämonen. Die Zeit des Teufels. Vor allem die Stunde zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens, der Übergang zwischen den Tagen, war es, die man als besonders furchtbringend, unheilvoll oder auch schicksalhaft betrachtete. Der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) hat es in seinem “Nachtwandler-Lied” aus der Schrift Also sprach Zarathustra treffend zusammengefasst: “Oh Mensch! Gieb Acht!/ Was spricht die tiefe Mitternacht?/ ‘Ich schlief, ich schlief -, Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -/ Die Welt ist tief, / Und tiefer als der Tag gedacht.”

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Es weihnachtet schwer 2.0: Vom Nikolaus und seinen schaurigen Begleitern

Liebe Leserinnen und Leser des Mytho-Blogs,

haben Sie Schuhe geputzt oder Teller aufgestellt? Am 6. Dezember geht der Nikolaus wieder um, dieses Jahr sogar an einem Donnerstag. (Achtung, Achtung: Besondere Vorsicht ist an diesen Dezemberwochentagen geboten!) Man sagt ihm nach, dass er sauberes Fußwerk besonders schätzt. Außerdem ist er auf seinen adventlichen Streifzügen nicht allein unterwegs. Wer ihn begleitet und warum, diesen Fragen wollen wir im zweiten Teil unseres Weihnachtsspecials nachgehen.

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Es weihnachtet schwer 1.0: Advent, Advent…

Liebe Leserinnen und Leser des MYTHO-Blogs,

wieder einmal ist es soweit: Das Jahr geht zu Ende. Der Winter hält (dem Klimawandel zum Trotz) allmählich Einzug. Die Tannenbäume werden geschlagen und die aus dem post-modernen Brauchtum nicht mehr wegzudenkenden Weihnachtsmärkte mit Glühwein, Gedrängel, Fressbuden, Kräppelchen, Riesenrad und den hier und da doch noch auffindbaren Kunsthandwerksbuden öffnen den Weihnachtshungrigen die Pforten.

Advent, Advent … Da es uns leider nur symbolisch möglich ist, für alle unsere Mitglieder, Freunde, Interessierten, Mythenliebhaber, Kultursüchtigen, Abonnenten, Leseratten und Neugierigen ein Lichtlein auf dem Adventskranz anzuzünden, soll unser Weihnachtsspecial alle über den Feiertagsstress bis ins neue Jahr begleiten. Von bösen Nikoläusen wird zu lesen sein. Von fleißigen Weihnachtsmännern. Festtagsbräuchen. Weihnachtsgeistern. Wilden Jägern. Und verstorbenen Päpsten. Natürlich wie immer gespickt mit allerlei Mythischem, Kulturhistorischem und natürlich mit Literatur!

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Zwischen Angst und Hoffnung: Der künstliche Mensch in Mythos und Science-Fiction

Stellen Sie sich vor: Ihr Wissen, Ihre Gedanken, Ihre Meinungen und Ansichten, Ihre Träume und Vorstellungen,  ja sogar Ihre Gefühle – also alles, was Sie sind und was Sie ausmacht, wäre auf einer Disc gespeichert, die kaum größer ist als die Speicherkarte einer Digitalkamera. Ein Stick für das Backup Ihres Selbst. Sie könnten den Körper wechseln, wann und wie Sie es wollten. Nie wieder Krankheiten. Nie wieder gebrochene Knochen. Nie wieder Angst vor dem Tod. Sie wären unsterblich. Geht nicht, sagen Sie? Doch, sage ich. Die Serie “Altered Carbon” (Netflix, 2018), basierend auf dem gleichnamigen Roman von Richard Morgan, stellt “das Unsterblichkeitsprogramm” in der dystopischen Welt des 24. Jahrhunderts vor und outet sich dabei als ein Hybrid aus Blade Runner und Ghost in the Shell. Im Mittelpunkt stehen dabei die sogenannten “Meths” (in Anspielung auf Methusalem, den Großvater Noahs, der dem Alten Testament zufolge 969 Jahre alt geworden sein soll). Durch den Kauf von Körpern oder mit Hilfe von Klonen verlängern sie ihr Dasein über Jahrhunderte hinweg. Doch das ewige Leben hat sie skrupellos gemacht, vergnügungssüchtig und abgestumpft gegenüber dem Leben. Den Meths gegenüber stehen all jene Menschen, die sich entweder keine oder nur standardisierte neue “Körper” leisten können. Manche müssen mit dem Vorlieb nehmen, was sie bekommen. Andere lehnen einen neuen Leib aus religiösen Gründen ab und verbringen die Ewigkeit gefangen in immer wiederkehrenden Träumen oder in einer holografisch erzeugten Welt. “Altered Carbon” ist Science-Fiction. Krimi. Und ein Stück weit Philosophie. Was ist der Mensch? Was ist Seele? Was ist Körper? Und was davon ist wichtiger? Sind wir tatsächlich die Schöpfer einer unendlichen Existenz oder durch die Unsterblichkeitssticks am Ende selbst zu Geschöpfen in endlichen und künstlichen Hüllen geworden?

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Tierwesen: Über eine mythisch-cineastische Beziehung

Es ist wieder soweit! In den Kinos flimmern zum zweiten Mal die “Phantastischen Tierwesen” der britischen Autorin und “Mutter von Harry Potter”, Joanne K. Rowling, über die Leinwand und begeistern große und kleine Zauberer und Hexen, sorry, Zuschauer, natürlich. Da gibt es den süßen Niffler, eine Art bepelztes Schnabeltier mit körpereigenem Kängurubeutel, in den er alle glitzernden und glänzenden Sachen stopft (vorzugsweise Münzen, Goldbarren und Schmuck), die er in seine Pfötchen bekommt. Ebenfalls mit von der Partie ist der Bowtruckle Pickett, der Ähnlichkeit mit einem grünen Miniatur-Baum-Insekt aufweist. Auf Bäumen lebt seine Art denn auch, bevorzugt in solchen, die sich für die Herstellung von Zauberstäben eignen. Von Bowtrucklen weiß man, dass sie aufgrund ihrer Größe gut Schlösser knacken können. Exemplare wie Pickett entwickeln zudem eine relativ große Anhänglichkeit für ihre Beschützer und reagieren entsprechend vergnatzt, wenn man sie für scheinbar unlautere Pläne einspannen will. So geschehen im ersten Teil der “Phantastischen Tierwesen”, als Pickett an den gierigen Kobold Gnarlak gegen wichtige Informationen verkauft werden soll. Natürlich nur zum Schein. Streit vorprogrammiert.

Weitere Tiere (in Auswahl), die die meiste Zeit über im Koffer des Zauberers Newt Scamander (seines Zeichens Autor eines Buches über magische Geschöpfe) leben, hören auf Namen wie Graphorn, Occamy, Knuddelmuff und Murtlap. Einer meiner persönlichen Lieblinge ist allerdings der Böse Sturzfalter, ein Tierwesen, das Reptil und Insekt in sich vereint. Passenderweise bewirkt sein Gift das Vergessen von unschönen, leider aber auch schönen Erinnerungen. Wenn man sich denn daran erinnert. Sturzfalter ernähren sich bevorzugt von menschlichen Gehirnen. Stolpert man also zufällig über seinen recht unscheinbar wirkenden Kokon, bitte nicht berühren, denn einmal geweckt und im Flug begriffen, kann der Böse Sturzfalter eine beachtliche Größe annehmen.

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Vom ersten Erzählen oder: Wie erobern Mythen die Welt?

Im Sommersemester 2018 hatte ich das Glück, im Anglistikseminar von Prof. Dr. Elmar Schenkel an der Universität Leipzig einem Vortrag zu lauschen, der die anwesenden Studenten ebenso wie einen promovierten Post-Studenten wie mich nicht nur auf Spurensuche zu den Ursprüngen der Mythen, sondern des menschlichen Erzählens überhaupt führen sollte. Unter dem Titel The Origins of the World’s Mythologies stellte der Journalist, Herausgeber und vergleichende Mythologe Christoph Sorger das gleichnamige, 2012 erschienene Buch des renommierten Indologen, Linguisten und Harvard-Professors E. J. Michael Witzel vor. Eine 688 Seiten starke, bisher leider nur auf Englisch verfügbare Lektüre, die nicht nur erkärt, was ein Mythos ist und was diesen ausmacht, sondern die sich gewissermaßen der Ur-Mythologie widmet, jener Frage, die schon Goethe in seinem Faust umtrieb, wenn er eben jenen sagen lässt: “Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält”. Witzels ambitionierte und ebenso vielgelobte wie skeptisch resümierte Mythentheorie erklärt das ursprüngliche Beschreiben von Welt und Umwelt, d.h. die Entwicklung von Mythologien, aus der Evolution und Verbreitung von Homo sapiens von seiner Urheimat Afrika aus in mehreren Wanderungswellen über die ganze Welt. Seit jeher liegt es in der Natur des Menschen, Geschichten zu erzählen. Geschichten über höhere Wesen. Geschichten über die Elemente. Geschichten über Himmel und Erde. Geschichten über “trickster deities” (Trickster-Götter), die die göttliche Ordnung durcheinanderbringen, indem sie die aufgestellten Regeln brechen, so wie etwa Prometheus, der den Menschen das Feuer bringt. Und eben jene Geschichten sind es, die den Menschen bei seiner Verbreitung über die Kontinente (Witze verwendet den schönen Begriff “Out-of-Africa-movement”) hinweg begleitet und die sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen menschlicher Gemeinschaften gefestigt haben.

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Ein Trickster kommt selten allein

Die Leipziger Stadtbibliothek ist gut besucht am vor-halloweenlichen Montag. Anlässlich des 22. Leipziger Literarischen Herbstes macht sich die edition vulcanus daran, den mythologischen Schwerpunkt der allherbstlichen Lese- und Literaturwoche zu setzen. “Brücken bauen” heißt das Motto 2018, welches, auch im Rahmen der Houston-Week (bezogen auf die 25-jährige Städtepartnerschaft zwischen Leipzig und Houston), kulturelle, literarische, gesellschaftliche, poetische, künstlerische, nachdenkliche, lakonische, zwie- und zweisprachige, historische und eben auch mythologische Verbindungen von Hier nach Dort und Dort nach Hier knüpfen soll.

Eine solche Brücke ist der Trickster, dem der neu erschienene Sammelband der edition vulcanus mit dem Titel “Schöpfer, Schelm und Schurke – Der Trickster im mythologischen Zwielicht” gewidmet ist.

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Halloween 3.0: “Köpfe werden rollen”

Im dritten Teil unseres diesjährigen Specials im Zeichen des Schaurigen, das sich bislang mit reitenden Toten sowie Folklore, Geistern und Kürbissen beschäftigt hat, sind wir nun den Mythen um Sleepy Hollow und dem Reiter ohne Kopf auf der Spur. Den meisten ist die Geschichte wahrscheinlich durch den 1999 erschienenen Film von Tim Burton mit Johnny Depp und Christina Ricci (und natürlich ebenfalls legendär: Christopher Walken als kopflosen Reiter) bekannt. 2013 bekam der düstere, märchenhafte und gleichzeitig skurril anmutende Film, der Grusel und den einen oder anderen Lacher perfekt kombiniert, Konkurrenz durch eine gleichnamige Serie. Dieses Sleepy Hollow (u. a. mit Tom Mison und Nicole Beharie in den Hauptrollen) verlegt die Handlung – per Zeitreise – in die Gegenwart und verbindet dabei Mysterie- und Krimihandlung in mittlerweile vier Staffeln.

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Halloween 2.0: Von Geistern und Kürbissen

Oktober. Herbst. In Parks und Wäldern verfärben sich die Blätter der Bäume. Es ist die Zeit der Ernte. Des Drachensteigens. Der Spinnennetze. Des Schmuddelwetters. Der Umstellung der Uhren auf die Winterzeit. Wir sehen und spüren, dass die Tage kürzer werden. Wir ahnen, dass das Jahr zu Ende geht und wir (vielleicht auch darüber hinaus) anfangen, Bilanz zu ziehen: “Eine trübe, kaltfeuchte Wagenspur:/ Das ist die herbstliche Natur./ Sie hat geleuchtet, geduftet, und trug/Ihre Früchte. – Nun, ausgeglichen,/Hat sie vom Kämpfen und Wachsen genug. –/ Scheint’s nicht, als wäre alles Betrug/
Gewesen, was ihr entwichen?!” (Joachim Ringelnatz, Herbst)

Der Herbst ist auch die Zeit der Feste und Gedenktage. Erntedank (in den USA und Kanada bekannt als Thanksgiving). Oktoberfest. Reformationstag. Allerheiligen. Buß- und Bettag. Martinstag. Totensonntag. Der Herbst ist Ausgleich (mit der Natur) und Besinnung (auf uns selbst und auf unsere Umwelt). Ein besonderes Fest, das in Deutschland seit einigen Jahren vor allem kommerziell beworben wird, sich trotz vieler regionaler Parallelen bislang aber nur schleppend verwurzelt hat, ist Halloween.

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“Götterwelten” … ein Streifzug durch Geschichte und Mythologie der Germanen

  Kennen Sie Heidrun? Falls die Suche nach der Antwort Sie dazu verlockt, in einem Namenslexikon zu blättern oder an den Sonntagsbesuch bei der Oma zu denken, habe ich gute und schlechte Nachrichten. Die gute: Der Name bedeutet so viel wie “geheimnisvolles Wesen” (Heid– nach germanisch haidu > Art, Wesen; altnordisch rún > Zauber, altenglisch rūn> Geheimnis). Die schlechte: Heidrun (Heiðr) ist sowohl dem Grímnismál (einem Götterlied der Lieder-Edda) als auch dem Gylfaginning (einem Teil der Prosa-Edda) zufolge eine Ziege der nordischen Mythologie. Statt Milch fließt Met aus ihren Eutern. Dieser dient den Einherjern – den in der Schlacht gefallenen Kriegern – in Walhall als Nahrung. Dem Mythos nach steht Heidrun auf dem Dach von Walhall, wo sie vom Baum Lärad (Yggdrasil) frisst, dem Weltenbaum, der aus Teilen des Ur-Riesen Ymir gewachsen ist. Ymir (das erste lebende Wesen) wurde von den Götter Odin, Vili und Vé getötet. Aus den Teilen seines Körpers schufen sie die neun Welten, welche den Kosmos der nordischen Mythologie bilden.

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“Anderswelten” … ein Streifzug durch die Mythologie der Kelten

  Die Welt. Eine Welt. Unsere Welt. Was bedeutet dieses Wort “Welt”? Ist es der Kosmos (das Weltall)? Oder der Planet, auf dem wir leben? Und wenn wir von “dieser Welt” sprechen, meinen wir damit gemeinhin einen Zeitabschnitt, der zum einen unsere eigene Lebenspanne umfasst, zum anderen die unmittelbare Gegenwart im Blick hat? Eine bekannte Zeitung trägt den Namen “Die Welt”.  Religionen und Mythen kennen die Welt Gottes bzw. die Welt der Götter. So galt etwa für die antiken Griechen die Welt als das Prinzip der Ordnung und der Harmonie. Alles außerhalb davon war Chaos. Moderne Wissenschaftler wiederum untersuchen die Welt der Natur und die Welt des Kosmos. Es gibt die Körperwelt. Seelenwelt. Technikwelt. Scheinwelt. Traumwelt. Die Dritte Welt. Die globalisierte Welt. Literatur kann eine historische, phantastische oder fiktive Welt beschreiben. Der englische Autor Terry Pratchett etwa gilt als der Erfinder der Scheibenwelt. Aber auch das Ich und sein Umfeld wie Familie, Freundeskreis, Partner, Arbeit, eine Gruppe, ein Kulturkreis, eine Gesellschaft können eine Welt bilden. Welt wirkt also im Kleinen wie im Großen. Sie beansprucht Totalität. In der Welt subsumieren sich andere Welten (der Plural von “Welt” ist erst seit dem 16. Jahrhundert im Sprachgebrauch üblich), die parallel, gleichzeitig oder miteinander verbunden existieren, die sich durchdringen und aufheben, die neu geboren werden oder zugrunde gehen.

Eine für uns geografisch naheliegende und doch gefühlt ferne Welt hat die Keltologin Prof. Dr. Sabine Asmus den Interessierten im Haus des Buches Leipzig vorgestellt. “Keltische Anderswelten und das Leben nach dem Tod” lautet der Vortrag, zu dem der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie im September 2018 unter dem Jahresthema “Welt der Mythen – Mythen der Welt” eingeladen hat.

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Willkommen beim MYTHO-Blog

 

  Mythos [altgriechisch: μῦθος, “Rede”, “Wort”, “Erzählung”, auch “Fabel”, Plural: Mythen; von mytheĩsthai: “reden, lautmalen, erzählen”] ist überlieferte Dichtung oder sagenhafte Erzählung aus der Vorzeit eines Volkes oder einer Volksgruppe, die u. a. von Göttern, Halbgöttern, Naturgeistern, Dämonen, der Entstehung und dem Untergang der Welt, der Erschaffung des Menschen etc. handelt. Mythen können als “symbolischer Ausdruck von Urerlebnissen […] angesehen werden” (Häcker/Stapf, 2009, 667). Aber auch Ereignisse, Personen und Dinge können – glorifiziert, mit fiktiver Geschichte oder symbolischer Bedeutung ausgestattet – zur Legende, zum Kultbild, Leitbild oder zur Ikone und damit zum Mythos werden.

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