Drachen, Löwen und geflügelte Wächter – Den Fabelwesen des antiken Mesopotamiens auf der Spur 2

Das Wesen, das viele ist

Neben den Stieren werden auf den Ziegeln des Ischtar-Tors Schlangendrachen (oder: „mächtige Schlangengebilde“) dargestellt. Dabei handelt es sich um den mušḫuššu, ein Mischwesen, das ursprünglich aus der sumerischen Mythologie stammt (sumerisch: mušḫuš; ein weiterer Name lautet ušumgallu). Dazu schreibt Koldewey: „Die künstlerische Darstellung […] unterscheidet sich wesentlich von den sonstigen Fabelwesen, an denen die babylonische Kunst so reich ist. Sie ist, wenn auch von Unmöglichkeiten durchaus nicht frei, doch viel weniger phantastisch und widernatürlich als die geflügelten Stiere mit Menschenköpfen, die bärtigen Männer mit Vogelleibern und Skorpionschwänzen und ähnliche Mischwesen. Es ist, wie der babylonische Namen besagt, eine ‚schreckliche Schlange‘.“

In der Tat vereint der mušḫuššu, der beim ersten Betrachten sowohl rätselhaft als auch putzig anzuschauen ist, die gefährlichsten Tiere des alten Vorderen Orients. Sein Körper ist geschuppt, die Zunge gespalten und auf dem Kopf zeigt sich ein Horn, das aufgrund der Profildarstellung doppelt gedacht werden muss. Koldewey verweist hierbei auf die Ähnlichkeit mit der Arabischen Hornviper, deren Gift für Menschen zwar äußerst schmerzhaft verlaufen kann, aber nicht zwangsläufig lethal ist. Der Schwanz des mušḫuššu erinnert an einen Skorpionstachel. Des Weiteren weist das Wesen die Vorderbeine eines Löwen oder Geparden auf, während die klauenbewehrten Hinterläufe von einem Adler oder einem anderen Raubvogel stammen können, wiewohl das Gelenk eher von einem Vierfüßler denn von einem Vogel stammt. „Das Auffallendste ist, daß das Tier trotz der Schuppen Haare hat. Ein Büschel Locken fällt am Kopf über die Ohrgegend, und auf dem Hals, wo wohl bei Eidechsen der Kamm sitzt, reiht sich eine Locke an die andere.“ Ein Fantasietier also? Eine bereits ausgestorbene Eidechsensart? Oder gar eine Art von Dinosaurier? Alles in allem vermengt sich im mušḫuššu ein tierisches Konglomerat, das zweifellos jedem Eintretenden Macht und Stärke der Stadt Babylon verdeutlichen sollte. Ein Torwächter mit apotropäischer Wirkung also, der zudem als Begleittier dem Stadtgott Marduk zugerechnet wurde und von dem, unabhängig vom jeweiligen höheren Wesen, mit dem er gemeinsam erscheint, Abbildungen bis in den Hellenismus überliefert sind. So findet sich der Schlangendrache in spätassyrischer Zeit (1. Jahrtausend v. Chr.) u.a. im Gefolge der Götter Aššur und vermutlich von An (Anum), die zumeist auf dem mušḫuššu reiten. Seine Gestalt bleibt dabei nie dieselbe. Ist er in den klassischen Formen mit Hörnern und Vogelbeinen dargestellt, fehlen diese Vermischungen in frühakkadischer oder protolithischer Zeit, in welcher bisweilen Schlangenkopf und Löwenkörper oder gar giraffenähnlich ausladende bzw. gewundene Schlangenhälse und Löwenköpfe auftreten.

Ursprünglich galt der Schlangendrache als Begleittier der Götter Enlil (Hauptgott des sumerischen und akkadischen Pantheons) und Tišpak. Besonders Tišpak, der Sturm- und Stadtgott des sumerischen Stadtstaats Eschnunna, ist in diesem Zusammenhang interessant, denn dessen Vorgänger war der Unterweltsgott Ninanzu, König der Schlangen und Gift speiend wie diese. Der mušḫuššu wurde gemeinsam mit Ninanzu auch kultisch verehrt. Da Teile des mesopotamischen Pantheons im Laufe der Geschichte, abhängig von Region, Herrscher und Eroberungen, durchaus wechseln konnten, war es nicht unüblich, dass Eigenschaften, Attribute oder in diesem Fall tierische Begleiter von alten Gottheiten auf neue, fremde oder bereits bekannte Götter oder Göttinnen übertragen wurden. Im Fall des mušḫuššu ist dies ein recht stattlicher Reigen. Vermutlich wurde er dem babylonischen Pantheon bereits unter König Hammurapi I. (1792-1750 v. Chr.) einverleibt, als dieser die Stadt Eschnunna eroberte.

Der Mythos des Schlangendrachen ist, wie bereits erwähnt, eng mit dem Tišpak-Mythos verbunden, der uns, wenn auch unvollständig, durch die berühmte Bibliothek des assyrischen Königs Aššurbanipal (669-631/627 v. Chr.) überliefert ist. Demnach wurde der mušḫuššu von tâmtu, dem Meer, geboren, besaß eine Länge von ca. 50 Meilen und war fast eine Meile breit. Angeblich konnte er den Himmel mit der Spitze seines Schwanzes berühren. Dies versetzte die Götter in Angst und Schrecken. Erst dem Wettergott Tišpak gelang es mit Hilfe eines Sturms und durch einen Pfeilhagel, das Monster zu töten. Die unberechenbare Urgewalt, ein Sinnbild des Chaos, wurde durch die Ordnung besiegt und symbolisch in Form eines Begleittiers dieser Ordnung einverleibt. Auf diese Weise konnte die so bezähmte Kraft zum Schutz eingesetzt werden, aber auch als Abschreckung gegen Feinde oder als Warnung für Fremde und Stadtbewohner dienen. Angesichts einer solchen Erzählung fällt es nicht schwer, die Assoziation mit einem Saurier, die auch Robert Koldewey beschäftigte, zumindest in Ansätzen nachzuvollziehen, wenn auch dessen Argumentation „Der Iguanodon aus der belgischen Kreide ist der nächste Verwandte des Drachen von Babylon.“ recht bizarr und rigoros-endgültig anmutet. Die Verschmelzung der tierischen Teile erscheint im Falle des mušḫuššu zu spezifisch an der Tierwelt des antiken Mesopotamiens orientiert, als dass eine fremde Spezies dahinter zu vermuten wäre. Den Schlangendrachen als klassisches Beispiel einer Chimäre unter den Fabelwesen zu verorten scheint demnach folgerichtig.

Wächter mit Flügeln

Lässt man das Ishtar-Tor beim Museumsrundgang hinter sich und wendet sich den Seitenflügeln der Dauerausstellung zu, kann man weitere fantastische Wesen des alten Vorderasiens entdecken. Beim Betreten der Nachbildung eines assyrischen Palastraumes muss man zwei kolossale Steinfiguren passieren, die mit stoischen Mienen den Durchgang bewachen. Angesichts der Wuchtigkeit der Figuren stellt sich die Frage, wie diese in der Antike auf ihre Betrachter gewirkt haben mögen – absonderlich erscheinen die Reliefs und steinernen Zeugen beinahe, gefährlich und manchmal fast abschreckend brachial. Als Lamassu (in Keilschrifttexten oft als aladlammȗ wiedergegeben) werden die Wächter in den Beschreibungen des Ausstellungsraumes bezeichnet. Auch hierbei handelt es sich um Mischwesen. Im Gegensatz zu dem aus tierischen Elementen bestehenden mušḫuššu besitzt der jeweils im Profil dargestellte Lamassu den Körper eines Löwen oder Stiers und den Kopf eines Menschen. Riesige Flügel ragen aus dem Leib und auf dem Kopf trägt das Wesen eine Hörnerkrone. Bei den beiden Exemplaren in Berlin handelt es sich um Gipsabgüsse. Die Originale aus Nimrud (heutiges Irak) sind im British Museum in London zu bestaunen. Sie bestehen aus Alabaster und stammen aus dem Palast des assyrischen Königs Assurnarsipal II. (883-859 v. Chr.), was durch eine Inschrift auf dem Körper eines Lamassu gesichert ist. Auch Zauberformeln konnten in den Stein eingelassen sein. Vor allem bei den assyrischen Königen waren diese Kolosse zum Schutz des Palastes und zur Abwehr von Übeln beliebt. Ähnliche Lamassus wie die von Nimrud sind aus den Palästen von Ninive und Khorsabad bekannt. Lamassus waren in der Regel männliche Mischwesen, besaßen aber auch weibliche Gegenstücke, die sogenannten apašu. Zudem scheint schon in sumerischer Zeit eine „lama“ genannte weibliche Schutzgottheit bekannt gewesen zu sein. Allerdings ist von dieser nicht bekannt, ob sie die Gestalt einer Chimäre besessen hat.

Die stille Erhabenheit der steinernen Wächter zählt definitiv zu den Ausstellungshöhepunkten. Und auf gewisse Weise ist man als Besucher froh, den starren Augen, die auf unheimliche Weise nach allen Seiten zu schauen scheinen, wieder zu entgehen.

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm


Der vollständige Artikel inkl. Anmerkungen und weiterführender Literatur ist erschienen in:

Fabelwesen. Kleines Mythologisches Alphabet.  Constance Timm, Elmar Schenkel (Hrsg.). Leipzig, Edition Hamouda 2025.  


©  Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie und Edition Hamouda

Eine Antwort auf „Drachen, Löwen und geflügelte Wächter – Den Fabelwesen des antiken Mesopotamiens auf der Spur 2“

  1. „Allerdings ist von dieser nicht bekannt, ob sie die Gestalt einer Chimäre besessen hat.“

    Was ist mit dem Begriff Chimäre gemeint? Der Begriff Chimäre wurde verallgemeinert und damit gemeint ist ein Mischwesen. Wie leitet sich der Begriff Chimäre ab? Ableitet wird der Begriff Chimäre von Chimaira. Wer ist denn diese Chimaira?

    In der griechischen Mythologie ist Chimaira eine Bestie aus Lykien – und zwar handelt es sich dabei um ein konkret 3-teiliges Mischwesen zwischen Löwe, Schlange und Ziege. Die Bestie Chimaira hatte einen extrem heißen Atem und tötete viele Menschen. Einst wurde der Heros Bellerophon von König Iobates beauftragt, diese fiese Chimaira zu töten. Gelang es dem Bellerophon, dieses fürchterliche Ungeheuer zu töten? Unterstützt wurde Bellerophon vom geflügelten Perd Pegasos und so konnte er die Chimaira aus der Luft angreifen. Im Team gelang es dann, die Chimaira zu töten ->

    https://www.mythologie-antike.com/t20-ungeheuer-chimaira-mischwesen-zwischen-lowe-ziege-und-schlange

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