Die Bibliothek des Salman Schocken

Der jüdische Kaufmann und bibliophile Intellektuelle Salman Schocken (1877 – 1959) gehörte in der Zeit der Weimarer Republik zu den bekanntesten Persönlichkeiten im öffentlichen Leben Deutschlands. Von seinem Aufstieg vom Handelsvertreter zum Leiter eines riesigen Konzerns, seinem Werdegang als Verfechter des Zionismus, dem besonderen Verhältnis zu Sprache und Literatur, der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland und seinem Leben im Exil nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs steht sein Lebensweg für ein bedeutendes und paradigmatisches Stück deutsch-jüdischer Zeitgeschichte. Soweit Salman Schocken im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland heute aber noch präsent ist, kennt man ihn lediglich als den erfolgreichen und innovativen Geschäftsmann, der nicht zuletzt durch seine modernen Kaufhausbauten (zum weitgehend erhaltenen Chemnitzer Haus existiert inzwischen umfangreiche Literatur) in Erinnerung geblieben ist.

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Zum Ende der Welt: Eine Reise auf dem südlichen Peloponnes – Kapitel 7: Taygetos

Aus Richtung Gythio kommend, durchquerten wir eine kleine Ortschaft am Fuße des Gebirges. Ein Dutzend Häuser links und rechts der Straße, an einem Abzweig ein größeres Anwesen, ein Wohnhaus mit Nebengebäuden und einem Innenhof. Aus dem Hof rief uns ein Mann an, der dort gesessen hatte. Auf die Frage, wohin wir gingen, antworteten wir wahrheitsgemäß: Auf die andere Seite des Gebirges, nach Kardamili. Ungläubiges Erstaunen war die Reaktion. Eine schwarz gekleidete alte Frau bekreuzigte sich. Man bat uns in den Hof, ließ uns Platz nehmen und eine zweite, an einem Stock sich nur mühsam vorwärts bewegende uralte Frau schlurfte ins Haus, um uns Kaffee zu kochen. Der Mann sprach ein wenig Deutsch. Er habe, so erzählte er uns, vor längerer Zeit in München gearbeitet, im Restaurant eines Bekannten. Er versuchte uns von unserem Vorhaben abzubringen, verstand nicht, warum wir nicht mit einem Auto fuhren. Als er begriff, dass es zwecklos war, beschwor er uns, wenigstens die Straße zum nächsten Ort zu nehmen, nicht auf dem Wanderweg zu gehen, der nicht der kürzeste Weg sei. Da dieser Weg direkt hinter seinem Gehöft abzweigte, blieb uns nichts übrig, als vorläufig tatsächlich weiter auf der Straße zu gehen. Wir brachten es nicht fertig, den wohlmeinenden Rat der Leute auszuschlagen.

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Zum Ende der Welt: Eine Reise auf dem südlichen Peloponnes – Kapitel 6: “Kato Mani”

Auf der Ostseite der Mani angelangt, hatten wir uns noch einmal nach Süden gewandt, um in die große Bucht von Kotronas zu gelangen. Kotronas war in der Antike ein wichtiger Hafen, jedenfalls bis Gythio ihm den Rang ablief. In der byzantinischen Zeit geriet Kotronas jedoch in Vergessenheit, wie es heißt, auch wegen der häufigen Pirateneinfälle in der Gegend. Weitgeschwungen ist diese stille Bucht; der kleine Ort zieht sich entlang der Straße den Hang aufwärts. Einige hundert Meter höher liegt auf einer Bergkuppe das Kloster Sotiros. Es wird nicht mehr bewohnt, liegt still und verlassen auf der kargen Kuppe des Berges. Braun und grau sind hier die vorherrschenden Farben, es gibt kein Grün, kaum Vegetation. Mühsam gestaltet sich der lange Weg aus der Bucht herauf, kein Baum, kein Gesträuch, keine Felshöhlung bietet Schatten, um eine Pause einzulegen. Erst hinter den Klostermauern finden wir Schutz vor der gleißenden Sonne. Sotiros heißt Rettung. Vielleicht Rettung vor Angreifern für die Bewohner der Bucht, ein letzter Rückzugsort vielleicht. Wie Schießscharten muten die schmalen Fensteröffnungen an, von denen man Bucht und Meer weithin überblicken kann. Wir sind wegen der Fresken in der Klosterkirche heraufgekommen. Anastasia, die wir vor einigen Tagen kenngelernt hatten, hatte gesagt, dass wir hier etwas Außergewöhnliches zu sehen bekommen würden.

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Zum Ende der Welt: Eine Reise auf dem südlichen Peloponnes – Kapitel 5: “Messa Mani 2”

Näher rückten die Berge an das Meer heran, der schmale Küstensaum löste sich auf, und hoch und immer höher schraubte sich die enge Straße den Berg hinauf. Der südliche Ausläufer der Mani besteht aus steil ansteigenden Hügeln mit sanft gerundeten Kuppen, dazwischen gibt es kaum flaches Gelände, nur vereinzelt noch schmale Buchten.  Auf einer der Bergkuppen liegt Vathia. Liegt nicht, sondern steht aufrecht. Turm neben Turm, dicht an dicht, festgekrallt, schweigend, weißgrau und verlassen. Vathia ist ein Geisterdorf, nur zwei, drei Häuser am Rand der Siedlung sind noch nicht verlassen.

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Versuch über den Begriff des Magischen

Als mich die Anfrage erreichte, für diesen Blog einen Beitrag zum Jahresthema “Magie” zu schreiben, hatte ich zunächst vor, mich mit einem speziellen Thema dazu auseinanderzusetzen. Dies wäre, anknüpfend an meine Interessen, möglicherweise die Topografie gewesen. Genauer: sogenannte magische Orte. Oder zumindest das, was häufig und gern derart bezeichnet wird. Doch mir wurde bewusst, dass ich mich zunächst mit dem Begriff des Magischen auseinandersetzen musste. Mit dem, was man allgemein als Magie und als magisch definiert. Denn die Begriffe werden derart überstrapaziert, dass sie kaum noch etwas bedeuten können. Jedwede Naturlandschaft wird mit dem Zusatz magisch versehen. Von magischer Schönheit und Anziehungskraft wird gesprochen, von magischen Stränden, der Magie des Südens oder in tautologischer Steigerung von der zauberhaften Magie des Südens und was der Beispiele mehr sein könnten. Was aber hat es auf sich mit der Magie und dem Magischen? Wodurch wird jemand zum Magier, zur Zauberin, was braucht es, um einen Ort, eine Landschaft zum magischen Ort zu machen? Zaubersprüche und überlieferte Plätze, an denen besondere Kräfte wirksam werden können, sind Jahrtausende alt und auch in der Gegenwart gibt es zahlreiche Menschen, die der Magie Bedeutung zumessen. Was aber sind die entscheidenden Faktoren, die etwas bzw. jemanden qualifizieren, den Zusatz Magie und magisch für sich in Anspruch zu nehmen?

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Zum Ende der Welt: Eine Reise auf dem südlichen Peloponnes – Kapitel 4: “Messa Mani”

Diese Bäume dulden einen geringeren Himmel nicht, diese Steine verweigern sich dem fremden Schritt, diese Landschaft ist hart wie das Schweigen

(Jannis Ritsos)

Aus der Bucht von Limeni schlängelte sich die Straße in Serpentinen den Berg hinauf. Kein Panoramablick auf die Stadtlandschaft öffnete sich, unvermittelt waren wir schon mittendrin, Häuser links und rechts der Straße, eine Tankstelle, einstöckige Flachbauten mit Geschäften. Wir hatten Areopoli erreicht, die Stadt des Ares. Weder Stadtmauern noch Wehrtürme waren zunächst zu sehen, unspektakulär gestaltete sich unsere Ankunft und enttäuschend zivil zeigte sich das Hauptquartier des alten Kriegsgottes. Die Ortschaft war wesentlich kleiner als ich erwartet hatte, doch gilt sie als das Herz der Inneren Mani. Ursprünglich hieß die Stadt Tsimova, doch nach dem Aufstand gegen die türkische Fremdherrschaft, der 1721 unter Mavromichalis hier seinen Anfang nahm, wurde sie umbenannt. Für Ares, den Liebhaber blutiger Gemetzel, konnte sich in der Antike keine Stadt erwärmen, erst hier auf der Mani der Neuzeit fand der Kriegsgott des hellenistischen Pantheons mit Areopoli endlich doch noch eine Heimatstadt.

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Zum Ende der Welt: Eine Reise auf dem südlichen Peloponnes – Kapitel 3 “Exo Mani 2”

Das Meer war noch grau und stumpf, die Luft frisch, ein wenig kühl. Aus dem nächsten Dorf war das Krähen der Hähne zu hören. Das Einrollen der Schlafsäcke, das Umziehen und Packen – es dauerte eine gute halbe Stunde, bis wir bereit waren zum Aufbruch. Die Klippen rückten schon bald immer enger an den Steilhang heran, kein Wanderweg schien mehr weiterzuführen. Wir mussten bergauf zu den Dörfern Thalamos und Platano gehen. Denn dort oben verlief die Straße, die weiter nach Süden führte, nach Areopoli und dann bis zum Kap Tenaro, unserem vorläufigem Ziel. Zwei, drei Stunden gingen wir auf einem schmalen Pfad aufwärts, unterbrochen nur von einer kurzen Rast an einer Kapelle. Der Weg wurde nach einiger Zeit noch schmaler, zweigte sich auf in mehrere Fußpfade, brachte uns schließlich in ein kleines Tal, dessen Ende von dichtem Gestrüpp versperrt war. Erst nach einigem Hin und Her fanden wir einen neuen Pfad, der am Rand des Tales wieder weiter aufwärts führte. Unvermittelt standen wir nach kurzer Zeit an einem staubigen Feldweg, der uns bis nach Thalamos führte.

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Zum Ende der Welt. Eine Reise auf dem südlichen Peloponnes – Kapitel 2 “Exo Mani”

Zuerst noch nahe am Meeressaum, dann bald schon immer höher und kurvenreicher führt die Straße von Kalamata nach Süden. Sie windet sich zwischen Meer und Bergen, vorbei an massigen Felsklötzen, die bewachsen sind mit dichter Maccia und Zypressen. Soweit man blicken kann, sind die Niederungen von unermesslich vielen Olivenbäumen bedeckt. Wir fuhren bald schon hoch über dem Meer und schauten zurück auf die Bucht von Kalamata. Das weiße Häusermeer verschwand rasch aus unserem Blickfeld, immer weiter aufwärts führend zwängte sich die Straße durch wildzerklüftete Felslandschaften, die in ein verblüffend üppiges Grün getaucht waren.

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Zum Ende der Welt. Eine Reise auf dem südlichen Peloponnes – Kapitel 1 “Hotel Byzantio”

In Regenfällen versinkt Nordgriechenland. Bilder und Namen überfluteter Ortschaften huschen durch die Nachrichtenkanäle. Mantoudi, Achladi, Agia Anna. In der Region Evia und an der Grenze zu Albanien soll die Lage dramatisch sein. Immer mehr und immer südlicher ziehen Regenfronten über die Schaubilder der Wettervorhersagen. In Athen jedoch ist es bei meiner Ankunft in den ersten Oktobertagen noch trocken und warm. In meiner Unterkunft nimmt mich Sergej in Empfang, ein Ukrainer aus Mariupol im Camouflage-Anzug. Er läßt mir kaum Zeit, meinen Rucksack abzusetzen, beginnt unverzüglich, mir Athen zu erklären: Wie man wohin gelangt, was man gesehen haben muss und was nicht. Sergej spricht unentwegt über dies und das, allein über meine Mitbewohner in seiner Unterkunft, düstere Gestalten, die schweigend umherschleichen und einem Dostojewski-Roman entsprungen sein könnten, bewahrt er Stillschweigen. Vom Dach des Hauses aus zeigt er mir die Akropolis, führt mich danach zu einem Kaffeehaus am Rande eines Parks. Hier treffe ich Stefanos, den Freund, mit dem ich schon früher auf Kreta und in Griechenland gereist bin. Gemeinsam wollen wir dieses Mal die Mani durchwandern, jene karge und legendäre Halbinsel, die der Schriftsteller Patrick Leigh Fermor so unnachahmlich beschrieben hat. Zum südlichsten Zipfel des Peloponnes, zum Totenorakel der alten Spartaner und zum Kap Tenaro wollen wir, wo sich den mythischen Überlieferungen nach einer der Hadeseingänge befinden soll.

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Kleines Mythologisches Alphabet: Nachts(ch)icht. Berichte aus dem Dunkel

Bereits seit 2016 erscheint im Leipziger Verlag Hamouda die Reihe “Kleines Mythologisches Alphabet“. Diese schön gestaltete Buchreihe orientiert sich an den Buchstaben des Alphabets Mythologica. Von A wie Australien (bereits erschienen) bis Z wie Zauber sollen mythische Hinter- und Untergründe aufgedeckt und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden.

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Landschaften jenseits der Wirklichkeit – Die Commedia und einige Gedanken zur Topografie des Jenseits

er nahm sich an der Göttersitze allesamt. Allumfassende Weisheit besaß er in jeglichen Dingen. Er sah das Geheime und deckte auf das Verhüllte (Gilgamesch-Epos)

Wohin sich Jenseitsreisende auch immer begeben – sei es Hades, Hölle oder Paradies – und auf welchen Wegen sie dahin gelangen, sie verlassen in jedem Fall die Lebenswelt der Menschen, um „das Geheime zu sehen und das Verhüllte aufzudecken“. Jenseitsreisende überschreiten den Fluss, überqueren das Gebirge, erheben sich in die Lüfte so leicht wie ein Hauch und erreichen die höchsten aller Himmel. Sie steigen hinunter in düstere Unterwelten, wagen sich in Schlünde und Grüfte, tauchen zum Meeresgrund, gelangen in die tiefste aller Tiefen und – was normalerweise den Sterblichen verwehrt bleibt – sie kehren wieder zurück, um uns Lebenden Bericht zu erstatten.

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Wir sind Legion – Ein Besuch bei Beelzebub und Freunden

Es sind nicht mehr als einhundert Kilometer von Vilnius nach Kaunas, aber mein Zug braucht mehrere Stunden für die Strecke, bummelt durch die flache Landschaft zwischen Wäldern, Wiesen, Seen und Sümpfen dahin. Wenn ich mich zurücklehne und die Augen schließe, sehe ich die baltische Landschaft trotzdem, sie ist ein Bernstein zwischen Meereskieseln, stumpf an der Oberfläche, schimmernd im Inneren, fest und weich zugleich. Eingeschlossen im erstarrten Harz wie Insekten liegen behütet die Städte zwischen Meer und Kiefern, zwischen Sümpfen und Sand. Eine ruhige, friedliche Landschaft, schwer vorstellbar, dass sich hier die Heimat des Bösen befinden soll.

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