Sacro Bosco – der heilige Wald

Voi che pel mondo gite errando vaghi di veder meraviglie alte et stupendeIhr, die ihr durch die Welt auf vagen Reisen umherirrt, die hohen und erstaunenden Wunder zu sehen…

Bomarzo, ein verschlafener Ort in der italienischen Provinz Latium, birgt ein offenbares Geheimnis. Offenbar weil jener geheimnisvolle Ort, von dem hier die Rede sein soll, öffentlich zugängig ist. Geheim, weil er sich bis heute nicht vollständig enträtseln lässt. In einer baumbestandenen Talsenke, in Sichtweite des oberhalb gelegenen Ortes Bomarzo mit dem Schloss der Orsinis, geht man auf gewundenen Parkwegen durch eine scheinbar verwunschene Welt. Gewaltige steinernen Skulpturen, rätselhafte Inschriften, emblematische Zeichen, in denen sich griechische und römische Mythologie mit zeithistorischen und literarischen Bezügen mischt, überraschen den Besucher auf mehreren Ebenen. Sowohl auf den terrassenartig angelegten Ebenen der Parkanlage, die sich am Hang des Talgrundes übereinanderschichten, als auch im metaphorischen Sinne. Denn wenn man Nachforschungen anstellt über Sinn und Bedeutung dieser Anlage und über mögliche Gründe, die zu ihrer Schaffung geführt haben könnten, gerät man schnell ins Reich der Vermutungen und Spekulationen.  Die Parkanlage des Hauses Orsini, auch Sacro Bosco – der heilige Wald – genannt, fasziniert seit ihrer Wiederentdeckung in der Mitte des 20. Jahrhunderts Künstler, Schriftsteller, Kunsthistoriker und inzwischen auch zahlreiche Besucher, die insbesondere an den Wochenenden mit ihren Kindern durch den Park schlendern und sich an den grotesken Skulpturen ohne vertieftes Interesse an deren Bedeutung erfreuen. Doch in den steinernen Figuren von Bomarzo mischen sich mythologische Motive auf uneindeutige Weise mit historisch-politischen Anspielungen. Die Anordnung der Figurengruppen zueinander (es gibt ein Tor zur Unterwelt, den Drachen, den Kampf der Giganten, Brunnen, Wasserspiele, Grotten) und die Anlage in ihrer Gesamtheit sowie die beigefügten Sinnsprüche und Zitate geben Deutungen und Spekulationen reichlich Raum. So begrüßt den Besucher beim Betreten des Geländes eine programmatische Inschrift, die in den Sockel einer Sphinx graviert wurde: Der du hier eintrittst betrachte / Stück für Stück / und sag mir dann, ob so viele Wunder / durch Täuschung bewirkt sind / oder allein durch Kunst.)

War eine Verwirrung des Besuchers erklärte Absicht des Schöpfers der Anlage, war alles nur ein großer Spaß, bei dem man mit Zitaten aus Geschichte, Literatur und Mythologie falsche Fährten legte? Oder gab es Gründe, eine wie auch immer geartete Botschaft hinter labyrinthischen Rätseln zu verstecken?

Um die Mitte des 16. Jahrhundert entstanden, war der Park, der Fürst Vicino Orsini (1523–1585) zugeschrieben wird, schon bald nach dessen Tod für lange Zeit vollkommen verwildert. Fast vier Jahrhunderte hindurch interessierte sich niemand für das unwirtliche Wäldchen. Dicht verwucherte Bäume und Sträucher, bemooste Steine, ein morastiger Talgrund, durch den sich der Lauf des Bachs Concia zwischen Felsbrocken seinen Weg sucht. Allein die monströsen steinernen Gestalten von Elefant, Drache, Glaukos, Proserpina und Neptun ragten da und dort aus der dichten Vegetation. Es muss wohl ein schauerlicher Ort für die Bewohner der Gegend gewesen sein, der besser zu meiden war. Existierten vielleicht sogar noch vage Erinnerungen an eine vorchristliche Kultstätte, die sich möglicherweise hier, im Tal bei Bomarzo, befunden haben mochte? Es wäre wohl nicht vollkommen unwahrscheinlich, denn rund um Bomarzo, ja überhaupt in der gesamten Region um den Bolsenasee, finden sich zahlreiche etruskische Artefakte wie die berühmte Felsennekropole Castel d`Asso oder die sogenannte etruskische Pyramide, ein gewaltiger Felsbrocken nahe Bomarzo, der offenbar einmal kultischen Zwecken gedient hatte.

Als “Villa der Monster” wird die Parkanlage von Bomarzo unter anderem auch bezeichnet. Und eine gewisse Düsternis – ja, man könnte durchaus von morbider Atmosphäre sprechen – eignet dem Ort durchaus. Nichts von spielerischer Leichtigkeit ist hier zu spüren, eher überkommt den Besucher die bedrückende Vorahnung einer diffusen Bedrohung.

Die Wiederentdeckung des Sacro Bosco fand schließlich Mitte des letzten Jahrhunderts statt. Bereits 1870 hatte die Familie Bettini das Gelände gekauft und seit den 1950er Jahren mit Hilfe des Instituts für Geschichte und Architektur von Rom begonnen, die Anlage zu restaurieren. Der erste in einer langen Reihe von Künstlern und Schriftstellern, die sich hier faszinieren und inspirieren ließen, war Salvador Dali, der bereits in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts in Bomarzo gewesen war. Es sollten ihm viele andere folgen, die wie er vom Rätsel der Anlage fasziniert waren und ihre Eindrücke künstlerisch verarbeiteten (sogar eine Oper namens “Bomarzo” gibt es, die der argentinische Komponisten Ginastera schuf).

Vicino Orsini erbte die Grafschaft Bomarzo 1542 von seinem Vater. Zuvor war er als Offizier und Politiker im Umfeld des Papstes in Erscheinung getreten. Als Schlüsselereignis in Orsinis Leben gilt seine Anwesenheit während einer Schlacht um die Stadt Montefortino, nach deren Eroberung durch die Truppen des Papstes die Bevölkerung abgeschlachtet wurde. Orsini beendete in der Folge dieses grauenvollen Ereignisses seine militärische und politische Karriere und zog sich nach Bomarzo zurück. Über die Gründe, die ihn hier zur Anlage des Parks bewegten, ist bereits viel spekuliert worden. Dabei dürfte der Essay der niederländischen Autorin Hella S. Haasse “Die Gärten von Bomarzo” für die Bomarzo-Deutung und Forschung wegweisend gewesen sein. Haasse besuchte Bomarzo in den 60er Jahren und zog in ihrem Text Verbindungslinien zu archaischen Symbolen und Kulten (hier kommen u.a. auch die Etrusker ins Spiel). Ihr Essay ist vor allem aber bemerkenswert aufgrund der genaueren Untersuchung der familiären Beziehungen und Verstrickungen der Familien Orsini und Farnese in die komplexe politische Situation ihrer Zeit. (Durch seine Frau, Giulia Farnese, war Orsini mit dem Haus der Farnese verwandt.) Zwischen den eigenen Machtansprüchen, jenen des Papstes im nahen Rom, der Fraktion der Kaisertreuen und den aufstrebenden norditalienischen Handelsstädten dürfte das Leben des humanistisch gebildeten Orsini nicht gerade einfach gewesen sein. Neben dem Einfluss der komplexen politischen Situation im Italien des 16. Jahrhunderts haben ihn zweifellos auch die Einwirkungen der Renaissancebewegung auf Kultur und religiös-philosophisches Denken in dieser Zeit beeinflusst und in der Anlage des Sacro Bosco ihren Ausdruck gefunden.

Besonders reizvoll scheint mir an Hella S. Haasses Essay darüber hinaus die Möglichkeit, Bomarzo als eine Art Scharnier zu sehen, an dem eine rätselhafte Verbindung möglich scheint von jenem merkwürdigen Garten der Renaissancezeit zur fernen etruskischen Kultur, deren Sprache noch immer nicht entschlüsselt werden konnte.

Es gibt diverse weitere Deutungsversuche, um zu einem Verständnis der Anlage zu kommen (siehe dazu Literaturhinweise). So wird Orsinis Park als Ausdruck eines Aufstands gegen das religiös-politische Establishment im Italien des 16. Jahrhunderts gesehen oder es wird die psychologische Annäherung mittels Freuds Traumdeutung als Methode seiner Interpretation gewählt. Im Laufe der letzten Jahrzehnte sind auch neue Erkenntnisse – beispielsweise durch die Untersuchung Vicino Orsinis Briefwechsel – hinzugekommen. Und was in Hella S. Haasses 1968 erstmals erschienenen Buchs noch weitgehend unbelegte Überlegungen und Vermutungen sind, ist seither tiefergehend untersucht worden. Besonders das 1985 erschienene Buch von Horst Bredenkamp (Vicino Orsini und der Heilige Wald von Bomarzo. Ein Fürst als Künstler und Anarchist) hat Hella S. Haasses Überlegungen weitergeführt.

Dennoch kann man den “Heiligen Wald” nach wie vor auch als “deutungsoffenen Raum” sehen, der dazu einlädt, sich im physischen wie im metaphorischen Sinn hineinzubegeben und sich anregen und überraschen zu lassen. In Günter Kunerts Gedicht “Verlangen nach Bomarzo” heißt es: “Selber ein Fels sein. / Stillstehen mit der gewesenen Zeit / … Da bleiben. Hierbleiben / Kristallinisch / solcher Landschaft sich innig verbinden: / wenigstens vorübergehend / unsterblich sein./”

Ist mit der Sehnsucht, in die steinernen Figuren einzutreten, auch der Wunsch verbunden, ihr Geheimnis zu erkennen? Oder geht es gar nicht darum, ein mysteriöses Geheimnis zu entschlüsseln? Vielleicht ist ein tieferer Sinn der weiterhin rätselhaften Anlage aber bereits darin zu finden, dass der Gang durch den heiligen Wald, die Beschäftigung mit den Gärten von Bomarzo letztlich zum Nachdenken über das eigene Verhältnis zu Sinnlichkeit und Tod, zur eigenen Existenz gerät, zur Suche nach möglicher Orientierung in einer nur zu oft verwirrend komplexen Welt auffordert.

Ein Beitrag von Jörg Jacob


Jörg Jacob, 1964 in Glauchau geboren. Nach einer Ausbildung zum Polsterer war er freier Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung sowie Mitarbeiter einer Begegnungsstätte für Kunst und Kultur. 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (Abschluss 2003). Nach Veröffentlichungen von Kurzprosa in namhaften Anthologien und Zeitschriften erschien 2006 sein Romandebüt. Jacob erhielt verschiedene Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Gellert-Preis für seinen Roman Das Vineta-Riff. Seit 2010 betreut er verschiedene Projekte und Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Jörg Jacob lebt und arbeitet als freier Autor in Leipzig, zuletzt erschien Godot gießt nach/Herr Tod will leben, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2019, sowie ein aktueller Romanauszug in Doppelte Lebensführung, Poetenladen, Leipzig 2020.


Literaturhinweise:

Hella S. Haasse. “Die Gärten von Bomarzo”. Verlag Klaus Wagenbach: Beriln 2022.

Renate Vergeiner. “Bomarzo: Ein Garten gegen Gott und die Welt”. Birkhäuser: Basel 2017.

Gunda Hinrichs. “Der heilige Wald von Bomarzo. Ein rätselhafter italienischer Renaissancegarten und Freuds Traumdeutung als Methode seiner Interpretation”. Gebr. Mann: Berlin 1996.

Horst Bredenkamp. “Vicino Orsini und der Heilige Wald von Bomarzo”. Verlag werner sche: Worms 1991.

Gunter Kunert. “Verlangen nach Bomarzo”. Carl Hanser Verlag: München 1978.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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