Der ungarisch-habsburgische Mythos lebt weiter. Nelio Biedermanns hoch gelobter Roman „Lázár“ (2025)

Zum ungarisch-habsburgischen Mythos in der Literatur

Nach dem Umbruchsjahr von 1989/1990 rücken grenzüberschreitende Narrationen erneut in den Mittelpunkt kulturgeschichtlicher, kultureller und literarischer Erörterungen. Dazu gehört auch der mittel- bzw. zentraleuropäische Kulturraum, jenes „entführte Europa“, von dem Milan Kundera nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Warschauer Vertragsstaaten schrieb. Kunderas Text hat nichts an Aktualität verloren, im Zusammenhang mit dem Überfalls Putins auf die Ukraine hat er eher noch hinzugewonnen. In diesem Sinne kommt es zu einem kulturell-literarischen Phänomen, der Renaissance Mitteleuropas, „Reinventing Central Europe“. Der tschechische Schriftsteller Kundera hatte seinerzeit beklagt, dass das einst multinationale, multiethnische Mitteleuropa als ein „vergessener Raum“, zugleich aber auch als ein „bedeutendes kulturelles Zentrum“ mit einer „maximalen Vielfalt auf minimalem Raum“, weitgehend aus dem Bewusstsein der Westeuropäer verschwunden war. In Mitteleuropa erblickte Kundera ein „verdichtetes Abbild Europas der kleinen Nationen“, in der russischen „Seelentiefe“ dagegen einen, „unstillbaren, unbarmherzigen Expansionsdrang“ einer imperialen Macht.

Nicht zufällig hatte Kundera in seinem Essay über das gekidnappte Europa den tschechischen Historiker und Politiker Frantisek Palacký aus seinem an die Frankfurter Nationalversammlung gerichteten Brief von 1848 zitiert, in dem er schreibt, dass allein das Habsburger Reich ein echtes Bollwerk gegen Russland als ein „unsägliches, gewaltiges Unglück“ für Europa sein könne.  Kundera knüpfte damit an das untergegangene k.- und k.- Reich an, um die westliche Identität unter der Herrschaft des totalitären Sowjetregimes zu verteidigen. Das Scheitern der österreichisch-ungarischen Monarchie in Mitteleuropa einen föderativen Staat gleichberechtigter Nationen zu gründen, wurde nach der Zäsur von 1989/1990 erneut als ein großes Unglück, geradezu als eine Tragödie nicht nur für die betroffenen Länder und Kulturen gesehen. Mit ihrer „Rückkehr nach Europa“, ihrer „Mitteleuropa-Euphorie“ wollten die Nachfolgestatten Österreich-Ungarns jenseits des Eisernen Vorhangs nach der Zäsur von 1989/1990 ihre westliche Zugehörigkeit zurückgewinnen, eine deutliche, wenigstens imaginäre kulturelle Grenzziehung zum „Osten“ vornehmen, und sei es als nostalgischer Traum eines verlorenen Arkadiens. Zugleich wurde Habsburgs Untergang, nicht zuletzt im Sinne von Habsburg neu denken, auch als ein Neuanfang Mitteleuropas in den ostmitteleuropäischen Literaturen gesehen. Dabei entwickelte sich dieser Mythos regelrecht zu einem Faszinosum, vor allem was die „Plurikulturalität“, das Miteinander, die Vielfalt, Ambivalenz und einstige Größe dieses Reichs betraf. In den meisten Nachfolgestaaten erscheint das Bild des untergegangenen Österreich-Ungarns ex post idealisiert, als eine „positive Alternative“ im Hinblick auf die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg herrschenden neuen Gesellschafts- und Herrschaftsformen. Und so kommt es im Sinne der angestrebten „Rückkehr nach Europa“ in Gestalt einer „rückwärtsgewandten Utopie“ zu einer Wiederentdeckung des untergegangenen Kulturraums Österreich-Ungarn in der Literatur und Kultur, die sich in einer individuellen wie kollektiven Spurensuche äußert. Der Mythos Habsburg, hier konkret auf das königliche Ungarn bezogen, weist zahlreiche Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede zum kaiserlichen Österreich auf. Das betrifft auch den populären „habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur“ (Claudio Magris) im Unterschied zur weniger bekannten ungarischen Literatur zu diesem Thema. Die literarischen Auseinandersetzungen mit dem alten, königlichen Ungarn bewegen sich zwischen nostalgischer Sehnsucht nach dem Vergangenem, „einer verlorenen Welt von gestern“ und dem unaufhaltsamen Niedergang des ungarischen Adels und des Landes als einem zentralen Thema ungarischer Literatur. So thematisiert beispielsweise Magda Szábo die Ambivalenz der k. und k.-Ära in ihren tiefgreifenden Auswirkungen auf das moderne Ungarn und die ungarische Identität über mehrere Generationen hinweg. Verwiesen sei in diesem Kontext des Weiteren auch auf ungarische Schriftsteller wie György Lukács oder Dezső Kostolanyj, die eine im Untergang begriffene intellektuelle Welt beschreiben, die melancholische Atmosphäre während der letzten Tage der Monarchie einfangen und die künftige Identität und Stellung Ungarns in der Welt hinterfragen.

Konkret auf Biedermanns Roman „Lázár“ bezogen, stellt sich die Frage, wie Ungarn sich heute an die Zeit der untergegangenen Doppelmonarchie erinnert und welchen Einfluss diese Auseinandersetzungen möglicherweise auf den Schreibprozess des Autors genommen haben könnten. Haben wir es hier, und damit vergleichbar mit der Literatur über das alte Ostpreußen (Kazimierz Brakoniecki: „Die Atlantis des Nordens“), tatsächlich mit einem verlorenen Arkadien zu tun?  Gilt die Zeit der k. und k.-Monarchie auch in der ungarischen Literatur als ein zwischen Sehnsucht und Nostalgie angesiedelter Mythos von einem „goldenem Zeitalter“? Im Unterschied zu Österreich und zahlreichen anderen Nachfolgestaaten gleicht der Niedergang und Zerfall des Doppelreichs im ungarischen Kontext einen dem Diktatfrieden von Trianon (1920) geschuldeten, fortdauernden Albtraum. Immerhin hatte Ungarn zwei Drittel seines historischen Staatsterritoriums und ein Drittel seiner Bevölkerung verloren. Es ist bis heute eine schmerzliche Zäsur geblieben, die weiterhin einem Trauma gleicht. Interessanterweise trug die Ausstellung zur Eröffnung der ungarischen Kulturhalle 2016 den kennzeichnenden Titel „Das erste goldene Zeitalter“, bezogen auf die engen Verbindungen und Parallelen zwischen den beiden Reichshälften der Doppelmonarchie vor allem auf dem Gebiet von Kunst und Kultur. Diesem Mythos von einer gemeinsamen Zeit des zivilisatorischen Fortschritts, einer gedeihlichen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und verwaltungstechnischen Entwicklung, steht in der Erinnerungskultur einer häufig von Nostalgie getragenen Literatur aber auch folgenschwere Untergangszenarien gegenüber. Die Vertreter des ungarisch-habsburgischen Mythos, die ihre Leser in die Vergangenheit der Doppelmonarchie entführen, fühlten sich oft als letzte, verbliebene Vertreter Kakaniens. Zahlreiche der neu entstandenen Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns interpretierten das Ende der Doppelmonarchie auch als eine „Befreiung aus dem Völkerkerker“.

In Ungarn wird der Niedergang und Zerfall des königlichen Ungarns auch in einem engen Zusammenhang mit dem Scheitern einer favorisierten „Donau-Konföderation“ (1862 von Lajos Kossuth) gesehen. Es sollte eine Föderation sein, die neben dem „Modell Zentraleuropa“ zu einem „Fluchtpunkt der Erinnerung“ geworden war. Das königliche Ungarn galt als eine Zeit, in der das Land noch „eine regionale Führungsposition innehatte und zur Mitte Europas gehörte“ (Edit Király) und auf „eine Wiederherstellung der Verhältnisse vor der Tragödie von Trianon“ hoffte. „Wir haben beschlossen, das habsburgische Erbe viel liebevoller zu pflegen als jedes andere Land – auch liebvoller als Österreich“, äußerte Ungarns Minister für Humanressourcen, Zoltán Balog. Dabei sitzen die Ressentiments gegenüber den „arroganten Österreicher“ in Ungarn ebenso tief wie die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“. Und die kommunistische Gewaltherrschaft? Der ungarische Schriftsteller Sándor Márai drückte es wie folgt aus: „Der Kommunismus ist eine Tragödie, aber der wahre Gegner ist stets die in das ‚nationale‘ Kostüm gekleidete heuchlerische und habgierige Rechte.“ Eine Meinung, die sicher auch der ungarische Nobelpreisträger László Krasznahorkai ebenso wie Nelio Biedermann teilen dürften. Für diese Autoren ist die Kultur wie auch die Literatur eine „Rettung vor der Armseligkeit unseres Lebens“ (Márai), vor der menschlichen „Verrohung durch die Macht“ (Krasznohorkai), denn beim Lesen suchen wir nach „etwas Menschlichem, nach Gefühlen, die man wiedererkennt, und dem bedeutenden Moment, in dem man sich verstanden fühlt“ (Biedermann).

Nelio Biedermanns „Lázár“ (2025)

Der Junge sollte lernen, was es heißt, ein Mann, ein Baron, ein Lázár zu sein.

Der „opulente“ Roman des jungen Schriftstellers aus der Schweizer, Nelio Biedermann, wird hoch gelobt: „der neue Zauberer“ (DIE ZEIT), der „neue Thomas Mann“ (SZ). Dabei scheint es bei allen Lobpreisungen und gewagten Vergleichen angebracht, dieses literarische Werk in einen kultur- und literaturgeschichtlichen Zusammenhang mit dem ungarisch-habsburgischen Mythos (die Betonung liegt hier auf ungarisch!) als einem literarischen Phänomen der mitteleuropäischen Literatur einzubetten, scheint doch die literarische Konjunktur von Nelio Biedermanns Roman auch eine Art Abgesang auf das alte Ungarn zu sein, mit all seiner Dekadenz, Morbidität, den beschriebenen Ausschweifungen, exzentrischen bis abartige Verhaltensweisen, die stellvertretend für das Haus Habsburg stehen. Mit seinem Titel „Lázár“ (mit diakritischen Zeichen auf dem a, á geschrieben) weist Biedermann bereits auf das Ungarische hin, bezieht er sich auf ein altes ungarisches Adelsgeschlecht. Der ungarische Bezug wird auf dem Buchcover auch durch die Abbildung eines edlen Lipizzaner-Schimmel signalisiert, ein stolzer Besitz der Protagonistin Mária. Das Pferd ist zugleich auch ein Hinweis auf den Pferdeknecht Pál, der Geliebte der hochwohlgeborenen Baroness. D.H. Lawrence und „Lady Chatterley“ lassen grüßen! Der Schimmel steht symbolisch auch für die Macht, die Traditionen, den Stolz und den Standesdünkel des ungarisch-österreichischen Adels; immerhin gilt Ungarn in seiner Geschichte und Kultur bis heute als eine stolze Pferdenation, gerade auch als fester Bestandteil ungarischer Tradition und Kultur. Wichtig erscheint, gerade bei einem so jungen Autor wie Biedermann (gerade einmal 22 Jahre alt!), die Belesenheit, die Rolle der mehr oder weniger verborgenen Intertextualität im Schreibprozess zu sein. Dabei werden nur einige Schriftsteller und Werke explizit als „Anklänge an die großen Romanciers des 20. Jahrhunderts“ benannt, es sind große Vorbilder wie Thomas Mann, E.T.A. Hoffmann, Marcel Proust, Josef Roth und Virginia Woolf als positive Elemente, um einen eigenen Stil zu entwickeln. Verbindungen zur ungarischen Literatur sind versteckt und für den deutschsprachigen Leser weitaus weniger aufspürbar. Zu ihnen gehört einer der bedeutendsten Schriftsteller Ungarns, Sándor Márai, der in Biedermanns Roman kurz erwähnt wird. Für Márai war die ungarische wie europäische bürgerliche Kultur mit ihren Werten mit dem Zweiten Weltkrieg untergegangen: „Alles ist verloren gegangen, alles!“ Der Verlust der ungarischen Monarchie bedeutete für ihn das Ende eine Ära, eines unwiederbringlich verlorenen „Traum-Ungarn“, einer der Welt von gestern angehörenden geistigen wie materiellen Doppelkultur. Es war der endgültige Abschied des alten Österreich-Ungarns als einem ideal erscheinenden Universalstaat. „Für ihn blieb Österreich […] diese stille und feine Menschlichkeit, mit viel Musik, mit vorsichtiger Politik, mit wohlwollenden Erzherzögen […] mit dem durch Schlamperei abgemilderten Absolutismus, der eine der größten Zauber- und Anziehungskräfte des alten Österreichs war.“ Der kurz in Biedermanns Roman erwähnte Sándor Márai scheint ein wichtiger thematischer Bezugs- und Ausgangspunkt für den Schreibprozess des jungen Autors zu sein, beschreibt doch Márai den Zerfall der Monarchie ebenso wie die wilden zwanziger Jahre, die kriegerischen Zerstörungen, den Einmarsch der Sowjetarmee, den Stalinismus, den Volksaufstand, die Flucht aus Ungarn und das fremde Exil. Es sind Themen, die auch in „Lázár“ eine wichtige Rolle spielen.

Nelio Biedermanns epische, tragisch-traumatische Geschichte über den unaufhaltsamen Niedergang eines Reiches und einer Familie einer ungarischen Adelsfamilie setzt um 1900 ein und reicht bis ins Schweizer Exil in den fünfziger Jahren. Die Familie, ein Bezug zur eigenen Familie, der Biedermanns von Turony ist dabei durchaus gegeben, erlebt alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre. Es ist die Familiengeschichte dreier Generationen, die vor allem auf den Erzählungen seines Vaters und seiner Großmutter beruht. Während sich die grundlegenden historischen Stationen des Buchs eng an der Realität orientieren, sind die literarischen Figuren weitgehend fiktiv. „Zu Beginn habe ich viel recherchiert, Bücher aus der Zeit gelesen, grosse Familienromane studiert, um ein Gefühl für die Epoche zu bekommen. Nach einem halben Jahr merkte ich jedoch, dass ich damit an Grenzen stieß und mehr Hintergrundwissen brauchte. Also reiste ich zu meinem Großonkel nach Budapest.“ Ein Ausgangspunkt für das Schreiben war das in der Familie vorhandene Gefühl eines erlittenen großen Verlusts, das Biedermann nachzuvollziehen versucht, den Verlust der Heimat, des Besitzes, was er, wie auch bisher Verschwiegenes aufzugreifen und zu thematisieren versucht. „Das Schreiben hat mir geholfen, mehr Verständnis für diese Geschichte zu entwickeln – und nachzuvollziehen, warum man sich daran festklammert. Es war eine Befreiung, darüber zu schreiben.“ Interessant ist diesbezüglich der „mythologische Unterbau“ des Romanstoffes.

Die im Buch immer wieder auftauchenden magisch-mystischen Elemente scheinen nach Auskunft des Autors beim Schreiben zweifelsohne behilflich gewesen zu sein. „Der Bruch zwischen Historischem und Märchenhaftem erlaubte es mir, mich von den Fakten zu lösen und zu erzählen, was ich wollte. So konnte ich mich auf die Suche nach der tieferen Wahrheit machen, die hinter dem Wald und der Oberfläche der Geschichte lag.“ Realität und Fantastisches sollten ebenso wie „normale“ neben „verwirrten“ Figuren nebeneinander auftreten und existieren können. Hier ist das Vorbild E.T.A. Hoffmann. Eine besondere Rolle spielt in Biedermanns Roman der dunkle, mystische ungarische Wald, in dem ein seltsames Waldvolk wohnen soll. Es ist ein Wald, der auch Familienmitglieder wie Sándors Großvater verschluckt hatte. „Dort, zwischen den dichtesten Bäumen, sah er die Figuren Hoffmanns. Manchmal auch die Mutter, die täglich in den Wald lief, um das Jagdschloss des Vaters zu suchen, das es nicht gab und nie gegeben hatte. – Bis sie eines Tages nicht mehr wiederkehrte.“ Von Fantastischem beseelt ist u.a. die Figur des jungen Pista, der mit Schatten spricht. Das Heimelige, Vertraute wird mit dem Unheimlichen, Fremden kontrastiert, Historisches steht neben Düster-Märchenhaftem. Sándors Vater verschwindet im geheimnisvollen Wald, seine Leiche wurde nie gefunden, und Sándors Mutter begibt sich jeden Tag in den Wald, um das Jagdschloss ihres Mannes zu suchen, welches es so nie gegeben hat. Die Vertreter der jüngeren Generation, die vom früheren Leben des Adels nicht mehr viel mitbekommen haben, leben in den erzählten Geschichten und Erinnerungen der „Alten“ weiter. Die bewunderte Sprache, der Ausdruck und der Stil Biedermanns geht gewiss auch auf die erlesenen kulturellen Referenzen zurück, die das vielgepriesene „Wunder“, die geschulte Literatursprache, die gelungene Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit aus der Sicht eines Vertreters der jungen Generation erst ermöglichten. Biedermann gelingt es damit, sich in die literarische Tradition einzuschreiben, die ungarisch-europäische Tragödie, ähnlich wie zuvor bereits Sándor Márai, widerzuspiegeln. Auch wenn zunächst „der Gedanke, das Habsburgerreich könnte endlich sein, undenkbar war […].“ Doch der Geschichtsverlauf lehrte etwas anderes; die Monarchie versank zunehmend im „Donausumpf“: „Für Lajos war das Ende des Kaiserreichs die einzig logische Folge; den Verfall des Vaters hatte er stets als dessen Verkörperung gesehen. Dennoch erschütterte ihn das Auseinanderbrechen der ihm bekannten Welt. Es kam ihm vor, als würde alles in sich zusammenfallen, als würde die Mitte nicht mehr halten […] als wäre er ein Teil einer Welt, die es nicht mehr gab.“ Die Empfindungen der Untergangsgeweihten glichen dem „all seine Werte aufgebenden Gustav von Aschenbach, der liebeshungrig und krank durch die Gassen der verfaulenden, im Meer versinkenden Stadt irrte […].“ Der körperliche wie geistige Verfall wird in oft drastischen, naturalistisch beschriebenen Szenen gezeigt. Dekadenz geht einher mit Degeneration und Krankheit, verdeutlicht durch exzentrische Charaktere mit ihren Marotten, sexuellen Neurosen und auch krimineller Energie.  

Die alte, bekannte Welt glich einer „versunkenen Stadt, deren Denkmäler und Gebäude, Kirchtürme und Paläste man zwar unter der Wasseroberfläche noch sehen kann, deren Zeit aber nie zurückkommen wird“. Allerdings verkörperten die Andrássystraße und das Opernhaus „wie nichts anderes die Zeit der Monarchie. Die Gebäude waren monumental, prunkvoll, unzeitgemäß, größenwahnsinnig und schmerzhaft schön!“ Diese ganze, wohlbekannte Welt musste zwangsläufig wie die Titanic untergehen: „Alles musste versinken, untergehen, ertrinken, damit er (Lajos) endlich frei, endlich ein eigener, für sich stehender Mensch sein konnte, ohne die Geschichte im Rücken, den Adel am Finger und die Vorfahrenkette am Hals.“ Doch würde der Gang ins Schweizer Exil nach dem Verlust der „ganzen ihnen bekannten Welt“ – die jungen Ungarn Eva und Pista müssen vor den Verfolgungen des stalinistischen ungarischen Staatsschutzes fliehen – die ersehnte Freiheit und das persönliche Glück bringen? „Vor ihnen lag Zürich, der See, die weißen Schwäne und verschneiten Berge.“

Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte


Literaturhinweise:

Steven Beller: Reinventing Central Europe. Minneapolis: Center for Austrian Studies 1991, 92/5.

Nelio Biedermann: Lázár. Berlin 2025.

Ludwig Graf Polzer-Hoditz: Der Untergang der Habsburger Monarchie und die Zukunft Mitteleuropas. Basel 2012.

Edit Kiraly: Mythos vom Goldenen Zeitalter Wiener Zeitung vom 04.11.2018. https://www.wienerzeitung.at/h/mythos-vom-goldenen-zeitalter.

Milan Kundera: Der Entführte Westen. Die Tragödie Mitteleuropas. Kommune 1983/84 Kampa Verlag 2023

Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Wien 2013.

Sándor Márai: Die Glut. München 1998 und 2001.

Jacques Lajarrige, Walter Schmitz und Giusi Zanasi (Hgg.): Habsburgs Untergang – Mitteleuropas Anfang. Literaturen eines zerrissenen Kontinents. Dresden 2021.

Katrin Unterreiner: Die Habsburger: Mythos & Wahrheit. Graz 2011.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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