„Wer hat an der Uhr gedreht?“- Von Zeigern, Ziffern und Pendeln

Sie hängen an Wänden, stehen in Schränken oder sind platziert auf Kommoden, sie gehören zu Rathäusern und zieren so manche Türme, sie blinken uns auf Displays von Computern, Smartphones oder dem modernen Backofen entgegen. Meistens tragen wir sie jedoch am Handgelenk: die Rede ist von der Uhr. Der Zeitmesser schlechthin, Garant für die Struktur des Tages und Gradmesser für Stress und Entspannung, damit in unserem immer hektischer werdenden Leben die Ordnung nicht verloren geht. Taktung ist alles. Die Uhr kann mehr. Ob die Kontrolle über die Vorhersage von fruchtbaren und weniger fruchtbaren Tagen bei der Frau, die Einhaltung der effizienten Tagesschrittanzahl für die Fitness oder der kombinierte Wecker-Monats-Jahreskalender für den verantwortungsvollen Frühaufsteher und Leistungsträger. Unseren täglichen Alarm gib uns heute!

Sehr schön hat die (zumeist unbemerkt bleibende) Uhrenabhängigkeit der Schriftsteller Christian Morgenstern (1871-1914) in seinem Gedicht „Die Korfsche Uhr“ aus dem Jahr 1892 beschrieben. Hier heißt es u.a.

Korf erfindet eine Uhr,
die mit zwei Paar Zeigern kreist
und damit nach vorn nicht nur,
sondern auch nach rückwärts weist
.“

In der Uhr offenbart sich die verborgene Dreigesichtigkeit der Zeit, die uns sonst am auffälligsten an Geburtstagen, Jubiläen, der Planung für Weihnachten oder als Bestandsaufnahme vor dem Spiegel beim Feststellen neuer Fältchen oder eines leicht vergrößerten Bauchumfangs entgegenstarrt. Vergangenheit. Zukunft. Gegenwart. Der Räderbetrieb des messbaren Weltgefüges kann so einfach sein.

Zeigt sie zwei, somit auch zehn;
zeigt sie drei, somit auch neun;
und man braucht nur hinzusehn,
um die Zeit nicht mehr zu scheun
.“

Etymologisch stammt das Wort „Uhr“ wohl vom Mittelhochdeutschen ūr(e) (Stunde) oder ōrglocke (im Althochdeutschen orlei), wahrscheinlich entlehnt aus dem Altfranzösischen (h)ōre, Lateinisch hora, Altgriechisch ὥρα/hóra (Stunde oder Zeit), Urindogermanisch *yōr-ā (verwandt mit dem Wort „Jahr“). Wichtig ist hierbei zu unterscheiden, dass zum einen eine bestimmte Stunde (bei Angabe der Uhrzeit) als auch das Messgerät für die Zeit an sich gemeint sein kann. Der haptische Stundenanzeiger wird im Lateinischen auch als hōrologium bezeichnet. „Uhr“, so wie wir das Wort heute schreiben und aussprechen, setzte sich aber erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebrauch durch.

Zeitwahrnehmung und die damit einhergehende Notwendigkeit der Zeitmessung, ob für Wanderungen, Aussaaten, Jagden, Schlachten, Rituale oder heutzutage für Meetings, Verabredungen oder Termine wie bspw. die Abgabe der Steuererklärung, ist für den Menschen essentiell. Es unterscheidet uns, wie der Philosoph Friedrich Nietzsche meint, vom Tier, denn erst durch die Zeit ist der Mensch fähig zur Erinnerung, und Erinnerung, so heißt es in seiner 1874 verfassten Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, ist die Grundbedingung des menschlichen Lebens. Das Tier lebt im Augenblick und besitzt damit weder Vergangenheit noch Zukunft. Dem gegenüber hat der Mensch durch seine Erinnerungen auch einen (gedanklichen) Zugang zur Vergangenheit, die sich in  der Gegenwart manifestiert, ohne dass eine Kontrolle möglich ist. Möglichkeit existiert lediglich bei der Wahl im Umgang mit dem gegenwärtig Vergangenen. Auf diese Weise artikuliert sich für Nietzsche Geschichte und mit ihr Kultur. (Vgl. Ebd. 2009, S. 135 ff.) Also im Grunde keine Struktur ohne Uhr, um es ein wenig überspitzt zu formulieren.

Schon bei den Alten Ägyptern finden wir denn auch die „Ur-Mutter aller Uhren“, die Sonnenuhr (auch bekannt als Schattenuhr) zur Messung saisonaler Tagesstunden. Darunter verstanden die Ägypter eine bestimmte Anzahl von Stunden, deren Länge sich abhängig von den Jahreszeiten änderte. Dass Sonnenuhren indes so ihre Tücken bei der Präzession von Zeitmessungen aufweisen, ist jüngst von mythisch-fachkundigen Augen bei einer Sonnenuhr in der Stadt Bozen (Südtirol) beobachtet worden.

© Harald Johanns (Sonnenuhr, Franziskanergasse, Bozen)

Zwei Stunden Unterschied wies die Uhr im Vergleich zur Mitteleuropäischen Zeit auf! Dabei handelt es sich aber nicht um eine falsche Zeitangabe, sondern einfach um die wahre Ortszeit (Sonnenzeit). Schon die Alten Ägypter wussten um solche Abweichungen bei Sonnenuhren und versuchten diese durch zusätzliche Verwendung von Wasseruhren oder auch Diagonalsternuhren auszugleichen, deren Stundeneinteilung auf der Bewegung von Sternbildern beruhte. Mythologisch betrachtet sind diese Sternenuhren vor allem deswegen so interessant, weil sie der Vorstellung nach den Seelen der Verstorbenen beim Himmelsaufstieg behilflich waren.

Eine noch heute erhaltene Kombination aus Sonnen- und Wasseruhr lässt sich in Athen beim sogenannten Turm der Winde bestaunen. Das Bauwerk, gewissermaßen Uhr und Wetterstation in einem, verdankt seinen Namen einerseits der achteckigen Form, die einer Windrose nachempfunden ist, andererseits den Reliefs der griechischen Windgötter, darunter u.a. Boreas (Nordwind) und Zepyhr (Westwind). Bekannt ist das Bauwerk auch unter der Bezeichnung Horologion des Andronikos. Der Name verweist auf den im 1. Jahrhundert v. Chr. lebenden Architekten Andronikos von Kyrrhos. Der Turm beherbergte ursprünglich neun Sonnenuhren. Die Wasseruhr befand sich im Inneren. Wer dieser Tage nach Halle fährt, um die dortige (alte) Sternwarte im Botanischen Garten der Martin-Luther-Universität zu besuchen, sollte dem Gebäude unbedingt einen zweiten Blick gönnen, denn der Turm der Winde stand hierfür Pate – wenn auch ohne mythologische Reliefs und ohne Sonnenuhren. Als das Gebäude im 18. Jahrhundert entstand, hatte ohnehin längst die mechanische Räderuhr ihren Siegeszug angetreten.

Nachdem im Mittalter neben Wasser- , Sand- und Sonnenuhren auch Kerzenuhren in Gebrauch waren, allerdings für die Anzeige von Stunden, Tageszeiten und (besonders wichtig für Klöster) Gebeten meistens der Glockenschlag die Zeit einteilte, begann die Geschichte der Räderuhr etwa im 14. Jahrhundert. Zumindest sind zu dieser Zeit erste Zeugnisse u.a. in Erfurt, Augsburg und Mailand nachweisbar. Vor allem in autarken Klostergebäuden und für den öffentlichen Raum war dieser Uhrentyp praktisch. Er sorgte sogar dafür, dass sich der Beruf des Uhrmachers etablierte. Allerdings besaßen die ersten Räderuhren zunächst nur einen einzigen Zeiger. Mit der Zeit (im wahrsten Sinne des Wortes) wurde die Mechanik jedoch ausgefeilter und die Uhren entsprechend kleiner, wiewohl von absoluter Präzession bei den Zeitangaben noch keine Rede sein konnte. Unter künstlerischen Aspekten hingegen sind diese frühen Uhren jedoch durchaus ein Blickfang, man nehme beispielweise die sogenannten Türmchenuhren aus dem 16. Jahrhundert.

Uhren, vornehmlich zu dekorativen Zwecken für Schränke, Tische, Kamine und Kommoden, kamen also mehr und mehr in Mode. Ab dem 17./18. Jahrhundert schlug zudem die Stunde der Pendulen (Pendeluhren). Wie der Name sagt, ist der Taktgeber ein mechanisches Pendel. Die Grundlage hierfür bildete der von Galileo Galilei (1564-1642) entdeckte Isochronismus, die Gleichförmigkeit von Schwingungen. Diese nutzte man schließlich für den Rhythmus der Uhren. Ursprünglich beobachtete Galileo das Phänomen übrigens bei Kronleuchtern. Die Länge der Aufhängung bestimmt dabei letztendlich die Schwingdauer. Je kürzer das Pendel, desto schneller, je länger das Pendel, desto langsamer. Der niederländische Astronom und Mathematiker Christiaan Huygens (1625-1695) machte sich dies bei der Konstruktion der Pendeluhr, mehr noch aber bei der Entwicklung der Unruh (Unruh-Feder-Schwingsystem) zunutze. Letztere bildete die Grundlage für die Entwicklung der Taschenuhr. Im Zuge der industriellen Revolution wurde die Uhr nicht nur Massenware, sondern auch Taktgeber moderner und postmoderner Quantität. Das mythische Damoklesschwert, das über den Köpfen von Arbeitern und Angestellten hängt, besteht aus Ziffern und Zeigern, und trotz vielfältiger Rufe nach Entschleunigung und der Hinwendung zur eigenen inneren Uhr, ist noch kein Ende des großen Vor-sich-hin-Tickens absehbar.

Dabei nutzte man Uhren früher nicht nur Zierde und als pendelnden Lebensanzeiger, sondern auch zur Geräusch-Wahrsagung. Maßgeblich dafür war der Stundenschlag. „Schlägt die Uhr statt zwölf: dreizehn, so bedeutet das […] ein schweres Unglück, das bevorsteht.“ (Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 8, Sp. 1274) Dasselbe galt für zu kurze Schläge. Die Wahrsagewirkung galt vor allem den Turmuhren. Schlagen diese zu einer besonderen Zeit unregelmäßig (Taufe, Leichenpredigt) kündigte das einen oder mehrere bevorstehende Tode an. Fielen der Schlag einer Turmuhr und Glockengeläut (konnte auch das Sterbeglöckchen sein) zusammen, konnte das sogar ein Omen für ein bevorstehendes Feuer sein. Meistens ist allerdings die Vorstellung des Sterbens präsent, da die Uhr (selbst heute noch) das Verrinnen der Lebenszeit symbolisiert. Daher sollten Uhren auch niemals herunterfallen, und im Falle des Ablebens eines Menschen sollen die Uhren in Zimmer und Haus angehalten werden, damit das Ticken die Ruhe des Toten nicht stört.

In Sagen und Märchen kommen immer wieder Verwandlungen in Uhren vor. „In Oberschlesien zeigt sich der Wassermann, wenn er die Menschen verlocken will, zuweilen als Uhr, goldene Uhr, Uhr mit goldenen Zeigern, die leuchten und sich schnell drehen, silberne Uhren an silberner Kette, die über einem Teich hängt; das sind natürliche Verwandlungen, mit deren Hilfe er sich der Opfer zu bemächtigen hofft.“ (Ebd. Sp. 1283) Auch Schätzen können als Uhren erscheinen oder sie sind Träger von Spuk. „Wenn ein Wiedergänger zu bestimmter Zeit erlöst werden muß und er findet einen, der sich dessen unterfängt, so kommt es vor, daß durch eine unbekannte Macht die Uhren verstellt oder angehalten werden, wodurch die Erlösung vereitelt wird.“ (Ebd. Sp. 1284)

Taschenuhren lassen sich u.a. auch als Wünschelruten nutzen. Verliebte wiederum können den Namen des oder der Geliebten an ein Pendel hängen oder den Namen auf die Rückseite der Pendelseite schreiben, sodass die Unruhe ihn ins Liebesnest lockt. Vorsicht allerdings beim Grimassen schneiden, hier könnte es vorkommen, dass das Gesicht zur Fratze gefriert, wenn die Uhr gerade schlägt. Und natürlich lässt auch das Ziffernblatt die eine oder andere Wahrsagerei zu. „Wenn man schlucken muß, schaut man auf die Uhr und zählt die Ziffern zusammen, auf die die Zeiger weisen; stehen beide über derselben Ziffer, dann gilt dies nur einmal. Die Zahl gibt den Buchstaben des Alphabets an, mit dem der Namen dessen beginnt, der an einen denkt.“ (Ebd. Sp. 1285 f.)

Kroch-Hochhaus mit Mondphasenuhr (hier: Anzeige des Vollmonds), Leipzig Augustusplatz

Eine besondere Uhr in form einer Kugel kann man im Übrigen in Leipzig bestaunen. Am 43 Meter hohen Kroch-Hochhaus (gelegen am Augustusplatz) prangt oberhalb einer Uhr mit goldenen Ziffern und Zeigern eine seltsam erscheinende Kugel. Mal ist sie blau. Mal ist sie golden. Mal halb und halb oder mehr goldenen oder mehr blau. Für die Antwort müsste man einen Monat lang jeden Abend in den Himmel schauen, denn die Kugel ist nicht einfach nur eine Kugel, sondern eine Uhr, welche sich permanent dreht und die Mondphasen anzeigt. Blau steht für Neumond. Gold für Vollmond. „Venedig-Touristen kommt das alles bekannt vor. Und tatsächlich diente der berühmte Torre dell’Orologio auf dem Markusplatz als Vorbild für den Leipziger Uhrturm am Augustusplatz.“ (Leipziger Geheimnisse, S. 151) Der an der Fassade prangende Spruch lautet „Omnia vincit labor“ (die Arbeit überwindet alles). Auch die Zeit?, mag man sich fragen. Und bekommt die Antwort erneut von Christian Morgenstern:

„Denn auf dieser Uhr von Korfen,
mit dem janushaften Lauf,
(dazu ward sie so entworfen):
hebt die Zeit sich selber auf.“

Zeit ist eben doch relativ ….

Ein Beitrag von Dr. Constance Timm 


Literaturhinweise:

Carlo M. Cipolla: Gezählte Zeit. Wie die mechanische Uhr das Leben veränderte. Wagenbach, Berlin 1999,

Eva Maria Bast/Heike Thissen. Leipziger Geheimnisse. Spannendes aus der Sachsenmetropole mit Kennern der Stadtgeschichte. 2. Aufl. Leipziger Volkszeitung 2018.

Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Günter
Figal (Hrsg.), Reclam: Stuttgart 2009.

Hanns Bächtold-Stäubli/Eduard Hoffmann-Krayer (Hrsg.). Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 8. Walter de Gruyter: Berlin/New York 1987.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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