Die rätselhafteste aller Zeiten ist die angehaltene Zeit

Zeit – was ist das? Und wie wird sie fassbar? Seit Jahrtausenden beschäftigten uns Fragen zum Phänomen Zeit. Für den Blog des Arbeitskreises versuchte ich meine Gedanken zum Thema „Zeit“ zu sortieren und zu verschriftlichen. In drei Kapiteln werden sie im Laufe des Jahres hier veröffentlicht.

 Das französische Unternehmen Hermés hat in diesem Jahr eine neue Armbanduhr vorgestellt: Die „Arceau Le temps suspend“ – man könnte es mit „Das Tor zur angehaltenen Zeit“ übersetzen. Durch manuelle Betätigung eines Drückers lässt sich die Zeit anhalten, beide Zeiger der Uhr bleiben dann solange stehen, bis dieser Drücker erneut betätigt wird. Danach springen die Zeiger automatisch wieder auf die jeweils aktuelle Zeit. In der Eigenbeschreibung von Hermés heißt es u.a.: „Dieses unerwartete Gespann erheitert den Betrachter und kultiviert seine Vielseitigkeit mit einem selbstbewussten Auftritt und der Möglichkeit, die Zeit anzuhalten. Im Mittelpunkt steht dabei folgendes Paradoxon: Wer die Zeit vergisst, genießt sie.“

Tatsächlich hat mich diese Beschreibung erheitert, wenngleich mir der tiefere Grund meiner Erheiterung noch nicht vollständig klar geworden ist. Doch wir haben jetzt einen Beleg dafür, dass man die Zeit anhalten kann, und diese angehaltene Zeit ist nun also auf Knopfdruck erhältlich. Ein praktisches Privileg, das in Zeiten zunehmender hektischer Beschleunigung durchaus verlockend sein dürfte. Die Zeit anhalten – ich erinnere ich mich an einen sehr langen Nachmittag in einem Café in einer kleinen Hafenstadt in Tunesien. Es war in den Neunzigern, ich war mit zwei Freunden dort für ein Gespräch verabredet. Wir hatten uns also im Café getroffen, unsere Bestellungen aufgegeben und waren in ein lebhaftes Gespräch verstrickt, sodass unbemerkt längere Zeit vergangen war, als wir – inzwischen doch hungrig geworden – nach dem Kellner riefen. Auf die Frage, ob er unsere Bestellung vielleicht vergessen habe, verneinte er entspannt lächelnd. Keinesfalls, versicherte er uns, alles sei in bester Ordnung. Wir setzten unsere Unterhaltung lange Zeit fort, nichts geschah. Als wir den Kellner irgendwann erneut darauf aufmerksam machten, dass wir bereits mehrere Stunden warteten und das Essen doch längst fertig sein müsse, antwortet er lachend, keinesfalls seien Stunden vergangen, denn er habe die Zeit angehalten, weil es ein so schöner Tag sei. Es fiel uns schwer, darauf etwas zu entgegnen, denn hatte er nicht recht? Wir saßen bequem im Schatten eines Sonnenschirms auf einer Terrasse mit Blick auf das Meer. Wir hatten keinerlei Verpflichtungen und philosophierten allein zu unserem Vergnügen. Wir stimmten letztlich also in das Gelächter des Kellners ein und begnügten uns mit Getränken.

Einen Moment, in dem alles stimmig ist, in dem wir glücklich sind, einen solchen Moment ins Unendliche ausdehnen, denn er soll nicht vergehen – wer kennt diesen Gedanken nicht? Einmal nur die Zeit anzuhalten, die unerbittlich voranschreitet, man weiß nicht wohin, man weiß nur, dass im nächsten Augenblick, das, was gerade noch ein Jetzt war, bereits Vergangenheit ist, und jenes, was gerade noch Zukunft hieß, das Gegenwärtige geworden ist. Anderes wäre uns auch nur schwer vorstellbar, jeglichem Geschehen immanent ist eine Chronologie. Die Dinge, die geschehen, laufen in einer Ereigniskette ab. Es gibt von jenem Punkt aus, den wir Jetzt oder Gegenwart nennen immer ein Bevor und – bisher jedenfalls – immer auch ein Danach. Damit existiert messbare Zeit. Zeitlosigkeit wäre also auch Ereignislosigkeit. Selbst wenn der tunesische Kellner also tatsächlich imstande gewesen wäre, die Zeit anzuhalten, wäre sie existent und nur für den Zeitraum des Wartens ins Unendliche gedehnt worden. Denn es gab ein Zuvor-wir-das-Lokal-betreten-hatten und es gab ein Danach, weil wir es am späten Abend – noch immer hungrig – wieder verlassen haben.

Davor und Danach: In der stetig ablaufenden Kette von Ereignissen, die in ihrer Gesamtheit die menschliche Geschichte bilden, wurden mehr oder weniger willkürlich Pflöcke eingeschlagen, von denen aus Zeitrechnungen einsetzen. Wir orientieren uns in der westlichen Welt am christlich inspirierten Kalendarium. Das Jahr 2025 rekurriert auf jenes Jahr, in dem Jesus von Nazareth vermutlich geboren wurde, beziehungsweise das Jahr, das man seinerzeit dafür hielt. In der islamischen Zeitrechnung haben wir aktuell das Jahr 1447, aber nach dem wesentlich älteren jüdischen Kalender befinden wir uns im Jahr 5783. Der buddhistische Kalender und die buddhistische Zeitrechnung beginnen mit dem Jahr 1 nach Buddha entsprechend dem Jahr 543 v. Chr. So sind die Buddhisten aktuell im Jahr 2566. Orientiert sich der christliche Kalender an der Sonne, so der islamische am Mond. Judentum und Buddhismus beziehen sowohl Sonne als auch Mond in ihre Berechnungen ein, der Hinduismus wiederum nur die Sonne. In Abhängigkeit von religiösen Systemen oder Herrschaftsformen etablierten sich im Laufe der Zeit verschiedene Systeme zur Zeitrechnung, die gegebenenfalls durch andere ersetzt werden können. Aber es sollte sich herausstellen, dass auch die Zeit selbst keineswegs eine unabänderliche feste Größe ist. Albert Einstein entdeckte, dass es im Universum überhaupt keine allgemein gültige Zeit gibt. Dass Zeit nicht absolut ist, sondern relativ. Zeit kann sich dehnen und strecken sich, wird gestaucht und verkürzt. Zeit ist keine feste Konstante, sondern in Bewegung, ist veränderlich, aber sie ist dabei doch stets existent. Die Möglichkeit, Zeit anzuhalten beziehungsweise extrem zu verlangsamen kennen wir aus Märchenerzählungen: An verzauberten Orten vergeht eine einzige Nacht, während in der wirklichen Welt inzwischen ein ganzes Jahrhundert vergangen ist. Ein hundertjähriger Schlaf lässt nicht altern und ob Zeit vergeht oder eben nicht, hängt von Zauberern oder Feen ab. Märchen zeichnen sich nun grundsätzlich dadurch aus, das sie in einer nicht näher beschriebenen Epoche spielen, denn in den Märchen spielt die Zeit vor allem eine symbolische Rolle. Das berühmte „Es war einmal“ führt jeweils in eine unbestimmte Vergangenheit, und konkrete Zeiträume wie „sieben Jahre“ oder „Drei Tage“ sind symbolisch zu verstehen, ebenso wie Wiederholungen, auch dabei häufig und gern drei an der Zahl.

 In Träumen hingegen sind zwar alle kalendarischen und physikalischen Gesetze außer Kraft gesetzt, doch noch die verwirrendste Traumgeschichte kennt eine Chronologie. Und war man lange der Auffassung, dass reale Zeit und die gefühlte Traumzeit völlig voneinander abweichen, hat die neuere Forschung dies widerlegt: Die Länge der Traumberichte soll bei unterschiedlichen Versuchen mit Probanden mit der Länge der Traumschlaf-Phase weitgehend übereingestimmt haben. Der Begriff „Traumzeit“ ist mir aber noch in einem ganz anderen Zusammenhang begegnet,  als ich in den 90ern des letzten Jahrhunderts ein Buch des britischen Reiseschriftstellers Bruce Chatwin las. Es heißt „Traumpfade“ und beschäftigt sich mit den Mythen der australischen Ureinwohner. In deren Überlieferungen wird von einer vorgeschichtliche Zeit berichtet, in der die Welt erschaffen wurde. Die Berge und Wege und Gewässer und Wälder und Ebenen – kurz, alles Umgebende, die Landschaft mit Pflanzen und Tieren, mit Steinen und Gewässer und sicher auch mit atmosphärischen Phänomen. Eine vorgeschichtliche Zeit, in der die Voraussetzung für eine wie auch immer beschaffene Zeitrechnung erst geschaffen wurden. Denn ohne eine Benennung der Landschaft ist auch eine Abfolge von Ereignissen nicht schilderbar. Zeit existiert nicht, wenn sie nicht durch Veränderungen und Wandlungen, eine Abfolge von Geschehnissen darstellbar und messbar wird. (und dafür bedarf es eben auch einer Namensgebung). Man kann sich diese – in der Übersetzung dann als Traumzeit bezeichnete – Schöpfungsgegenwart als stetig andauernde Gegenwart mit einer Gleichzeitigkeit aller Ereignisse vorstellen. Eine Schöpfungsgegenwart, die jedoch keinen Anfang und kein Ende hat, da es sich bei dieser Schöpfungsgegenwart offenbar um einen zeitlosen Zustand handelt. Hier kommen wir tatsächlich zu Vorstellungen von einer angehaltenen Zeit oder besser noch einer Zeitlosigkeit. Denn innerhalb des Kontinuums der Zeit gibt es keine Lücke und so kann es auch keinen Ort für einen solchen Zustand geben. Im Bereich der Zeitlosigkeit oder Traumzeit – um bei diesem Ausdruck zu bleiben – gibt es keine Aufteilungen, keine Gliederung, kein Davor und kein Danach. Alles ist in diesem einzigen Zustand zusammengefasst und gleichzeitig vorhanden.

Die Erfahrung einer solchen „angehaltenen Zeit“ findet sich jenseits der Zeitauffassung früherer Naturvölker am ehesten noch im individuellem Zeitempfinden. In intensiv erlebten Momenten, in denen man die Empfindung hat, alles sei zum Stillstand gekommen. Ebenso stark ist dann häufig der Wunsch, eben dieser Moment solle nicht enden, sondern vielmehr möchte man in dieser „Zeitlosigkeit“ verharren. Es ist das berühmte, oft zitierte „Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen: Verweile doch, du bist so schön„!, das wir aus Goethes Faust kennen. Und auch der uralte Traum vom ewigen Leben, der in neuesten Forschungen wieder eine Rolle spielt,  ist ein Traum von einem Außer-Kraft-setzen der Zeit. Denn ohne Veränderung, ohne Alterungsprozesse wären wir zeitlose Geschöpfe, die Maß und Bezug zur vergänglichen Welt verlieren würden.

 Ein Beitrag von Jörg Jacob


Jörg Jacob, 1964 in Glauchau geboren. Nach einer Ausbildung zum Polsterer war er freier Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung sowie Mitarbeiter einer Begegnungsstätte für Kunst und Kultur. 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (Abschluss 2003). Nach Veröffentlichungen von Kurzprosa in namhaften Anthologien und Zeitschriften erschien 2006 sein Romandebüt. Jacob erhielt verschiedene Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Gellert-Preis für seinen Roman Das Vineta-Riff. Seit 2010 betreut er verschiedene Projekte und Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Jörg Jacob lebt und arbeitet als freier Autor in Leipzig, zuletzt erschien Godot gießt nach/Herr Tod will leben, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2019, fluten, 2022, Aus der Stadt und über den Fluss: Zwölf Versuche über das Gehen, 2022 sowie Gefährten der Stille: Erzählung, 2024.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Die rätselhafteste aller Zeiten ist die angehaltene Zeit“

  1. Das Rätsel der Zeit, ist wahrscheinlich so alt, wie die Zeit selber. Das Wort Chronologie ist dabei sehr interessant und es erinnert mich an den orphischen Chronos, von dem sich auch Chronometer ableitet. Mit Chronometer ist dabei eine Uhr gemeint, von der wir die Zeit ablesen.

    Es ist schon etwas merkwürdig, dass wir die Zeit ablesen. Es wird seit Jahrtausenden über die Zeit diskutiert, eine allgemeingültige Definition gibt es dafür bis heute nicht.

    Wer sich für den Gott der Zeit im Rahmen der orphischen Mythologie interessiert ->

    https://www.mythologie-antike.com/t213-chronos-gott-der-zeit-aus-der-mythologie-der-orphiker

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