Heute möchten wir in Form eines Interviews unser wohl ältestes Mitglied vorstellen, die Autorin Eva Lehmann-Lilienthal aus Markkleeberg bei Leipzig. Es hat uns sehr gefreut, dass sie vor einigen Jahren erst Mitglied im Arbeitskreis geworden ist und durch ihr lebhaftes Interesse an unserer Arbeit Teil hat. Die Fragen stellte Elmar Schenkel.
Elmar Schenkel: Liebe Frau Lehmann-Lilienthal, Sie sind zwar als Lyrikerin bekannt, haben aber auch einen philosophischen Hintergrund. So waren Sie mit einem Philosophen, Günther K. Lehmann, verheiratet. Gibt es für Sie philosophische Gründe, sich mit Mythologie zu beschäftigen? Eventuell solche, die auch mit seinen Arbeiten zur Vision und Utopie zu tun haben?
Eva Lehmann-Lilienthal: Ich habe einen starken philosophischen Hintergrund, denn ich habe – genau so wie mein Mann – schon als Jugendliche die meisten Probleme, mit denen ich mich beschäftigte, in einem größeren Zusammenhang gesehen. Meinen Mann lernte ich mit 16 Jahren kennen. Wir liefen durch die Straßen des kleinen Städtchens und diskutierten laut und leidenschaftlich. Die Leute nannten uns deshalb „die zwei Philosophen“, noch bevor wir uns dessen bewusst waren. Wir haben nach dem Abi Philosophie studiert an der Karl-Marx-Universität in Leipzig, u.a. bei Ernst Bloch. Dem haben wir zu verdanken, dass wir nicht dem Dogmatismus des „Marxismus-Verschnitts“ von Stalin verfielen, der damals das gesamte Uni-Leben erfasste.
Was verbindet Sie als Dichtende mit der Mythologie?
Als Dichterin bin ich mit dem Mythos vor allem durch die Sprache verbunden. Hemingways Lehre vom „mot juste“, dem einen und einzigen, treffenden Wort, hat mich so begeistert, dass ich sie zu meinem Arbeitsprinzip machte. Sehr oft, wenn ich nicht das richtige, treffende Wort fand, suchte ich nach dem Ursprung des betreffenden oder ähnlichen Wortes und fand es oft mit einem Mythos verbunden. So ist für mich der tiefere Sinn eines Gedichtes, das, was man nicht rational erklären kann, ja oft eigentlich nicht völlig in Worten ausdrücken kann, der darin liegende Mythos.
Mythos und Dichtung sind ja wesentliche Faktoren in der Evolution. In dem Sinne, dass Phantasie ein Motor für verschiedene Bewegungen sein kann. In der heutigen politischen Lage werden diese ja oft ausgenutzt. Sehen Sie eine Gefahr in Mythen und erfundenen Geschichten?
In Mythen an und für sich sehe ich keine Gefahr; doch es kommt darauf an, wie man mit ihnen umgeht. Die Mythen der Germanen wurden von den Nazis für ihre Ideologie genutzt; und das geschieht auch heute durch die Neo-Nazis. Erfundene Geschichten dagegen können per se schon eine Gefahr sein. Denn ihr innerer Gehalt entspricht oft der Ideologie der jeweils herrschenden Klasse und wirkt dementsprechend auf die Menschen, die sie als „gute Literatur“ lesen oder gar als „wahre Geschichten“ nehmen. Erfundene Geschichten mit alternativem Gehalt können dann nicht gut sein, wenn sie die Ideale der alternativen Ideologie schematisch „konkretisieren.“
Hat der Mythos eine Rolle gespielt, als es zur „Wende“ in Deutschland kam (1989/90)?
Ja, sehr. Das Leben hatte für eine kurze Zeit die Türen weit offen gemacht für eine andere Gesellschaft als jene, die in der DDR existierte. Und zwar auch für die anderen Länder der Warschauer Vertragsstaaten und danach für die Sowjetunion selbst. Fast alle Menschen spürten, dass sich vieles ändern musste. Und zwar drängte der Mythos in verschiedene, mindestens in zwei Richtungen: Die Unterwerfung unter die BRD und damit unter deren Kapitalismus – oder eine alternative Gesellschaft, wie sie von manchen in der DDR versucht wurde, dem „wahren Sozialismus“ oder dem „demokratischen Sozialismus“, wie man es damals nannte. Der Faschismus steckte damals auch schon in den mythischen Ahnungen, aber er kommt erst heute richtig heraus. Da die Mehrzahl der Bevölkerung aus Unkenntnis der wirklichen Ökonomie des Kapitalismus nur dessen bunte Schaufenster sah, wurde in all diesen Ländern ein mehr oder weniger ausgeprägter Kapitalismus eingeführt.
Ist der Mythos so etwas wie eine Brücke zwischen dem Geistigen und Körperlichen? Dem Bildlichen und dem Abstrakten? Dem Unbewussten und Bewussten?
Ja, er kann als Brücke benutzt werden, aber er ist nicht deshalb entstanden. Sondern er geht auf Erfahrungen, Wünsche und Träume der Menschen zurück. Und er ist verbunden mit dem bis jetzt Unnennbaren – das den ganzen Kosmos durchzieht und zusammenhält. Es ist das, von dem die Astronomen und theoretischen Physiker sagen: Der Raum zwischen den Sternen ist nicht leer.
Welche Rollen spielen mythische Elemente im Alltag, in Ihrem Alltag?
Eine große Rolle. Doch da ich mich nicht wissenschaftlich mit Mythologie beschäftige, spielten mythische Elemente in meinem Alltag nur eine unbewusste Rolle. Ich denke aber, diese unbewusste Rolle spielen Mythen bei den meisten Menschen. Seit ich den Arbeitskreis „Vergleichende Mythologie“ kenne, beschäftige ich mich damit bewusster.
Haben Sie eine Beziehung auch zu Märchen?
Ja, eine große. Als ich Vorschulkind war, hat mir vor allem meine Oma Märchen erzählt und auch vorgelesen. Es waren vor allem jene, die die Gebrüder Grimm gesammelt haben. Später habe ich Märchen und Mythen (z.B. die Nibelungensage) regelrecht verschlungen.
Was ist Ihr Lieblingsmärchen, was Ihr Lieblingsmythos, und warum?
„Hänsel und Gretel“. Es ist für Kinder sofort nachvollziehbar. Für mich war besonders wichtig: Das Geschwisterleben und dass beide sich gegen existentielle Not erfolgreich zur Wehr setzten. An zweiter Stelle steht „Schneeweißchen und Rosenrot“. Das habe ich in der Oper gesehen. Mit Rosenrot habe ich mich sofort identifiziert, da sie sehr lebhaft ist und sich nicht immer an die „Regeln“ hält. Die häusliche Schneeweißchen habe ich dagegen mit meiner Schwester verbunden.
Sind Sie besonders an bestimmten Mythenkreisen interessiert? Keltisch, griechisch, germanisch, afrikanisch, japanisch oder sonst welchen Zyklen? Und warum?
Die germanische und die griechische Mythologie habe ich durch Schule und allgemeine Bildung kennengelernt. Besonders interessiert bin ich an der keltischen, afrikanischen und jüdischen Mythologie. Die keltische Mythologie interessiert mich wegen der Sprache (im Zusammenhang mit der englischen und deutschen Sprache); die afrikanische wegen ihrer kulturellen Beziehung zwischen Deutschland und Afrika; die jüdische wegen meiner eigenen Herkunft. Wegen anderer Interessen und später meiner Krankheiten habe ich mich noch zu wenig damit beschäftigt. Gelesen habe ich bis jetzt afrikanische Märchen und Geschichten.
Als Sie noch gereist sind, haben da mythische Vorstellungen eine Rolle gespielt, mythische Orte etwa?
Nein. Reisen gab es nur im Urlaub, so lange mein Mann lebte. Ansonsten Dienstreisen durch den Beruf und später wegen gesellschaftlicher Arbeit, Reisen zu wissenschaftlichen Konferenzen und Tagungen, sowie seltener zu Bekannten und Verwandten.
Ist der Mythos nicht etwas sehr Kindliches, das durch Vernunft ersetzt werden sollte?
Es sollte auf keinen Fall versucht werden, den Mythos durch Vernunft zu ersetzen. Denn das ist nicht möglich, er würde dadurch verfälscht werden. Der Mythos ist vor allem durch das Gefühl erfassbar; er ist deshalb auch sprachlich nie vollständig darstellbar. (Die Schau kann dabei eine Rolle spielen; man kann sie eventuell als ein „sehr intensives Erahnen“ bezeichnen.) Doch dem Kindlichen kann man den Mythos zuordnen. Allerdings nicht jenem Kindlichen, wie es von oberflächlichen Erwachsenen verstanden wird, die denken, Kinder seien vor allem lustig und fröhlich und ihr Spielen sei etwas Leichtes und Heiteres. Wahr ist: Das Spiel von Kindern ist eine ernsthafte Sache, denn dadurch erkennen sie die Welt und erobern sich ihre Welt. Die „Kindheit“ ist daher auch eine selbständige Periode im menschlichen Leben, mehr als nur die „Vorbereitung auf das Erwachsensein“. Es gehört zum primären Wesen des Kindlichen, die Welt mit allen Sinnen zu erfassen; durch Hören, Tasten, Fühlen, Schmecken und ein nicht sagbares Gefühl. Diese Art von Kindlichkeit besitzen alle Vorschulkinder, sofern sie nicht psychisch gestört sind, sowie all jene Erwachsenen, die „sich noch etwas Kindliches bewahrt“ haben. Das sind alle Künstler und kreativen Wissenschaftler sowie Menschen mit solchen Anlagen.
Sehen Sie den Mythos im Alter anders als früher?
Ja, ich habe erkannt, dass er wichtig ist für mich und mit wahrer Dichtung und Philosophie verbunden ist.
Können Mythen die Menschen retten oder in Gefahr bringen?
Sie können beides, je nachdem, wie die Menschen bzw. eine bestimmte Menschengruppe oder ein bestimmtes Land damit umgehen. Aber per se sind sie im Grunde keines von Beidem, denn sie missionieren nicht und werten nicht; sie sind der innerste, unsagbarste Teil des menschlichen Lebens.
Zurück zu Ihrer Lyrik: Haben Sie mythische Motive verarbeitet? Welche Rolle spielt der Mythos für Ihre Sprache?
Mythische Motive habe ich bewusst nur ein Mal verarbeitet, in „Der Moloch“ (mythische Figur aus der jüdischen Mythologie; ein Ungeheuer, das alles frisst, was ihm in den Weg kommt.) Doch unbewusst wurde ich in vielen Fällen vom Mythos regelrecht getrieben, ein bestimmtes Gedicht zu schreiben. Letztlich hat fast jedes meiner Gedichte einen mythischen Aspekt; denn vor allem habe ich es geschrieben, um wenigstens einen Hauch des Unsagbaren, das zwischen den Menschen sowie zwischen ihnen und dem Kosmos weht, zu erfahren.
Für meine Sprache spielt der Mythos eine große Rolle. Wenn ich das „mot juste“ suche, gerate ich oft bis zu dessen Ursprung (soweit bekannt) und finde in dem Zusammenhang oft das richtige, treffende Wort. Trotzdem habe ich die Ahnung, dass der Mythos nicht erst mit der Sprache entstanden ist, sondern vorsprachlicher Natur ist. Und umgekehrt bildete die Menschheit ihre Sprache auch deshalb aus, um sich durch Artikulation dem anzunähern, das sie als Mythos im Zusammenhang mit einem bestimmten Gegenstand oder Ereignis erahnen. Trotzdem kann man sich mit der Sprache, auch wenn sie sehr poetisch ist, dem Mythischen nur annähern. Am besten geht es wohl mit der Musik. Ansonsten spielt sich das Erlebnis des Mythischen beim Menschen nur im Kopf ab, jenseits aller sonst bekannten Ausdrucksweisen (Tische tanzen, Stühlerücken, Erscheinen von Toten leibhaftig oder ihrer Stimme usw.).
Liebe Frau Lehmann, herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Zur Person:
Dr. Eva Lehmann, schreibt als Autorin unter dem Namen Eva Lehmann-Lilienthal. Geboren 1931 in Leipzig, lebt jetzt in Markkleeberg. Studium der Philosophie (unter anderem bei Ernst Bloch), Psychologie und Politische Ökonomie, Promotion. Arbeitete als Lehrerin für Philosophie sowie in Kulturmanagement und Kultursoziologie. Ab 1961 schreibt sie – mit Unterbrechungen – Lyrik, satirische Kurzgeschichten, Glossen, Erzählungen und literarisch-philosophische Essays. Lesungen, literarische Publikationen in Anthologien und Zeitschriften sowie in Ausstellungen und Katalogen der GEDOK Sachsen. Gedichte u.a. in Das Gedicht, Czernik Verlag, Edition 2009; lyrische Kurzprosa in: Sehnsucht nach den Bergen, AVIVA-Verlag 2008; Gedichtbuch: Lebensräume, Leipzig 2018. Mitglied der GEDOK-Gruppe Leipzig/Sachsen e.V. Isolde-Hamm-Preisträgerin 2018.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.



„Ist der Mythos nicht etwas sehr Kindliches, das durch Vernunft ersetzt werden sollt?“
Die Frage kann nur provokant gemeint gewesen sein von Elmar Schenkel. Die Antwort von Frau Dr. Lehmann-Lilienthal ist alternativlos.
Sie kann nur „Nein“ lauten. Denn was ist Vernunft? Gibt es überhaupt so etwas wie eine objektive Vernunft? Wäre die nicht selbst schon ein Mythos? Waren nicht alle späteren Mythen Anfangs von einer vermeintlichen Ratio geprägt, die sich später als Unvernunft erwies?
Schon der Versuch, Mythen durch Vernunft zu ersetzen, führte zwangsläufig wieder nur zur Bildung neuer Mythen.
Man denke nur an das, was wir gegenwärtig in Deutschland Demokratie, „Herrschaft des Volkes“ nennen. Künftige Generationen werden sagen, unsere von der rechtsstaatlichen Belangung ausgeschlossenen, weil im Amt nicht für Pfusch und Steuerverschwendung haftbaren Politiker verkauften uns, eher schlecht als recht, die herrschende Moneykratie, gepaart mit dem zugunsten des Geldes ausgehöhlten Rechtsstaat, aden Mythos von Demokratie und Rechtsstaalichkeit. Insofern ist selbst unsere moderne Welt durch und durch von Mythen geprägt, statt von Vernunft.
Aber genau so funktioniert der Mythos seit ewigen Zeiten. Er schafft einerseits Gemeinsinn, Geborgenheit, Zusammengehörigkeitsgefühl, bis hinein in die kleinste Zelle der Gesellschaft, die Familie. Mythologie ist der Ursprung jeglicher Zivilisation.
Andererseits sind Mythen immer individuell geprägt, werden schon geschlechtsspezifisch verschieden wahrgenommen und weitervermittelt, verändern sich mit wandelndem Wissen und neuen Erfahrungen von Generation zu Generation. Sie bedingen also auch gemeinschaftlichen Bruch, Veränderung und damit oft auch Fortschritt.
So darf man wohl annehmen, dass die Menschen im Jungpaläolithikum zw. etwa 12-30.000 v. Chr. zwar gemeinschaftliche, kosmologisch geprägte Weltbilder besaßen. Es scheint dennoch so, dass diese von Frauen und Männern ganz unterschiedlich wahrgenommen wurden oder zumindest nach beiden Geschlechtern getrennte Bestandteile eines gemeinsamen Weltbildes waren. So jedenfalls ließe sich erklären, dass diese Zeit sowohl von genialen Wandbildern der damaligen Tierwelt in den altsteinzeitlichen Höhlen geprägt war, als auch von den sogenannten Venusfigurinen. Erstere vermitteln den Kosmos als Reich der Tier- und Ahnengeister, die dort u. a. die kosmisch regelhaften Abläufe der Jahreszeiten durch Tierwanderungen analog zu den jahreszeitlich sichtbaren Sternbildern und die Jagd der Ahnengeister manifestierten.
Letztere scheinen eine dem jedoch übergeordnete kosmische Weiblichkeit zu vermitteln, der alle irdische Fruchtbarkeit, vielleicht alles Sein an sich entsprang. Was vermutlich so selbstverständlich für damalige Frauen den männlich geprägten Teil des Kosmos einschloss, wie alle Männer dem Schoß einer Frau entsprungen sind und von Müttern gesäugt und aufgezogen wurden. Über ihre Mythen aber verbanden sich die Mütter mit den Söhnen und so auch mit den Männern, die ihre Mythen erst als Heranwachsende oder Erwachsene selbst zu prägen vermochten bzw in der Lage waren, die Mythen der Männer zu begreifen.
Wir kennen praktisch seither keine Periode menschlicher Entwicklung ohne Mythos. Für eine lebenswerte Zukunft braucht es weit vorausschauende Visionen, zu denen derzeit in Eurpa kaum jemand den nötigen oder den nötigen visionären Weitblick zu haben scheint, weder unter deutschen Philosophen noch in der Politikerriege.
Ist „Vision “ aber nicht bereits das Futur von „Mythos“?
„Mythos und Dichtung sind ja wesentliche Faktoren in der Evolution. In dem Sinne, dass Phantasie ein Motor für verschiedene Bewegungen sein kann“
Phantasie (Fantasie) leitet sich von Phantasos ab und als Gegensatz zum Mythos wird häufig der Begriff Logos genannt. Ich denke jedoch, dass man mit der Vernunft nicht weit kommt, wenn man diese Welt erklären will ->
https://www.mythologie-antike.com/t305-phantasos-mythologie-traumgott-mit-grosser-macht