Die Bestie des Gévaudan

Von Ende Juni 1764 bis Mitte Juni 1767, gut 20 Jahre, bevor die Französische Revolution den Absolutismus – das Ancien Régime – hinwegfegte, wurden die am Südabfall des Massif Central gelegene Grafschaft Gévaudan und Teile der nördlich angrenzenden Auvergne von einem Untier heimgesucht, dessen Attacken etwa hundert Menschen zum Opfer fielen, zumeist Kinder, Jugendliche und Frauen. Als La Bête de Gévaudan, die Bestie des Gévaudan, erlangte es sehr bald schreckliche Berühmtheit über die betroffenen Regionen hinaus.

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Der Donnervogel

Der Donnervogel ist eines der wenigen mythologischen Elemente, das bei nahezu allen indianischen Völkern Nordamerikas zu finden ist. Das Fabelwesen wird mit einem gewaltigen Vogel assoziiert. Es heißt, dass die Spannweite seiner Flügel die Länge von zwei Kanus umfasst. Der Donnervogel ist so groß und stark, dass er mit Leichtigkeit einen Wal in seinen Fängen forttragen kann. Mit dem Schlag seiner Flügel löst er Stürme aus und ballt Wolken zusammen. Das Geräusch seines Flügelschlags verursacht Donner und aus seinen Augen schießen Blitze. Auf Totempfählen und anderen bildlichen Darstellungen indianischer Künstler wird er vielfarbig gezeigt, manchmal mit zwei gedrehten Hörnern auf dem Kopf und einem zahnbewehrten Schnabel.

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Das Holi-Fest: Farben, die um die Welt gehen

Der Name scheint Programm: Wer denkt nicht an holiday oder holy? Vielleicht auch an holly (Holunder) und Frau Holle. Seit einigen Jahren wird das indische Fest heftig gefeiert, auch außerhalb Indiens. Von Mai bis August zieht die Farbshow von Stuttgart bis Hamburg, von Mannheim bis Berlin. Die Eventkultur globalisiert auch lokale Feste und macht sie zu Ereignissen außerhalb der Ursprungskulturen. Dabei werden Kontexte ausgehebelt und Symbole neu besetzt und umkodiert.

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Warum Mythologie?

Nachdem ich in vielen kleinen Gesprächen die sehr freundliche Bekanntschaft des Arbeitskreises zur Jubiläumsfeier im Januar 2020 gemacht hatte, wurde mir die Möglichkeit geboten, auch an seinem Blog auf der Homepage mitzuarbeiten. Darüber freute ich mich sehr, worauf sich aber auch sogleich die Frage anschloss: Worüber soll ich eigentlich schreiben? Mein Interesse an Mythen und Mythologie wurde schon in der Jugend geweckt, hielt über die Jahre des Studiums und danach an und tut dies auch nach wie vor. Entsprechend ist – um eine Formulierung Cassirers aufzugreifen – „die verwirrendste Tatsache nicht der Mangel, sondern der Überfluss” (Cassirer 1949, S. 8) des möglichen Themenmaterials und auch der möglichen Zugriffsweisen, wie sie sich in fortlaufender Lektüre und Nachdenken erschlossen haben. Nach einem Blick in meine Magisterarbeit über den Mythos bei eben zitierten Ernst Cassirer und eingedenk mancher Gespräche mit Freunden und Kollegen, entschloss ich mich endlich dazu, mich in meinem ersten Beitrag mit einer recht allgemeinen Frage auseinanderzusetzen: Warum eigentlich Mythologie?

Der Mythos Seuche oder: Die Epidemie in der Mythologie

Während uns gerade ein Phänomen und vielleicht schon ein Mythos namens Coronavirus in seinen mephistophelischen Fängen hält und eine goethianische Entschleunigung des gesamten gesellschaftlichen Lebens bewirkt, überschlagen sich Politiker und die sie beratenden Wissenschaftler und Mediziner in einer veloziferischen Orgie von Maßnahmen. Ohne selbst innezuhalten und zu denken, zu reflektieren, so scheint es manchmal. Gefangen in einer weltweiten Dynamik wird die Pandemie eines Atemwegserkrankungen auslösenden Virus, wie sie uns jährlich in Form der Influenza begegnet, zu einer Pandemie der Bewusstseins- und Gesellschaftsveränderung.

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Der Mythos in den Zeiten von Corona – An die Leser unseres Blogs

Jeder Anruf enthält Geschichten heute. Jeder weiß etwas anderes, kennt Fälle, berichtet von Nachbarn, Freunden, von sich selbst, aus der Zeitung, aus dem Internet, kennt jenes Gerücht, diese Zahl. Noch nie ist unserer Generation so deutlich geworden, wie wichtig das Erzählen für uns Menschen ist. So ist es in anderen Seuchenzeiten gewesen, so war es in den Kriegen, in den Umwälzungen von der Französischen bis zur Friedlichen Revolution. Wir stellen fest, dass wir auf solche Erzählungen angewiesen sind: sie helfen uns zur Orientierung, sie trösten oder regen auf, sie lenken ab und unterhalten.

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"Beschreiben nützt nichts, ansehen." – Der Mythos Nofretete

“Lebensgroße bemalte Büste der Königin, 47 Zentimeter hoch. Mit der oben gerade abgeschnittenen blauen Perücke, die auf halber Höhe noch ein umgelegtes Band hat. Farben wie eben aufgelegt. Arbeit ganz hervorragend. Beschreiben nützt nichts, ansehen.” (Tyldesley, S. 140)

Die Sätze, die der deutsche Ägyptologe Ludwig Borchardt in seinem Grabungstagebuch von 1912/13 notierte, klingen präzise und nüchtern angesichts der Tatsache, dass es ihm gelungen war, einen der bedeutendsten Funde der ägyptischen Amarna-Zeit zu entdecken. Natürlich war er sich zu diesem Zeitpunkt des Hypes, den der mit bemaltem Gips überzogene Kalkstein im christlichen Abendland auslösen sollte, nicht bewusst. Ein Hype, der bis heute nichts an Intensität verloren hat und Künstler, Bewunderer und Schönheitsfetischisten gleichermaßen in seinen Bann schlägt.

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"So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe …" – Der mythisch-literarische Jahresrückblick

Liebe Leserinnen und Leser des MYTHO-Blogs,

erneut geht ein Jahr mit allzu schnellen Schritten dem Ende entgegen. Und wie immer waren die vergangenen Monate geprägt von einem bekannten und allzu menschlichen Auf und Ab. Das Team vom MYTHO-Blog bedankt sich herzlich für Ihr Interesse an unseren Artikeln und unseren Themen. Wir sind überwältigt vom Zuspruch, den wir erfahren, und freuen uns darauf, Sie auch im nächsten Jahr allfreitaglich mit mythischen, literarischen und kulturellen Neuigkeiten zu versorgen.

2020 dreht sich in unserem Jahresthema alles um das 25-jährige Jubiläum des Arbeitskreises und um Fabelwesen. Dazu werden wir mit kleinen Beiträgen auch regelmäßig in unserem “Bestiarium” informieren, wo wir fantastische Wesen aus aller Welt und aus allen Zeiten, vom Pegasus bis zur Meerjungfrau und vom Riesen bis zum Cyborg, vorstellen.

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"Ich bin Circe" – Weibliche Irrfahrten durch die Griechische Mythologie

Fast jeder kennt die Irrfahrten des Odysseus, von denen der griechische Dichter Homer in seiner “Odyssee” berichtet. Gemeinsam mit der “Ilias” gehört das Epos sowohl zu den ältesten als auch zu den berühmtesten Dichtungen der abendländischen Literatur. Folgt man der Poetik des Philosophen Aristoteles, ist der Inhalt schnell erzählt: “Jemand weilt viele Jahre in der Fremde, wird ständig von Poseidon überwacht und ist ganz allein; bei ihm zu Hause steht es so, daß Freier seinen Besitz verzehren und seinem Sohn nachstellen. Er kehrt nach schweren Bedrängnissen zurück und gibt sich einigen Personen zu erkennen; er fällt über seine Feinde her, bleibt selbst unversehrt und vernichtet die Feinde”. (Aristoteles, Poetik, 17)

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Von Bildern und Mythen: Die schaffende Galatea

Die Ausstellung “Die schaffende Galatea. Frauen sehen Frauen“, die in der Kunsthalle “Talstrasse” in Halle (Saale) zwischen dem 13. Juli und dem 13. Oktober 2019 zu sehen war, wurde als Antwort auf heutige Geschlechterkonflikte im Rahmen der letzten 100 Jahre konzipiert.

Dorothea Maetzel-Johannsen, Das kranke Mädchen, 1919, Öl auf Leinwand, Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf, Schleswig
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Maria Magdalena – Heilige, Hure, Apostelin der Apostel

Sie stammte aus Magdala (hebräisch: Migdal), einer Stadt nahe des Sees Genezareth, war eine enge Vertraute von Jesus und ist eine biblische Figur, die ihresgleichen sucht. Neben anderen Frauen aus der Gefolgschaft Jesu blieb sie bei ihm bis zum Ende. Sie war eine der wichtigsten Zeugen der Auferstehung und trug die Botschaft zu den männlichen Jüngern. Die Rede ist von Maria Magdalena und ihre Geschichte ist vielschichtig, steinig und turbulent.

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Herzen “Im Stein” – Von Liebe, Sex und Träumen

“Aber ich mag die Nacht. Ja. Man ist irgendwie auf der anderen Seite. Auch wenn das komisch klingt jetzt. Was Besonderes. Nachtarbeiter. Wir sind mit der Stille verbündet. Ich denke manchmal, dass wir alle Schlafwandler sind.”

(Clemens Meyer, Im Stein)

“Im Herzen froh, stieg ich bis zu des Berges Stelle,
Von der die Stadt sich voll dem Blick erschließt,
Spital, Bordell, Gefängnis, Fegefeuer, Hölle,
Wo alles Ungeheure so wie eine Blume sprießt.”

(Charles Baudelaire, Der Spleen von Paris)

Gepolsterte Sitzbänke. Holzstühle. Ledersessel. Das Licht von Edison-Glühbirnen taucht den von Trennwänden geteilten Raum in Dämmerung. Musik dudelt aus unsichtbaren Lautsprechern. Wärme. Das Echo von Gesprächen. Wind hat sich verirrt. Es ist Abend. Und alles scheint möglich. Die perfekte Atmosphäre zwischen Sein und Nichtsein, Realität und Traum und Gedanken, für die der Tag zu leer ist. Manches kann nur die Nacht offenbaren.

Das Literaturcafé im Haus des Buches Leipzig ist fast bis auf den letzten Platz besetzt an einem Donnerstagabend, der nicht mehr ganz dem Sommer, aber auch noch nicht vollständig dem Herbst gehört, sondern irgendwie im Dazwischen liegt. Und eben dieses Dazwischen ist es denn auch, das den Abend durchzieht. Der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer ist zu Gast und liest aus seinem 2013 im S. Fischer Verlag erschienenen und 2014 mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichneten Roman “Im Stein”. Es geht um käufliche Liebe, Nachtarbeiter, Macht, Geld, Abgrund, die Zukunft und die Vergangenheit, das Hier und das Jetzt. Ein Gesellschaftsroman, der den Leser in eine Parallelgesellschaft führt und dabei zwangsläufig mit der eigenen Angst, der eigenen Schuld, der eigenen Gier, der eigenen Lust, dem eigenen Tod konfrontiert und das auf eine Weise, die mal direkt, mal grob, mal brutal, mal hoffnungsvoll, mal ernüchternd, mal hinterfragend, mal schlüpfrig, aber ganz sicher mythisch und vor allem poetisch ist. Wobei sich in all den seidenen dunklen Fäden, die mich beim Lesen an ein Spiel von Schattenfiguren erinnert haben, unweigerlich die Frage stellt: Und was ist mit der Liebe in all den Bewegungen, den Gedanken, Stimmen und Verwicklungen? Mr. Orpheus sucht Eurydike. Doch Eurydike lacht und lässt den Geldbeutel klimpern.

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“Wir haben keine Mythologie …

Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.” (Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie)

Es sei Zeit für eine “neue Mythologie” postulierte der Philosoph, Schriftsteller und Altphilologe Friedrich Schlegel (1772-1829) in seiner 1800 erschienenen “Rede über die Mythologie”, die Teil des “Gespräch[s] über die Poesie” ist, eine Mythologie, die es verstünde, “eine alle Schichten der Gesellschaft verbindende geistige Kultur zu realisieren” (Stolzenberg, S. 73 ff.) und dabei die Poesie nicht nur als Mittel zum Zweck erkläre, sondern als höchste Instanz und Ausdrucksform des Realismus. “Die Mythologie ist ein solches Kunstwerk der Natur. In ihrem Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr inneres Leben, ihre Methode” (Schlegel, Rede. S. 174). In der Mythologie also, fließt alles zusammen. Die Frühromantik suchte nach einer Mythologie, die den philosophischen Reflexionsstand der Gegenwart veranschaulichte. Das, was die Natur und den Menschen antreibt, sollte ästhetisch greifbar gemacht werden. Eine utopische, wenn auch verständliche Sinnsuche, bedenkt man, dass mit der Aufklärung und dem rasanten Aufstieg der Naturwissenschaften das “Alte”, in dem sich vor allem die Religion verankert fand, zunehmend an Bedeutung verlor. Die Mythologie als Brücke also sollte es sein, als moderne Memoria und als Wegbereiterin des “Neuen”.

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Hinter der Maske – Die vielen Gesichter des Phantoms der Oper

Die Pariser Oper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Theater wird von einer schattenhaften Gestalt heimgesucht, welche das abergläubische Theatervolk „Das Phantom der Oper“ nennt. An diesem Punkt setzt das vermutlich erfolgreichste Musical aller Zeiten an.

Es erzählt die Geschichte der jungen Sängerin Christine Daaé, deren unsichtbarer Gesangslehrer, ihr „Engel der Muse“ (im Englischen Angel of Music), sich als das berühmt-berüchtigte Phantom der Oper entpuppt. Dieser ist jedoch weder unsichtbar noch körperlos, sondern ein geheimnisvoll maskierter Mann von musikalischem und technischem Genie. Und unsterblich in Christine Daaé verliebt. Als der junge Raoul, Vicomte de Chagny, ein Kindheitsfreund Christines, die Gönnerschaft für die Oper übernimmt, spitzt sich eine dramatische Dreiecksbeziehung zu, die nur tragisch enden kann. Ein bildgewaltiges Werk über Liebe, Hass und die Abgründe des Menschlichen.

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Person und Mythos – Die heilige Elisabeth von Thüringen

“Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Dies ist die Lebensbeschreibung und die Legende der gottseligen St. Elisabeth, der Tochter des edlen Königs von Ungarn, die nach Gottes Willen und Fügung mit dem edlen Fürsten Landgraf Ludwig von Thüringen vermählt wurde.” (Leben und Legende, S. 7)

Mit diesen Worten beginnt der Dominikaner Dietrich von Apolda (vermutlich 1230-1302) seine Vita, welche zwischen 1289 und 1291 entstand: die Vita der heiligen Elisabeth von Thüringen. Diese schillernde Gestalt des Mittelalters, heilige Landespatronin von Thüringen und Hessen, erfährt hier eine Aufarbeitung im Sinne von “Leben und Legende”: neben den Fakten finden sich viel Erzählstoff und Geschichten um die Person Elisabeth von Thüringen, die zur Bildung eines unverkennbaren Mythos führten.

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“Die Erde steht offen”: Geister, Tote und der heilige Valentin

Die Welt ist rot und besteht aus Herzen. Dieser Eindruck zwingt sich einem unmittelbar auf, schaut man dieser Tage ins private Mail-Postfach, wo sich die Werbungen tummeln. Dasselbe gilt für den Marsch durch Einkaufspassagen oder – der Konsumapathie zum Trotz – für den Besuch von Cafés, Drogerien, Kaufhäusern. Von den tausenden um tausenden Internetseiten ganz zu schweigen. Herzen. Bärchen. Rosen. Schokolade. Kissen. Kitsch. Es ist überall. Und wir ahnen es: Der Valentinstag steht bevor. Der Tag der Verliebten, an dem man sich besonders lieb hat (oder lieb haben sollte), was für die restlichen 364 Tage des Jahres hoffentlich genauso gilt.

Dabei ist es um den Festtag des heiligen Valentin, der am 14. Februar begangen wird, nicht gar so romantisch bestellt, zumindest nicht bis ins 14. Jahrhundert. Denn erst im Spätmittelalter erkor man den Tag, den Papst Gelasius I. im Jahre 496 offiziell als Gedenktag eingeführt hatte, als geeignet für das Fest der höfischen (und später der romantischen) Liebe. Die Süßigkeiten, Blumen und Liebesbekundungen sind sogar erst seit dem 18. Jahrhundert in Gebrauch. Auch begann um diese Zeit die Tradition, dem oder der Liebsten kleine Grußgarten zu senden, die sogenannten “Valentines”. Sogar Schlüssel erfreuten sich großer Beliebtheit, symbolisieren sie doch das Aufschließen des Herzens. Sogar an Kinder wurden sie verschenkt. Allerdings nur indirekt als Liebesbeweis, denn man sagte Schlüsseln nach, sie könnten die “Valentins-Krankheit” abhalten. Damit war die Epilepsie gemeint, denn der heilige Valentin von Terni (3. Jahrhundert n. Chr.) wurde bei Krankheiten (allen voran der benannten “Fallsucht”), um Beistand angerufen.

Allerdings war eben dieser Valentin nicht der einzige Valentin oder Valentinus. So gab es noch einen Valentin von Rom. Dieser war Priester und erlitt um 269 n. Chr. eben dort den Märtyrertod. Sein Begräbnisort, die Kirche San Valentino in Rom, galt bis zum Ende des Mittelalters als wichtiger Wallfahrtsort. Der bereits erwähnte Valentin von Terni wiederum war Bischof und erlitt das Martyrium um 273 n. Chr., nachdem er Kranke geheilt und christliche Taufen vollzogen hatte. Es wurde lange vermutet, dass es sich bei beiden um ein und dieselbe Person gehandelt haben könnte, unabhängig davon, dass in verschiedenen Kirchen Roms oder in Terni Reliquien von ihnen aufbewahrt und verehrt werden. Der endgültige Beweis darüber steht allerdings noch aus. Zudem erwähnt die “Katholische Enzyklopädie”, ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts publiziertes Nachschlagewerk zum katholischen Glauben, einen dritten Valentin, der angeblich in Afrika das Martyrium erlitt und über den ansonsten nicht viel bekannt ist.

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Der Mythos von Liebe und Tod, oder: Die drei Rätsel der Prinzessin Turandot

“Wer den Gong ertönen läßt,
dem erscheinet sie sofort!
Weiß wie Jade,
kalt wie Stahl:
das ist die schöne Turandot!”
(Turandot, Giacomo Puccini, Libretto)

Als der italienische Komponist Giacomo Puccini im Jahr 1920 zusammen mit dem Liberettisten Guiseppe Adami und dem Dramaturgen Renato Simoni über dem Stoff seiner sechs Jahre später uraufgeführten Oper “Turandot” zu brüten begann, schrieb er Letzterem geradezu hoffnungsvoll: “machen wir ein Märchen, gefiltert durch unser modernes Gehirn!” Das Märchen lag dem Kreativ-Trio zu dieser Zeit längst vor, u. a. in Form des Theaterstücks “Turandot” von Friedrich Schiller (1802 uraufgeführt), welches auf einer Vorlage des italienischen Theaterdichters Carlo Gozzi aus dem Jahr 1762 beruhte. Darüber hinaus war dem Stoff bereits eine Reihe von Vertonungen vorausgegangen. Franz Seraph Destouches, Carl Maria von Weber, Antonia Bazzini sind nur einige der Namen, die sich der Geschichte annahmen. Daher war sich Puccini unsicher, auf welche Weise er den bereits bekannten Stoff zum Leben erwecken sollte. Am ehesten schien ihm dies über die Psychologie der Figuren möglich, mehr noch über die Gefühle. “Sie müssen das Letzte an Gefühl und Rührung herausholen … und sie können die rechten Verse finden!”, schreibt er an Adami. “[Der] Liebesausbruch muss wie ein leuchtender Meteorstein unter die rufende Volksmenge fallen, die mit gespannten Nerven … das Fluidum der Liebe begeistert aufnimmt.”

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Mythische Eruptionen: Über Götter, Märchen und Trickster

Ein Autorennachmittag mit der edition vulcanus

Welcher Verlag bringt Bücher über Schufte und Schelme heraus oder widmet sich den griechischen und germanischen Göttern? Interessiert sich für Tolkien, den Mythos der Montagsdemonstrationen ebenso wie für die vier Elemente, die Nacht, den Krieg und die Kindheit? Ganz klar! Es kann nur die edition vulcanus sein.

Der Leipziger Verlag, der im Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie angesiedelt ist, hat in den etwa zwanzig Jahren seines Bestehens achtundzwanzig Titel herausgebracht. An diesem Nachmittag werden mehrere Autorinnen und Autoren (u. a. Ricarda Lukas, Christoph Sorger, Reiner Tetzner, Constance Timm, Maren Uhlig) kurze Texte aus ihren Werken lesen und mit Interessierten ins Gespräch kommen.

Moderation: Elmar Schenkel

Eine Veranstaltung im Rahmen von “Leipzig Liest” in Kooperation mit dem Budde-Haus Leipzig

Was ist Liebe? – Eine mythische und literarische Einführung

Wenn wir von Liebe sprechen, verbinden wir mit ihr das intensive Gefühl von Zuneigung, Geborgenheit, Aufgehobensein, Verbundenheit, das sich im menschlich-emotionalen Erklärungskanon nicht mehr steigern lässt. “Es ist was es ist sagt die Liebe” in Erich Fried’s (1921-1988) bekanntem Gedicht und würde man eintausend Menschen darüber befragen, würde man wohl eintausend verschiedene Antworten erhalten. Denn Liebe ist nicht nur der romantische Höhepunkt jeder Paarbeziehung, so wie sie in Medien, Dichtung, Romanen, Liedern oder Kunst im Regelfall proklamiert wird. Liebe kann sich auch auf Gruppen beziehen, auf die Familie, Geschwister, Freunde, zu Tieren, Natur etc. Es gibt kein Limit für Liebe.

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Lügen, Tricks und Todesschüsse. Odysseus, der etwas andere Held

Trickster sind eine paradoxe Sippschaft. Mythische Wesen, die irgendwie Götter sind, andererseits aber auch wieder außerhalb der Götterwelt stehen, die in Menschen- und Tiergestalt auftreten, aber auch ihre Erscheinungsform ändern können. (Mit-)Schöpfer und Ruhestörer, Kulturbringer und Feinde jeder Ordnung, Schelme und Schurken, hilfreich und zugleich gefährlich, klug bis zur äußersten Raffinesse und dann wieder so überschlau, dass sie über die eigenen Füße stolpern und am Ende als betrogene Betrüger dastehen. Im späten 19. Jahrhundert sind sie als Typus in den Mythologien nordamerikanischer Indianervölker sozusagen entdeckt worden und haben ihre Bezeichnung erhalten: “Trickster”, was im Englischen Schwindler, Gauner, Schelm usw. bedeutet. Seitdem haben sich Ethnologen und Religionswissenschaftler bemüht, sie zu klassifizieren und zu definieren. Mit dem Ergebnis, dass sie in keine Kategorie passen. Dafür aber hat man auch in den überlieferten Vorstellungswelten anderer Kontinente mehr und mehr Trickster-Figuren ausfindig gemacht – auch außerhalb rein mythologischer Kontexte. Es handelt sich also um ein universales Phänomen von außerordentlicher Bandbreite. Der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie hat diesem unter dem Titel “Schöpfer, Schelm und Schurke – Der Trickster im mythologischen Zwielicht” (2018) eine eigene Publikation gewidmet.

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Zwischen Angst und Hoffnung: Der künstliche Mensch in Mythos und Science-Fiction

Stellen Sie sich vor: Ihr Wissen, Ihre Gedanken, Ihre Meinungen und Ansichten, Ihre Träume und Vorstellungen,  ja sogar Ihre Gefühle – also alles, was Sie sind und was Sie ausmacht, wäre auf einer Disc gespeichert, die kaum größer ist als die Speicherkarte einer Digitalkamera. Ein Stick für das Backup Ihres Selbst. Sie könnten den Körper wechseln, wann und wie Sie es wollten. Nie wieder Krankheiten. Nie wieder gebrochene Knochen. Nie wieder Angst vor dem Tod. Sie wären unsterblich. Geht nicht, sagen Sie? Doch, sage ich. Die Serie “Altered Carbon” (Netflix, 2018), basierend auf dem gleichnamigen Roman von Richard Morgan, stellt “das Unsterblichkeitsprogramm” in der dystopischen Welt des 24. Jahrhunderts vor und outet sich dabei als ein Hybrid aus Blade Runner und Ghost in the Shell. Im Mittelpunkt stehen dabei die sogenannten “Meths” (in Anspielung auf Methusalem, den Großvater Noahs, der dem Alten Testament zufolge 969 Jahre alt geworden sein soll). Durch den Kauf von Körpern oder mit Hilfe von Klonen verlängern sie ihr Dasein über Jahrhunderte hinweg. Doch das ewige Leben hat sie skrupellos gemacht, vergnügungssüchtig und abgestumpft gegenüber dem Leben. Den Meths gegenüber stehen all jene Menschen, die sich entweder keine oder nur standardisierte neue “Körper” leisten können. Manche müssen mit dem Vorlieb nehmen, was sie bekommen. Andere lehnen einen neuen Leib aus religiösen Gründen ab und verbringen die Ewigkeit gefangen in immer wiederkehrenden Träumen oder in einer holografisch erzeugten Welt. “Altered Carbon” ist Science-Fiction. Krimi. Und ein Stück weit Philosophie. Was ist der Mensch? Was ist Seele? Was ist Körper? Und was davon ist wichtiger? Sind wir tatsächlich die Schöpfer einer unendlichen Existenz oder durch die Unsterblichkeitssticks am Ende selbst zu Geschöpfen in endlichen und künstlichen Hüllen geworden?

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Zur Liebe in Kultur und Mythos »Die Schöne und das Biest«

Podiumsdiskussion mit Elmar Schenkel, Constance Timm, Christoph Sorger und Reiner Tetzner
Was ist Liebe? Warum ist es in der heutigen Zeit geradezu eine Notwendigkeit, diese Frage im Diskurs eines gegenseitigen Miteinanders zu stellen? Ist Liebe die Lösung für unsere Probleme? Kann Liebe uns retten? Liebe und Lieben sind seit jeher Urbedürfnisse der Menschen. Dies spiegelt sich in den weltweiten Vorstellungen der Kulturen und Religionen wider: Eros, Amor, Aphrodite, Cupido, Venus, Freya, Ištar, Astarte, Hathor und Inanna sind nur einige der zahlreichen bekannten Liebesgottheiten in den Mythologien verschiedener Religions- und Kulturgemeinschaften. Dabei lässt sich das große Thema Liebe auffächern in die verschiedenen Facetten wie Verliebtheit, Fruchtbarkeit, Erotik, Verlangen. Aber auch Verständigung, gegenseitiges Begreifen, Akzeptieren und Annehmen sind als Ideen von Liebe wichtiger denn je und literarisch durch alle Zeiten hin beständig aufgegriffen und verarbeitet worden.

In der Podiumsdiskussion stellt der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie unter dem Titel »Die Schöne und das Biest« sein Jahresthema 2019 vor und diskutiert über kulturelle und literarische Aspekte, die sich mit Nächstenliebe, den Schattenseiten der Liebe, der Psychologie der Liebe sowie der Liebe in Mythos und Märchen befassen.

Eintritt: 3,- / 2,- EUR

Veranstaltung des Arbeitskreises für Vergleichende Mythologie e. V. Gefördert durch das Kulturamt der Stadt Leipzig

Halloween 3.0: “Köpfe werden rollen”

Im dritten Teil unseres diesjährigen Specials im Zeichen des Schaurigen, das sich bislang mit reitenden Toten sowie Folklore, Geistern und Kürbissen beschäftigt hat, sind wir nun den Mythen um Sleepy Hollow und dem Reiter ohne Kopf auf der Spur. Den meisten ist die Geschichte wahrscheinlich durch den 1999 erschienenen Film von Tim Burton mit Johnny Depp und Christina Ricci (und natürlich ebenfalls legendär: Christopher Walken als kopflosen Reiter) bekannt. 2013 bekam der düstere, märchenhafte und gleichzeitig skurril anmutende Film, der Grusel und den einen oder anderen Lacher perfekt kombiniert, Konkurrenz durch eine gleichnamige Serie. Dieses Sleepy Hollow (u. a. mit Tom Mison und Nicole Beharie in den Hauptrollen) verlegt die Handlung – per Zeitreise – in die Gegenwart und verbindet dabei Mysterie- und Krimihandlung in mittlerweile vier Staffeln.

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Willkommen beim MYTHO-Blog

 

  Mythos [altgriechisch: μῦθος, “Rede”, “Wort”, “Erzählung”, auch “Fabel”, Plural: Mythen; von mytheĩsthai: “reden, lautmalen, erzählen”] ist überlieferte Dichtung oder sagenhafte Erzählung aus der Vorzeit eines Volkes oder einer Volksgruppe, die u. a. von Göttern, Halbgöttern, Naturgeistern, Dämonen, der Entstehung und dem Untergang der Welt, der Erschaffung des Menschen etc. handelt. Mythen können als “symbolischer Ausdruck von Urerlebnissen […] angesehen werden” (Häcker/Stapf, 2009, 667). Aber auch Ereignisse, Personen und Dinge können – glorifiziert, mit fiktiver Geschichte oder symbolischer Bedeutung ausgestattet – zur Legende, zum Kultbild, Leitbild oder zur Ikone und damit zum Mythos werden.

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