Jules Verne hat leider den Ruf, nur Jugendautor zu sein, doch lässt sich in vielen seiner Werke ein tieferer Gehalt finden, der über das reine Abenteuer hinausgeht. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass er ganz einfach spielt – mit Erwartungen, mit den Lesern und mit sich selbst. Wetten, Rätsel und Wettkämpfe sind Spielmuster, die wir in In 80 Tagen um die Welt finden, in Reise zum Mittelpunkt der Erde oder Reise zum Mond.
Ein höchst symbolisches Spiel treibt er aber in Testament eines Exzentrikers (1899). Ein steinreicher Amerikaner vererbt 60 Millionen Dollar an die Person, der es gelingt auf der Route des Gänsespiels die Nr. 63 zu erreichen: das ist die Anzahl der Staaten der USA zu dieser Zeit, denn jeder Staat wird zu einem Kästchen auf dem Spielbrett. Die Wettkämpfer werden durch Los ausgesucht, darunter ein Boxer, ein Journalist und ein unsympathisches deutsches Pärchen. Überall lauern nun Fallen und Hindernisse: Un- und Überfälle, Stürme, Streiks, Duelle, die Deutschen landen gleich im Knast wegen Alkoholmissbrauchs, der Boxer wird mit einem Schwein verwechselt und ähnliches. Zusätzlich zu den Ausgelosten kommt ein weiterer Teilnehmer mit dem mysteriösen Namen XKZ. Und er wird der Sieger. Aber wer ist es? Hier spielt Verne mit einem Anagramm. Aus XKZ entsteht durch Verschiebung WJY und das sind die Initialen des reichen Exzentrikers (in französischer Aussprache). Auf seinem Grabstein steht als Todestag der 1. April eingemeißelt… Der Exzentriker ist als Sieger zugleich der Autor, der in seinem Spiel die Figuren über das Brett der Staaten jagt und sich einen Spaß daraus macht, sie in Fallen zu locken. Das Spiel ist wie ein spiraliges Labyrinth ausgelegt, und so kommen mythische Strukturen ins Spiel.
In der antiken Welt sind Labyrinthe nämlich als Orte der Initiation, der Prüfung gedacht. Viele Spiele gehen auf Rituale und Mythen zurück, ob Schach oder Mühle, Wettläufe, Loseziehen oder Ballspiele. Letztere zum Beispiel wurden in der vorkolumbianischen Zeit von den Maya und Azteken gespielt. Sie konnten zur Unterhaltung dienen oder kultisch durchgeführt werden. Dann aber waren sie für die Verlierer tödlich, ähnlich wie die Gladiatoren- oder Stierkämpfe im Mittelmeerraum. Das mythische Hauptwerk der Maya, das Popol Vuh, gibt davon Zeugnis ab.
Die Mythen berichten von den Spielen, die die Götter mit den Menschen trieben. Konkurrenz im Himmel bedeutet schwere Hindernisse für einen Odysseus, der nach Hause will. Auch Götter können schlechte Verlierer sein. Der biblische Gott, der einsam herrscht, erschafft sich ein Gegenbild, den Menschen, um spielen zu können, denn alleine machen Spiele auf Dauer keinen Spaß. Aber spielen denn Gott und die Menschen miteinander? Man täuscht sich gegenseitig und will sich nicht in die Karten schauen lassen, doch Gott bleibt der Stärkere – keine gute Voraussetzung für ein Spiel. Spiele haben somit einen mythischen Ursprung in alten Geschichten, die die Weltordnung erklären. Zufall gibt es dort nicht: Im indischen Mahabharata würfelt man um die Frage, ob man gegen einen anderen Familienzweig kämpfen solle.
Die Literatur übernimmt vieles aus dem Mythos. Der Kriminalroman zeigt dies deutlich, denn er verfolgt ein sehr beliebtes Spiel seit Urzeiten: das Rätsel, das einen Wettlauf zwischen Leser und Autor veranstaltet. Die Leserin versucht Miss Marple zu überlisten, die wiederum überlistet die Polizei. Die Orakel von Griechenland bis China sind mit ihren vagen Aussagen dem Krimi vergleichbar. Der Fragende oder die Priester (Kritikerinnen, Literaturwissenschaftler) müssen sich selbst Gedanken machen. Rätsel, Reim und Metrum sind Spiele mit der Sprache, an der Kinder einen besonderen Spaß haben.
Das Spiel kann auch den Text strukturieren, so in Alice hinter den Spiegeln (1871) von Lewis Carroll. Dort bewegt sich Alice auf Schachfeldern durch die Handlung, trifft auf ein Einhorn, ein altkluges Ei namens Humpty-Dumpty oder einen nervösen Ritter und schafft es als „Bauer“ die andere Seite des Brettes zu erreichen, wo sie Königin sein könnte. Aber vielleicht ist sie doch nur der Traum des Roten Königs. Schach ist sicherlich eines der beliebtesten Motive in der Literatur, weil es hier um einen Zweikampf geht wie im Heldenepos, allerdings einem geistigen. Interessant ist hier die Spiegelung des Verhältnisses von Leser/Autor und vom Autor als eines Menschen, der beim Schreiben gegen sich selbst spielen muss, gegen die eigene Trägheit und Dummheit. Das Schachbrett selbst ist ja ein Spiegelphänomen, bei dem sich zwei gleiche Seiten gegenüberstehen. Herausragend: Stefan Zweigs Schachnovelle und Vladimir Nabokovs Lushins Verteidigung. Schach nähert sich den luftig-zerebralen Modellen der Mathematik an, die man durchaus als Kunst begreifen kann. Alice Munro oder Yoko Ogawa haben dieser Form des Spiels beeindruckende Geschichten gewidmet (Munros „Zu viel Glück“, 2009, und Ogawas Das Geheimnis der Eulerschen Formel, 2013).
Orakel-Spiele haben ebenso die Literatur und Musik inspiriert. Hermann Hesse, Philip K. Dick und John Cage nutzten die Würfe des chinesischen I Ging, um die nächsten kreativen Schritte in ihren Arbeiten zu machen. Jeder Wurf in diesem uralten Spiel ergibt einen weisen und zugleich poetisch-vagen Kommentar, so dass die Nutzer in sich gehen müssen, um den Hinweis richtig zu verstehen. In Hermann Hesses Glasperlenspiel, das unter diesem Einfluss stand, bewegen sich Individuen, Gesellschaften und der Kosmos auf den Scheiben des Spiels.
Der unermüdliche Mark Twain gar erfand ein Spiel, weil seine Töchter sich die Daten der englischen Könige für den Geschichtsunterricht nicht merken konnten. Die 37 Potentaten bekamen jeweils einen Pfosten auf der Hauseinfahrt, die Abstände entsprachen den Regierungszeiten. Nach ein paar Tagen kannten sich die Töchter aus. Twain arbeitete weiter ließ es sich als Brettspiel patentieren, so wie er sich schon einen Hosenträgerersatz und ein selbstklebendes Album hatten patentieren lassen. Es war aber zu kompliziert – jemand nannte es eine Kombination aus Logarithmentafel und Steuererklärung – und verschwand im Orkus der vergeblichen Experimente. Aber auch das gehört zum Spiel, denn etymologisch geht das Wort auf Tanz und Vergnügen zurück. Das Erfinden und Scheitern von Ideen gehört definitiv zu diesem Tanz dazu, bei dem man manchmal aus dem Schritt kommt. Gutes Verlieren will gelernt sein und dazu können Spiele verhelfen.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.



„Viele Spiele gehen auf Rituale und Mythen zurück, ob Schach oder Mühle, Wettläufe, Loseziehen oder Ballspiele“
Da war auch dieser Palamedes, der klügste Mensch aller Zeiten. Der wusste, dass er die Griechen mit Spielen ablenken muss: „Oft gab Palamedes den Soldaten neuen Mut, indem er ungünstige Vorzeichen (z. B. eine Sonnenfinsternis) umdeutete. Damit die Soldaten Ablenkung haben, erfand Palamedes das Brettspiel. Sophokles wird als Dichter der griechischen Klassik mit der Datierung * 497/496 v. Chr. in Kolonos; † 406/405 v. Chr. in Athen überliefert. Da heißt es, dass Palamedes das griechische Nationalspiel Tavli erfunden hat. Tavli (griechisch Τάβλι, türkisch tavla) ist ein Brettspiel für zwei Spieler und mit Backgammon verwandt. Besonders verbreitet ist das Spiel Tavli in Griechenland, der Türkei und benachbarten Ländern“ ->
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