Das Fahrrad ist das Gerät auf Erden, das die beste Umsetzung von Energie in Bewegung leistet. Mit einem Pfund Fett kann ein Radler etwa 300 Kilometer hinter sich bringen. Die einzigen, die das Fahrrad in dieser Hinsicht übertreffen sind der Lachs und der Jumbojet. Die Maschine ist also so perfekt, wie dies unter irdischen Bedingungen nur möglich ist. Ihre heutige Form erhielt sie am Ende des 19. Jahrhunderts: zwei fast gleich große Räder, Kettenantrieb, Pedale, Gummireifen. Das Fahrrad befreite den kleinen Mann aus der Enge seiner Umwelt, die Frau aber von Herd und Kontrolle sowie von unpraktischer Kleidung. Ein guter Teil der Emanzipation wurde vom Fahrrad ausgelöst. Bis vor kurzem war das Fahrrad in bestimmten Kulturen wie Indien oder China das entscheidende Fortbewegungsmittel. Bei uns ist es jedoch wieder auf dem Weg dorthin. Ein großer Teil unserer Räder und deren Ersatzteile werden in Indien produziert. Das Fahrrad ist ein globaler Faktor, auch im Sinne von Umwelt- und Gesundheitspolitik, und es hat aus diesem Grund Zukunft.
Wir fragen uns, wie die Menschheit überhaupt ohne dieses Gefährt über Jahrtausende auskommen konnte? Überhaupt hat sie den größten Teil ihrer Geschichte ohne Räder verbracht.
So ist das Gehirn, aus dem das Fahrrad entsprungen ist, von besonderem Interesse. Was heute selbstverständlich ist, erschien unter den Bedingungen einer anderen Zeit als exzentrisch. Das Neue ist zunächst unmöglich, verrückt, und wer sich für das Neue einsetzt, muss wohl ein Spinner sein. Er oder sie kämpft für das Unsichtbare, für die Vision einer Realität, die noch nicht eingetreten ist. Man muss annehmen, dass im Verlaufe der menschlichen Evolution immer solche Spinner aufgetreten sind, die für geistige Mutationen sorgten und von Zukunft sprachen, wo man kaum mit der Gegenwart zurechtkam.
Auch die technische Evolution scheint sich besondere Mitglieder der menschlichen Gattung auszusuchen, um ihre Vorwärtsbewegung zu ermöglichen. Im Falle des Fahrrads wählte sie sich einen Förster ohne Wald, einen aufsässigen Eigenbrötler, der im Schatten seines Vaters stand. Nach allem was wir wissen, hinderte der Vater seinen Sohn daran, erwachsen zu werden. Vielleicht war es die erzwungene Unreife, die zum Gedankenspiel mit fremdartigen Fahrzeugen führte, mit Junggesellenmaschinen. Das Fahrrad ist jedenfalls das Produkt einer unglücklichen Familie und diente daher von Anfang an der Befreiung.
Im Jahre 1819 erdolchte der Student Sand in Mannheim den konservativen Schriftsteller Kotzebue und löste damit eine Flut reaktionärer Maßnahmen aus. Der Prozeß gegen Sand, der hingerichtet wird, wird geleitet von Carl Wilhelm Freiherr von Drais, dem Vater des Erfinders. Im Jahr der Hinrichtung Sands, 1820, ist der Sohn des Freiherrn, Karl, 35 Jahre alt. Er steht auf dem Gipfel seines kurzlebigen Ruhms. Seine Erfindung, die Laufräder oder Velozipeden, erobern die Parks und Höfe Europas. Allerdings erscheinen an manchen Orten auch schon die ersten Verbote dieser schnellen Fahrzeuge.
Wir wissen wenig über die Kindheit des Erfinders. Viel mehr wissen wir über seinen Vater. Er dichtete und veröffentlichte ohne alle Hemmung. Er war aber aber auch Epileptiker, litt unter Sprachstörungen und schrieb unter dem Pseudonym Diätophilus Traktate über seine Heilung. Wenn die Holzhäuschen seiner Kinder einstürzten, bereitete ihm der Lärm unendliche Schmerzen. Er stellte sich eine Diät für Nervenschwache zusammen, betonte die Wichtigkeit von wollener Unterkleidung und die Schädlichkeit des Badens, er schrieb über die richtige Art des Frottierens. Er legte sich Gurte um den Unterleib, trug Pulswärmer, mehrere Paar Handschuhe und einen ledernen Hut, der alle paar Sekunden zu lüften war. Auch für die „Begattungs-Geschäfte“ gab er Rat. Zwei Stunden nach der mäßigen Abendmahlzeit „weihe deine Bettstelle ein … Der Platz, wohin deine Kniescheiben zu liegen kommen, sei gewärmt, und noch mehr sei es die Gegend der Füße, wenn du gleich mit Strümpfen und Unterbeinkleidern bedeckt bleibest… Gehe nach Möglichkeit mit gemäßigtem Feuer, nächst vor und in dem Akt, zu Werk; ziehe ein sanftes Lächeln des Geistes in dein Interesse – und du wirst Lust gewinnen. … Indes streichle dir das Weib, das dich in Liebe umschlingt, den Rücken abwärts, um die Wallungen gegen den Kopf zu dämpfen… Besänftige dich noch an der Gattin Brust gegen eine Viertelstunde hin; und in einer Minute, in welcher du dich matter, oder einen Ausbruch von Ausdünstung nahe fühlst, rühre dich nicht.“ Der Vater ist der Schlüssel für den Sohn: der pädagogische Schriftsteller hat einen psychotischen Sohn, was an den Fall Schreber erinnert. Man kann beide zusammen als eine einzige psychotische Person ansehen, so verstiegen sind die Rezepte, die der Vater erfolgreich bei sich anwendet, und so verquer die Erfindungen, die dem Sohn immer wieder Befriedigung, wenn auch keinen dauerhaften Erfolg verschaffen. Und was hat er nicht alles erfunden: ein Schnellschreibklavier, eine Art Morseschrift, einen Energiesparofen, eine Kochmaschine, ein binäres Rechensystem, eine Notenschriftmaschine, eine Fleischhackmaschine sowie Verbesserungen für das Feuerlöschwesen.
Karl wächst in Karlsruhe auf, mit einem Zwischenspiel im Hunsrück und ist kein guter Schüler. Als er vierzehn ist, liegt die Mutter im Sterben. Der Vater fürchtet sich, zieht sich zurück und schickt morgens den Sohn zur Mutter, er solle nachsehen, ob sie noch lebe. So muss der Sohn dem Vater den Tod der Mutter verkünden. Mit 15 schickt der Vater ihn auf die Forstschule des Onkels im Schwarzwald, nicht ohne ihn mit ein paar homerischen Versen zu versehen: „Unsern redlichen Karl, bedächtlicher Art und vergebens/ Mit dem Latein gemartert, befreit ich von dieser Befehlung. / Lehrling beim Onkel, durchstreift er die Forste, pflanzet und säet/ Jaget das Wild, und gedeiht an körperlich-starker Entwicklung.“
Nach drei Jahren Wald finden wir ihn an der Universität Heidelberg wieder, wo er Landwirtschaft, Physik und Baukunst studiert. Nach erfolgreich absolvierten Studien geht er wieder ins Forstamt, dann Schwetzingen, schließlich wird er nach Freiburg versetzt, landet aber in Offenburg. Er weiß nicht, wohin er gehen soll und schreibt diesbezügliche Briefe. Trotz der Eingriffe des mächtigen Vaters verschafft ihm die Landesverwaltung nie einen eigenen Forstbezirk. Irgendwie fasst er im Wald keinen Fuß. Später reicht er einen Vorschlag ein, Bäume abzuholzen, um angesichts einer drohenden Hungersnot Felder für den Anbau zu schaffen. Mit 25 zieht er in das Haus seines Vaters nach Mannheim zurück und wird Erfinder. Bald beginnen von ihm Anzeigen neuer Erfindungen im Badischen Magazin zu erscheinen. Im Jahre 1812 heißt es in der „Gemeinnützlichen Anzeige Nro. 2“: „Ich habe nämlich eine Maschine erfunden, wodurch Phantasien auf dem Klavier sich zugleich in Noten aufschreiben.“ Der Sinn liegt in der Mühelosigkeit sowie in der Aufbewahrung „glücklicher Phantasien“. Die Erfindung hat also einen praktischen und einen emotionalen Wert. Es geht um Mechanik und die Rettung des Augenblicks, den man zum Verweilen einlädt, denn gerade die „feurigsten Gedanken“ können nun fixiert werden. Eine solche Maschine ist nicht erhalten, aber wir können uns vorstellen, dass die Töne auf Papierrollen übertragen wurden. Es heißt, Vater Drais habe durch die Experimente seines Sohnes einen Flügel verloren.
Seine nächste Erfindung, die er der Öffentlichkeit anzeigt, heißt „Dyadik“ oder die Kunst, alles durch zwei Zeichen auszudrücken. Schon Leibniz hatte ein binäres Zahlensystem entwickelt, in dem er jede Zahl durch 0 und 1 ausdrücken konnte. Drais scheint nicht davon gewußt zu haben, zumindest bezieht er sich nicht auf Leibniz. Für die Zahlen 0 und 1 schlägt er auch Strichelchen vor, so dass wir hier eine erste Form des Warenstrichcodes hätten. Sein System diente der optimalen „Gedankenmitteilung“. Er steht damit in einer Tradition der Kombinatorik, die mit Raimundus Lullus beginnt und in der man versuchte, sämtliche Zeichen auf Zahlen zu reduzieren, auch die Formen der Rede. Ob Drais sich zu dieser Tradition bekannte oder nicht, seine Idee gehört zu den Vorläufern jener Maschinen, für die die Welt nur Zahl ist, den Computern. Er bekennt zudem, bei einem Meister, dem belesenen Professor Bürmann in die Lehre gegangen zu sein. Dieser Professor gab am Wochenende Kurse in Schnellschrift, Geheimschrift, Allschrift und Fernschrift. Außerdem arbeitete er an der Entwicklung von Fühlschrift, Schmeckschrift, Tastschrift, Temperaturschrift und Riechschrift. Wir befinden uns gerade im Wohnzimmer der schrägen Erfindungen, wo Christian Morgensterns Herren Palmström und Korf ebenfalls Gutes für die Welt bewirken.
Die nächste gemeinnützige Anzeige betrifft das Feuerlöschwesen. Drais ist der Meinung, man solle das Löschwasser nicht in Eimern, sondern in Bütten an das Feuer herantragen. Damit könne der Staat gehörig Geld sparen. Aber auch hier ist er nicht zeitgemäß, denn soeben bricht das Zeitalter der Lederschläuche und Schiebeleitern an.
Im Jahre 1814 versucht der Vater über Beziehungen noch einmal, für den ältesten inaktiven Forstmeister des Landes einen Bezirk zu bekommen. Vergeblich. Die Förster und ihre Bürokraten können mit diesem genialischen Sohn nichts anfangen.
Im Rückblick lässt sich sagen, dass seine bisherigen Erfindungen auf diejenige vorausweisen, mit der er sich einen Namen machen sollte. Das Rechnen wollte er vereinfachen im Sinne von Mechanisierung. Die Musik des Klaviers sollte in die zweidimensionale Welt des Papiers übersetzt werden. Übersetzungsvorgänge, Überwindung von schwierigen, oft störrischen Hindernissen, Vereinfachungen – das sind die Tendenzen seiner Erfindungen und Ideen.
Auch das Laufrad stellt einen ersten Schritt zum Abheben von der konkreten und störrischen Realität dar: Die Beine übertragen ihren Gehschwung auf zwei Räder. 1813 vermeldet Drais, einen Wagen gebaut zu haben, der ohne Pferde bewegt werde. Er wird vielmehr von einem darin sitzenden Menschen per Fußabstoßen vorangetrieben. Warum denn keine Pferde? Die Pferde verkörpern eine alte Zeit, den Feudalismus und den Klassenunterschied. Abhängigkeit im weitesten Sinn, und die hieß bei Drais Abhängigkeit vom Vater. Ihm schwebte sozusagen ein vaterloses Fuhrwerk vor. Dem Exzentriker aber muss es immer um die Freiheit von nutzlosen oder gefährlichen Bindungen gehen. Hinzu kommt: die Pferde waren durch die napoleonischen Kriege stark dezimiert. Man musste nach Alternativen suchen.
Es ist das Jahr der Völkerschlacht von Leipzig und der russische Zar kommt nach Karlsruhe. Man berichtet, dass Drais ihm sein noch vierrädriges Fahrgerät vorführen durfte und der Herrscher soll gesagt haben: „Ganz schön genial“. Schließlich soll der Zar dem Erfinder einen Brillantring geschenkt haben. Der badische Großherzog lässt Gutachten anfertigen, die zu dem Schluss kommen, es sei doch am Ende besser, Ortsveränderungen mit den eigenen Füßen zu bewerkstelligen. Einzig für „destruierte oder solche Personen, welche keine Füße haben“, könnte ein solches Fahrgerät nützlich sein; allerdings müssten diese ihre Arme und Hände zum Antrieb einsetzen. Also ist es nichts mit dieser neuen Fahrmaschine. Die beiden Vorbilder, die es für Drais hätte geben können, waren Fahrzeuge für Behinderte, so wie sie im 17. Jahrhundert von Stefan Farfler in Altdorf gebaut wurden, und die barocken Luxuskarossen, die von Uhrwerken betrieben wurden. Einen anderen Gebrauch können die Gutachter nicht ins Auge fassen. Drais dagegen setzt auf die Befreiung von Bedingungen, die den Verkehr bislang belasteten: „Neben der ungemeinen Ersparnis,“ schreibt er in einer Auflistung der Argumente, „hängt man nicht von dem Mangel oder der Unpässlichkeit, vom Scheuwerden oder der Trägheit eines Pferdes, noch vom Unglück mit dem Tiere ab.“ Mit seinem Gerät tritt er noch einmal öffentlich auf, und zwar dort, wo sich Europas Mächte versammeln und dabei allerlei Schausteller, Erfinder und Weltverbesserer anlocken: auf dem Wiener Kongress von 1814/15. Die Stadt lässt er plakatieren mit seiner Ankündigung eines selbstfahrenden Fahrzeugs, doch der Großherzog von Baden untersagt ihm, dabei seinen Titel zu gebrauchen. Man will sich mit diesem spinnenden Forstmeister nicht kompromittieren. Ein Zeitzeuge berichtet, wie merkwürdig es gewesen sei, einen Wagen ohne Pferde herumfahren zu sehen: „Wäre vor fünfzig Jahren solch ein Wagen zu einem Dorf hineingefahren, die Bauern würden sich bekreuzigt haben.“ Drais‘ Fuhrwerk verkauft sich schlecht und verschwindet schließlich. Der Erfinder wendet sich in der Zwischenzeit neuen Konstruktionen zu: einer „neuen Methode, viel schneller zu schreiben, als bisher möglich war“, einer Schießmaschine, die weiter reicht und tiefer durch die Körper dringt, sowie einem Periskop oder „Erhöhungs-Perspektiv“. Dies letztere empfiehlt er für Volksversammlungen, so dass ein kleiner Mensch, wie er es selbst war, auch über die Großen mit Kopfbedeckungen würde hinwegsehen können. Im Erdgeschoß eines Hauses kann man mit diesem Gerät auch Ansichten erhalten, die man nur hätte, wenn man auf das Dach stiege. Auf Schiffen ließe sich ein größerer Weitblick über das Meer erreichen und Feldherren bräuchten nicht mehr auf Leitern klettern, um das Kampfgeschehen zu beobachten. Leider war dieses optische Instrument im 17. Jahrhundert schon erfunden worden und kursierte als Kriegsgucker oder Wallgucker. Auf jeden Fall bleibt Drais unermüdlich produktiv. Die große Erfindung schwimmt auf einem Fluss daher, der pausenlos Ideen vorbeiträgt, neue wie abgestandene, verbrauchte und originelle. Wichtig ist nur, der Fluss strömt weiter: das Geheimnis der Kreativität.
Das Rad, heißt es, hat der Mensch nicht der Natur abgeschaut, es stelle vielmehr einen genuinen Beitrag des Menschen zum Universum dar. Nein, so ist es wohl nicht. Das Universum ist doch geradezu von Rädern erfüllt. Die Planeten sind mehr oder weniger rund und bewegen sich mehr oder weniger auf Kreisbahnen, auch wenn diese elliptisch verbeult sein mögen. Das Rad hat der Mensch sehr wohl dem Kosmos abgeschaut. Das Fahrrad verbindet uns mit der Sternenwelt. Es setzt einen Fernblick voraus, ein Ungenügen an der Nähe. Dieses Ungenügen ist das Kennzeichen des Erfinders.
Nachdem es mit vier Rädern nicht geklappt hatte, versucht es Drais etwa ab 1816 mit einer neuen Version – dem Laufrad oder Velociped mit zwei Rädern. Die geniale Idee des Barons besteht darin, den Fahrwagen zu halbieren und es nur noch mit zwei Rädern zu versuchen, die hintereinandergestellt sind. Der Technikhistoriker Joachim Krausse hat es so formuliert: „Wird der Wagen halbiert, wird das Pferd halbiert, wird der Reiter halbiert. Es bleiben übrig: zwei Wagenräder, zwei Pferdebeine, ein Stück Pferderücken mit Sattel, ein Oberkörper, der die Zügel in der Hand hält.“ So entsteht eine verrückte Dreiecksbeziehung: „Der Reiter ist das Pferd, und das Pferd ist der Wagen.“ Zu Recht kann man hier von Unsinnspoesie reden. Das neue Fahrgerät entsteht durch Schnitt und Montage wie ein Nonsens-Vers oder später der Film. Es kann seine Herkunft aus dem Geiste des Spielzeugs nicht verleugnen, und so wird auch immer wieder der Vorwurf lauten. So schrieb Karl Gutzkow einen bösen Verriss des Laufrads und sprach von den „kindisch-winzigen Hilfsmitteln“ und den „mechanischen Hirngespinsten“ des Barons. Gutzkow wollte Drais 1837 mit dergleichen Abwertungen niedermachen, vermutlich aus Rache für das Urteil gegen den Kotzebue-Mörder, das Karls Vater einst ausgesprochen hatte. Gutzkows Rache wirkte, wie Lessing gezeigt hat, noch lange nach in verfälschenden Berichten über Drais.
Schon vor Drais sollen Laufräder existiert haben, aber es gibt keine Beweise dafür. Meist handelt es sich um nachträgliche Fabrikationen zum Ruhme des eigenen Landes. Bei der Art von Bewegung wird gerne eine Verbindung zum Schlittschuhlaufen gezogen. Entscheidend ist wohl, dass bei Drais das dynamische Gleichgewicht auf Räder gebracht wird. Das heißt, dass von nun an Fortbewegung Bedingung für die Balance wird. Wer fährt, bleibt. Wer steht, fällt. Damit ist gleichsam das Programm der Moderne umschrieben, das da lautet: Innovation, Mobilität und Fortschritt, Überleben als ständige Anpassung.
1817 führt Drais an der Mannheimer Schlosswache die Maschine erstmals einem Publikum vor. Ganz Mannheim ist herbeigeströmt, das Wunder zu besichtigen. „Den kleinen, schwarzen Schnurrbart kühn zur Spitze gedreht“, berichtet ein Zeuge, „mit einem dünnen Spazierstock in der Hand, fuhr [Drais], verfolgt von der Schuljugend, die ihm johlend und höhnend nachsprang, die Breite Straße hinunter.“ „Herr von D. ist ein Narr“, sollte Gutzkow später schreiben. Der Narr aber bewies, dass sein Schnellfuß oder Veloziped kaum zu schlagen ist. Er schaffte zehn bis 15 Kilometer pro Stunde und schlug damit die Pferdepost um ein Vierfaches. Für die 50 Kilometer von Karlsruhe nach Kehl brauchte er ganze vier Stunden. Exzentriker aus dem Adel und andere Reiche bestellten sich die Maschine, um damit Aufsehen zu erregen. Drais bot verschiedene Modelle an und malte weitere Möglichkeiten aus: „Noch größere Eleganz und weitere Bequemlichkeiten, z.B. ein seidner Schirm gegen Sonne und Regen, ein Windfang, um günstigen Wind zu benutzen, eine Laterne und Vergoldungen etc. etc. wären besonders zu accordiren.“ Ein Nürnberger Mechaniker machte sich an eine Verbesserung und trat mit einem Laufrad hervor, bei dem die Beine nicht mehr gebraucht würden. Die Fortbewegung sollte nun mit zwei Eisenstäben bewerkstelligt werden. Wie imaginär dieses Rad auf Stelzen ist, wissen wir nicht, jedenfalls bot derselbe Mechaniker in seinem Katalog auch einen Zauberer-Automaten an, der schriftlich zehn beliebige Fragen beantworten konnte. Drais jedenfalls reiste, baute und hielt Werbevorträge in diesen Jahren, über das Laufrad ebenso wie über die Kunst, alles in zwei Zeichen auszudrücken. Das Veloziped half ihm derweil, alles mit zwei Rädern auszudrücken. Er bemühte sich, Patente zu erhalten und wollte Laufräder verbieten lassen, die nicht sein Zeichen trugen und dieses nicht „der rollierenden Maschine sichtbar vorne einverleibt“ hatten. Die ersten Laufräder erreichten auch die Bühne und sorgten für komische Effekte. Goethes Sohn August schrieb seinem Vater: „… besonders lächerlich waren viele Draisinen, welche vorkamen und welche sehr gut gefahren wurden.“ Auch Paris und London entdeckten das Veloziped. John Keats nannte es „die Nichtigkeit des Tages“. Es hieß nun hobby-horse, dandy-horse, Accelerator, Equiambulopeid oder Célérifère. In Parks und Gärten, auf einsamen sandigen Wegen tummelten sich die Radfanatiker, stürzten regelmäßig, stießen zusammen oder wurden von Meuten verfolgt und mit Steinen beworfen. Solche Bewegungskomik forderte die Karikaturisten heraus, man machte sich lustig über diese Mode. Doch es gab auch Hellsichtige, die mehr darin sahen als ein läppisches Spielzeug. So sagte der Gründer des ersten Tierschutzvereins in London, Lewis Gompertz: „ „Das lächerliche Licht, das einige Müßiggänger und Karikaturistenkrämer auf sie geworfen haben, wird vor den Strahlen der Vorteile verschwinden, die die Draisinen der Welt noch einst gewähren werden.“ Mietanstalten und Fahrschulen schießen aus dem Boden.
Doch der erste Boom der Laufräder währte nur kurz, denn nun kam dem Baron wieder die Politik in die Quere. Polizeiverordnungen setzen ab 1820 Verbote gegen Laufräder durch, weil sie den gefährlichen Studenten und Turnern helfen könnten, sich zusammenzurotten und der Obrigkeit zu entgehen.
Vielleicht erklärt diese staatliche Bremse, warum wir im Jahre 1822 den Baron von Drais in einem anderen Erdteil wiederfinden – in Brasilien. 1825 erschienen anonym die „Briefe eines Deutschen“, der an der südamerikanischen Expedition des Freiherrn von Langsdorff teilgenommen hat. Erst 1985 gelang es, den Verfasser als den Erfinder des Velozipeds zu identifizieren. Er soll seine Erfindung mit nach Brasilien genommen haben. Die Briefe, die er nach Deutschland schreibt, sind an seinen Vater gerichtet und als Warnungen gegen „übereiltes Auswandern“ gedacht. Er kritisiert die Sklaverei, die mangelnde Sicherheit und korrupten Zustände im Lande. Es gibt keinen guten Kaffee im Lande des Kaffees und die Bettler sind überall zu sehen. In Rio de Janeiro fallen ihm die schlechten Karren auf, die keine „Drehungs-Anstalt“ besitzen und daher unter großen Mühen von den schwarzen Sklaven um die Ecke getragen werden müssen. Er stellt sich Maschinen vor, mit denen man die Goldklumpen besser ausgraben kann. Fünf Jahre später ist er wieder in Mannheim, da feiert der Vater sein fünzigjähriges Dienstjubiläum. Mit dem Laufrad dagegen ist es nicht mehr viel, die Mode ist verflogen wie ein zu früher Schmetterling im Frost. Doch der Erfinder arbeitet weiter. Wieder ist er der Zeit voraus, der Bewohner einer Zukunft, die den Mitmenschen nichts als ein windiges Luftschloß ist. 1831 erscheint ein Bericht über seine „Schnellschreibmaschine“ oder das „Schreibklavier“. Die Maschine ist nicht erhalten, wohl aber einige Hinweise. Wir können uns ein stehendes Radfahren vorstellen: der Schreiber sitzt auf einem Reitsitz und hat eine Maschine zwischen den Beinen, mit der man stenographieren kann. Es gibt nur noch 16 Buchstaben und diese werden durch Punkte ausgedrückt. „aller anfang ist schwer“ erscheint daher als „aler anfg isdh swer.“ Drais behauptet, man könne damit an die 1000 Buchstaben pro Minute schreiben. Die Maschine, sagt er weiter, sei für Blinde geeignet; daher hat man hier eine Vorform der Braille-Schrift vermutet. Jeder einzelne Buchstabe wird durch eine Tastenkombination hergestellt, was eine Verwandtschaft mit telegraphischen Verfahren nahelegt.
Drais bietet Unterricht in dieser neuen Methode an zugleich mit der Möglichkeit, das „Draisinenreiten“ zu lernen. Unbescholtene Personen erhalten kostenlosen Unterricht. In einer Broschüre verkündet er einige Regeln. Einige Menschen bräuchten ein ganzes Leben, sie zu lernen, andere nur einen Tag. Das Regelwerk, das nun folgt, erinnert an die Diätexzesse des Vaters. Für den Abend vor der Schreibübung wird ein gutes Abendessen mit Wein empfohlen sowie komplette Nachtruhe. Nach den ersten Übungen morgens reibe man die Hände mit reinem Fett (gut ausgelassenem Schweineschmalz) und Branntwein. Dann bringe man das Blut durch Bewegungn in Schwung, nehme wieder ein gutes Mahl mit Champagner ein, „so wird man sehr wahrscheinlich gleich darauf das schnellste Sprechen schriftlich erreichen oder übertreffen können.“
Es geht ihm also wieder um die Geschwindigkeit, die durch Vereinfachung von Bewegung, die durch Reduktion von Zeichen und deren Mechanisierung erzeugt wird. Neuronale Probleme, wie sie sich etwa in Sprachstörungen und Aphasien zeigen, hängen oft zusammen mit unterschiedlichen Verarbeitungen von Geschwindigkeit in betroffenen Hirnbereichen. Man erinnert sich daran, dass Drais Senior an solchen Aphasien litt. Laufrad wie Schreibmaschine sind möglicherweise Versuche des Sohnes, verschiedene Geschwindigkeitssysteme zu koordinieren. Jürgen Krausse hat, wie erwähnt, die Konstruktion des Laufrads mit einem Sprachspiel verglichen, das an die Unsinnspoesie eines Lewis Carroll oder Christian Morgenstern erinnert. Nonsens aber kann als ein kreatives Spiel mit Sprachstörung verstanden werden.
Eine Zeitlang noch scheinen die Erfindungen dem Erfinder Halt gegeben zu haben, doch gegen Lebensende versinkt er in asoziale Zustände. Seine Familie, die Schwestern, distanzieren sich zunehmend von ihm, er verwildert körperlich wie geistig und wird zum Spott der anderen. Da hilft auch nicht mehr ein neuer Ofen, mit dem er Energie einzusparen vorschlägt. Oder ein ein neuartiges Pfeifenrohr, das er für seinen Großherzog für „die Annehmlichkeit des Tobakrauchens“ entwickelt. Er entwickelt Verfolgungswahn, glaubt, dass auf den großen Ebenen Amerikas Draisinenkorps eingerichtet worden seien. Das Ministerium verlangt, dass er seine Kammerherren-Uniform ablege und Drais streitet sich mit dem Polizeikommissar, der das durchsetzen will und ihn schließlich aus Mannheim verweist. Der Erfinder hängt an seiner Uniform als letztem Erkennungszeichen seiner gesellschaftlichen Position. Seine Briefe unterschreibt er nun: „Der Freiherr von Drais, Großherzoglicher Kammerherr, Pensionierter Forstmeister, Charakterisierter Professor der Mechanik, Großprämiierter des Landwirtschaftsvereins.“ Drais kommt nach Hornberg, fühlt sich verleumdet, führt sich merkwürdig auf. Im Wirtshaus fällt er durch „Produzieren seiner Erfindungen, Singen, Brummen, Deklamieren und Tanzen“ auf. So wird er weitergeschickt, nun nach Waldkatzenbach. Hier soll er für die Dorfbewohner Häckselmaschinen verbessert und Webstühle und Spinnräder repariert haben. In diesen Jahren von 1839 bis 1842 soll er die Eisenbahndraisine erfunden haben. Inzwischen ist er aber krank geworden, vielleicht ist er Alkoholiker und nicht mehr richtig seßhaft und kehrt nach Karlsruhe zurück. Noch einmal kommt er auf eine genialische Idee. Er will eine Drais-Aktie einführen und mit ihren Geldern seine Zukunftserfindungen fördern. Mit Schreibmaschine und einem „dyadischen Sprachsystem“ könne das Studieren auf der Universität so billig sein, dass „künftig fast jedermann alle Wissenschaften studieren kann“. Er stellt sich eine Sprache vor, in der alle Wissenschaften ausgedrückt werden. Das ist alles zuviel für die Schultern eines Mannes in dieser konservativen Zeit. Doch die Tendenz seiner Ideen ist bemerkenswert und zielt auf die Fragen unserer eigenen Zeit. Multimediales Lernen, Fernuniversität und Digitalisierung sind hier luftig vorgedacht. Er war im Geiste so reformfreudig, wie wir es uns für die Gesellschaft als ganze wünschen. So schlug er 1831 vor, alle sollten acht Monate ohne Pause arbeiten und die restlichen vier Monate könne man dann Feste feiern. Auf Flugblättern, die er nun in seiner Wohnung von sieben bis neun und eins bis drei Uhr ausgibt und erläutert, empfiehlt er ein interessantes System, die Staatsschulden zu senken. Die Reichen sollen dem Staat Schenkungen machen und dafür öffentlich Orden tragen, „schön dyadisch durch zweierlei Querstreifen oder runde Zentrumringe von nur Gold und Silber umeinander geordnet.“
1848 nimmt er am Aufstand gegen die Obrigkeit teil und gibt seinen Adelstitel ab. Ein Jahr später ist seine Krankheit so weit fortgeschritten, dass eine Entmündigung eingeleitet wird. Der Amtsarzt klassifiziert ihn als „Halbnarren“ mit fixen Ideen. Am 10. Dezember 1851 stirbt er und wird unbeachtet auf dem Karlsruher Friedhof beerdigt. Im Nachlass fanden sich eine Kochmaschine, ein Ofenmodell, eine Schnellschreibmaschine und ein Veloziped. Vierzig Jahre später weihte der Deutsche Radfahrerbund ein Denkmal für ihn ein.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
Ebeling, Hermann. Der Freiherr von Drais. Das tragische Leben des „verrückten Barons“. Ein Erfinderschicksal im Biedermeier. Karsruhe: G. Braun 1985. Diesem Buch entstammen die meisten Zitate aus den Schriften des Barons.
Krausse, Joachim. „Das Fahrrad. Von der kindischen Kombinatorik zur Montage“, in Wolfgang Ruppert, Hg. Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge. Frankfurt/M.: Fischer 1993.
Lessing, Hans-Erhard, Hg. Ich fahr‘ so gerne Rad… Geschichten von der Lust, auf dem eisernen Rosse dahinzujagen. München: dtv 1995.
—. Automobilität. Karl Drais und die unglaublichen Anfänge. Leipzig: Maxime 2003.
Priebe, Carsten. Carl Drais von Sauerbronn. Lebensgeschichte eines verkannten Erfinders. Books on Demand 2001.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.


