Ein indischer Blick auf griechische Mythen: Olympus von Devdutt Pattanaik

Keine Gesellschaft kann ohne Mythen leben. (Devdutt Pattanaik)

Neil Gaiman, SF- und Fantasy-Autor und Mythologe, ist in Indien sehr populär. 2019 gab er dort ein Interview, in dem er bekannte, gerade einen indischen Autor gelesen zu haben, der die griechische Mythologie aus indischen Augen dargestellt habe – was ihn zutiefst begeisterte, zumal wir so wenig wissen über die die Mythen des Subkontinents. Gaiman meinte das Buch Olympus von Devdutt Pattanaik.[1] Ich selbst stieß am Flughafen in Chennai/Madras erstmals  auf diesen Namen, vor etwa 10-15 Jahren. Er thront auf Büchern mit mythischen Titeln: Shiva, Ramayana, Mahabharata, Hanuman der Affe, Ganesh, der Elefantengott u.a. Davon sind meines Wissens bislang nur zwei auf Deutsch erschienen: Frauen in indischen Mythen und Meine Gita, in dem es um die Bhagavad Gita geht. Insgesamt dürfte er über 50 Bücher mit solchen Inhalten geschrieben haben – etwa auch Mythen für Kinder nacherzählt oder Lebensweisheiten aus Mythen für Führungskräfte und uns alle. Das erste Foto von ihm, das ich sah, erinnerte mich an Hape Kerkeling, mit dem er den Humor sowie die sexuelle Orientierung zu teilen scheint.[2] Vielleicht die richtige Einstellung zu den Mythen, die voller Travestie und Diversität sind. Mir fielen die Bücher auch wegen der Grafik auf dem Umschlag und der Illustrationen im Text auf: ein eigener ornamentaler Stil mit humoristischem Einschlag, die unmöglichsten Wesen darstellend, von Göttinnen, Chimären, Tieren, Früchten, alten und jungen Menschen bis zu fliegenden Ungeheuern auf der Milchstraße des Mythos. Auch diese Zeichnungen stammen von Pattanaik, ein untrügliches Zeugnis seines offenen Geistes, seines immer durchzwinkernden Blickes auf die Welt. Ach ja, und er wurde 1970 in Mumbai geboren und ist als Arzt ausgebildet, arbeitet aber derzeit u.a. als Unternehmensberater, der indische (und andere) Weisheit für die Wirtschaft fruchtbar macht. Die Mythen aber sind seine eigentliche Leidenschaft. Nach und nach legte ich mir seine Bände zu, die mir – ein anderes Thema –, die indische Mythologie erklärten, indem sie zugleich neue, moderne Schlaglichter auf die alten Geschichten warfen. Von den Indologen werden die Werke hierzulande kaum beachtet, ebensowenig wie die über 400 Comichefte der Serie Amar Chitra Katha, die seit 1967 indischen Kindern Mythen und Geschichte erklären. Pattanaik liefert dazu gleichsam die Deutung und Kontextualisierung (mit einem kritisch-reflexiven Standpunkt). Er arbeitet im Bestsellersegment, das die Wissenschaft gerne umgeht, ist aber dennoch aus meiner Sicht ein seriöser Autor, der seine Quellen kennt. Die Spezialisten mögen Haare in der Suppe finden, doch die Suppe bleibt notwendig und nährend.

Hier geht es mir als vergleichendem Mythologen nur um eines seiner Werke, in dem er selbst als Komparatist arbeitet, das von Neil Gaiman gelobte Olympus – eine indische Sicht auf die griechischen Mythen.[3] Es wurde auch Zeit, dass wir einmal etwas hören von der anderen Seite, nachdem wir (unsere westlichen Interpreten) seit Jahrhunderten unsere Weisheiten und Ignoranz (warum gibt es keinen Plural dafür?) über die Mythen der anderen ausgegossen haben. Ein solcher Vergleich von beiden Seiten ausgehend könnte ein wichtiger Schritt sein in Richtung gegenseitiges kulturelles Verständnis. Wieviel falsche Politik wird heute getrieben, weil unsere Repräsentanten und ihre Berater nicht die Mythen der anderen kennen! Interkultureller Dialog, wie er so schön gefordert wird, sollte mit den Mythen beginnen, denn sie verdeutlichen Selbst- und Fremdbilder und Werte wie kaum ein anderes kulturelles Medium. Und sie sind Ausdruck von kollektiven Welterklärungen, die ins Unterbewusste reichen und somit eine große produktive wie gefährliche Kraft haben.

Das Coverbild zwinkert übrigens tatsächlich: es zeigt das trojanische Pferd, in dem kleine Fenster eingelassen sind, aus denen Helden und Schlitzohren schauen, manche sehen aus wie indische Heroen oder Hercule Poirot mit seinem gezwirbelten Schnurrbart. Pattanaik hat sich Großes vorgenommen und leistet auf 265 Seiten grandiose Arbeit. Zuerst gibt er einen geschichtlichen Abriss über das Verhältnis des Westens zum Mythos. Heute sehe sich dieser Westen als postmythisch und postreligiös, postheroisch dazu. „Aber das mythische Auge stimmt nicht zu“ (xix). Das mythische Auge sieht durch die oberflächlichen Strukturen westlichen Denkens die mythische Matrix, die weiterhin in uns arbeitet. Grundsätzlich, wenn man verallgemeinern darf: der Westen suchte mit der Aufklärung das Licht und die Wissenschaft, während die indischen Weisen das Helle ebenso wie den Schatten als Teil der Schöpfung ansahen und sich daher für die große Vielfalt und nicht das einem einförmigen Ziel untergeordnete westliche Denken entschieden. Man kann dies auch als Folge eines polytheistischen Entwurfs deuten, dem der abrahamitische Monotheismus mit seiner Fixierung auf das Eine widersprach.

Pattanaik bettet sein Panorama des griechischen Mythos selbst in eine Erzählung ein. Alexander der Große ist der Gewährsmann für einen ersten Brückenschlag zwischen Europa und Asien. Auf seinen Kriegszügen trifft er einen indischen „Gymnosophen“ oder Yogi (Swami), der nicht versteht, warum dieser Fürst die Welt erobern will. So erzählt Alexander ihm nun die Mythen, mit denen er aufwuchs. Werden sie seinen Drang erklären, ausgerechnet einem Asketen, der der Welt und ihren Besitzungen entsagt hat? Jedenfalls erzählt der Mazedonier nun dem Yogi von Zeus und Minos, Ödipus und Herakles, von Helena, Jason, dem Goldenen Vlies, der Odyssee und Ilias, schließlich von Aeneas, der den Mythos nach Rom weitertrug (und von dem Alexander noch gar nichts hätte wissen können, wenn der Stoff selbst nicht viel älter wäre). Jede Erzählung wird von Kommentaren des indischen Autors begleitet, in denen er vergleichende Reflexionen anstellt. Fangen wir mit den Titanen an, sind sie den Asuras ähnlich, Dämonen, Halbgötter, die gegen die Götter (devas) kämpfen? Ja, aber nur oberflächlich. Die ersten westlichen Indologen suchten nach Paralellen und kamen so auf die Kämpfe zwischen olympischen Göttern und den uralten Titanen. Wenn es eine indoeuropäische Sprachfamilie gibt, müssen sich die Mythen doch ähneln. Aber so einfach ist es nicht. Der Kampf zum Beispiel endet bei den Griechen mit der Niederlage der Titanen. Atlas darf seither den Himmel tragen, während die anderen in den Tartaros gestoßen werden. Aber in Indien gehen die Kämpfe zwischen oben und unten weiter, Siege und Niederlagen sind nur temporär. Und es gibt kein Konzept des Tartaros oder Hades in der Hindu-Mythologie (14).

So kann man fragen: wie halten es die jeweiligen Mythen mit dem Tod, der Unsterblichkeit, dem Sex und der Geschlechtlichkeit, mit Krieg, Gewalt, Kannibalismus oder welchen Zeitbegriff haben sie? Der Tod und die Zeit sind in jedem Fall engstens verbunden. Wenn ein griechischer Held wie Patroklos stirbt, dann setzt das eine Kettenreaktion der Rache frei. Rache und generationenübergreifende Flüche ziehen sich, oft mit Vorhersagen verbunden, durch eine große Zahl griechischer Mythen. Es ist die negative Form des Ruhms des Getöteten, der nun wie ein Held oder Halbgott verehrt wird. Ganze Zyklen, etwa die des trojanischen Krieges mit seiner Vor- und Nachgeschichte leben von dieser tödlichen Rache. In der indischen Auffassung geht es aber bei Tötungen und anderen Vergehen grundsätzlich um das Karma, das sich aus früheren Leben angesammelt hat. Sowohl die Tat als auch die Folgen sind karmisch geprägt (151). In der griechischen Kultur sammelt sich die Schuld durch die Vorfahren an, in der indischen geschieht dies durch das Ich selbst. In beiden Fällen haben wir es mit Schicksal zu tun, also mit einer Form von Determinismus. Er kann nur durch komplizierte und gefährliche Riten aufgehoben werden, wie etwa im Fall des Herakles, der sich durch die zwölf Heldentaten reinigen will.

 Inzest und Homosexualität, die sehr häufig in griechischen Mythen zu finden sind, spielen im Hindu-Kosmos, falls überhaupt, eine viel geringere Rolle. Dafür gibt es in beiden Hemisphären den Geschlechtertausch und die Travestie (Teiresias und Achilles etwa auf der einen Seite, die von den Göttern in einen Mann verwandelte Shikhandi aus dem Epos Mahabharata auf der anderen; vgl. 127). In beiden Narrativen sind Sex und Liebe von großer Bedeutung, wie auch Eifersucht und Askese oder das zölibatäre Leben – auf der einen Seite Göttinnen wie Artemis und Athene, die sich dem männlichen Begehren entziehen, auf der anderen die indischen Yogis, die in Wäldern meditieren, um dem Karma zu entfliehen.

Der menschliche Traum vom Fliegen ist gleichfalls in beiden Kulturen zu finden. Ikarus und Phaeton gehen durch Hybris oder Nachlässigkeit bei ihren Flügen zugrunde, während im Epos Ramayana zwei Geier-Brüder einen Wettflug veranstalten, der sie immer höher trägt, bis der eine an der Sonne verbrennt. Pattanaik führt noch den sumerischen Etana an, der sich auf einem Adler in den Himmel schwingt, beim Blick nach unten aber von einem Schwindel erfasst wird und abstürzt. Die Mythen lehren also vier Arten von Untergang durch Technik: Übermut, Schlamperei, Konkurrenz und Angst.

Das Buch ist voll mit hunderten von Anregungen zum Nachdenken über kulturelle Unterschiede, den Reichtum menschlicher Phantasie und nicht zuletzt ist es ein Kompendium zum Verständnis griechischer Mythologie in ihren Kontexten. Mir wurde erstmals deutlich, wie sehr bekannte Geschichten eingebettet sind in Vorgeschichten, ob es Troja ist, die Odyssee oder die Ödipus-Sage, ob die Abenteuer um das Goldene Vlies oder die Geschichten um Minos von Kreta. Eine wahrhaft umfassende Enzyklopädie, die den interkulturellen Dialog befördert. Das wird in der Widmung, die der Autor dem Buch voransetzt, besonders deutlich:

I dedicate this book to Homer, Hesiod and Socrates, and to Vyasa, Valmiki and Yagnavalkya. Each one saw the world so differently.[4]


Literaturhinweise:

Devdutt Pattanaik, Olympus. An Indian Retelling of the Greek Myths. Gurgaon: Penguin Random House India 2016. (=Seitenangaben im Text)

Interview mit D. Pattanaik: Sinha, Namya (4 July 2016). „No society can exist without myth, says Devdutt Pattanaik“. Hindustan Times. (Zugriff 25.9. 2025)


Ausgewählte Werke von Devdutt Pattanaik:

Myth=Mithya: A Handbook of Hindu Mythology. Penguin Books India, 2006.

Shiva: An Introduction. Vakils, Feffer and Simons Ltd., 1997.

Vishnu: An Introduction. Vakils, Feffer and Simons Ltd., 1999.

Devi, The Mother-Goddess: An Introduction. Vakils, Feffer, and Simons Ltd., 2000.

The Goddess in India: The Five Faces of the Eternal Feminine. Inner Traditions/ Bear & Company, 2000.

Hanuman: An Introduction. Vakils, Feffer and Simons Ltd., 2001.

The Man Who Was A Woman and Other Queer Tales from Hindu Lore. Harrington Park Press, 2002.

Hindu India. Brijbasi Art Press, 2003.

Indian Mythology: Tales, Symbols, and Rituals from the Heart of the Subcontinent. Inner Traditions/ Bear & Company, 2003.

Eden: An Indian Exploration of Jewish, Christian and Islamic Lore. Penguin Random House, 2021.

The Stories We Tell: Mythology to Make Sense of Modern Lives. Aleph Book Company, 2022.


[1] Interview mit Neil Gaiman: “I read a fantastic Indian writer recently where he told Greek myth but from an Indian perspective. What I loved about the book was that he was seeing things that I knew about from a perspective I have never encountered before. He makes it so easy to understand but what is lovely is that he does from a very proud Indian connect. It is illuminating to learn about the Vedic Period.” „Good Omens gives people different way to imagine what heaven and hell may look like: Neil Gaiman“. The Indian Express. PTI. 31 May 2019. (Zugriff 25.9. 2025)

[2] Als 2018 ein indisches Gesetzt Homosexualität entkriminalisierte, bekannte sich Pattanaik öffentlich zu seiner Orientierung.

[3] Pattanaik hat eine weitere vergleichende Analyse vorgelegt mit Eden: An Indian Exploration of Jewish, Christian and Islamic Lore (2021), ein Buch, das hier ebenso einer Vorstellung bedürfte.

[4] Valmiki soll das Ramayana, Vyasa das Mahabharata und Yagnavalkya vedische Schriften verfasst haben, alle zwischen 700 v. Chr. und 400 n. Chr.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

2 Antworten auf „Ein indischer Blick auf griechische Mythen: Olympus von Devdutt Pattanaik“

  1. Ein interessanter Blickwinkel – wie immer von Elmar Schenkel
    bildreich vermittelt.
    „Meine Gita“ von Devdutt Pattanaik soll als deutsche
    Übersetzung verfügbar sein. Mein Vorhaben das Buch
    über eine Google-Recherche zu bestelllen scheiterte, da
    dort keine deutsche Ausgabe zu finden war.
    (Allerdings war es interessant die Kritiken zu lesen.)

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