Morgenspaziergänge und die Achtsamkeit der Stille

Zuerst ist es nur ein heller Streifen im Dunkel des Horizonts. Die Nacht neigt sich dem Ende zu. Während die dunklen Stunden in der Vergangenheit vor allem Schlaf und Erholung bedeuteten, schaut heut so mancher Nachtschichtler an die Uhr und denkt sich: Noch ein paar Stunden, dann ab nach hause. Dass allgemein das Leben trotzdem tagsüber stattfindet, sorgt in unserer beschleunigten, ruhelosen Zeit bei vielen für körperliches Chaos. Auch bei denen, die nicht nachts arbeiten.

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“Geschaffen, nicht geboren” – Von Mythen und Maschinen

Wunderlich ist es doch, daß viele von uns über Olimpia ziemlich gleich urteilen. Sie ist uns … auf seltsame Weise starr und seelenlos erschienen. Ihr Wuchs ist regelmäßig, so wie ihr Gesicht, das ist wahr! – Sie könnte für schön gelten, wenn ihr Blick nicht so ganz ohne Lebensstrahl, ich möchte sagen, ohne Sehkraft wäre. Ihr Schritt ist sonderbar abgemessen, jede Bewegung scheint durch den Gang eines aufgezogenen Räderwerks bedingt. Ihr Spiel, ihr Singen hat den unangenehm richtigen geistlosen Takt der singenden Maschine und ebenso ist ihr Tanz. Uns ist diese Olimpia ganz unheimlich geworden, wir mochten nichts mit ihr zu schaffen haben, es war uns als tue sie nur so wie ein lebendiges Wesen und doch habe es mit ihr eine eigne Bewandtnis.” (E.T.A Hofmann, Der Sandmann)

Sie trägt ein menschliches Antlitz. Und doch ist sie kein Mensch. Ein Irrtum, dem der Student Nathanael in E.T.A. Hofmanns Erzählung “Der Sandmann” (erschienenen 1816) erliegt, als er sich in die als Tochter proklamierte Holzpuppe des Physikers Spalazani verliebt, die er als “himmlische Schönheit” wahrnimmt, mit ihr tanzt, ihr vorliest, sie küsst und ihr sogar einen Heiratsantrag macht. Erst später erkennt er sie und ihre “Glasaugen” als das, was sie ist: ein Automat, ein künstliches Wesen, so lebensecht, dass sie es schafft, Menschen zu täuschen und Gefühle in diesen wachzurufen, sei es glühende Verehrung oder den Schauder des Unheimlichen.

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Von heiligen Wassern und gesponnenen Fäden – Gedanken über das Schicksal

Es ist eine gewaltige, immer-sprudelnde Fontäne aus Wasser inmitten einer Höhle, schlicht, abgelegen, vergessen und blutrot funkelnd, wenn ein Sterblicher in ihr umkommt. Die Macher des Films Sindbads gefährliche Abenteuer aus dem Jahr 1973 (Regie: Gordon Hessler) haben einiges an Effekten auf die Darstellung des Schicksalsbrunnens verwendet, welchen die Reisenden um den legendären Kapitän am Ende ihres vorherbestimmten Weges aufsuchen müssen. Schicksal, Schicksal, Schicksal hat zuvor schon das Allwissende Orakel in seinem Tempel prophezeit. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss. Die Helden besiegen das Böse im letzten Moment. Dabei wird alles noch einmal in die Waagschale geworfen: Tod und Leben, Liebe und Hoffnung, Mut und Opfer. Ein wunderbarer Film, der mich seit meiner Jugend begleitet. Dem Schicksalsbrunnen wohnt darin eine eigene, unberechenbare und doch wissende Kraft inne, obwohl das Motiv in einer Sindbad-Geschichte überraschen mag. Denn Schicksalsquellen sucht man in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht vergeblich. Schon eher wird man dazu in der Nordischen Mythologie fündig. Dort wird der Schicksalsbrunnen meist als Urdabrunnen (Urdbrunnen) bezeichnet. Im Gylfagynning, einem Hauptteil der in Prosa verfassten Snorra-Edda, die auf den isländischen Skalden Snorri Sturluson (1179-1241) zurückgeht, heißt es dazu:

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"So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe …" – Der mythisch-literarische Jahresrückblick

Liebe Leserinnen und Leser des MYTHO-Blogs,

erneut geht ein Jahr mit allzu schnellen Schritten dem Ende entgegen. Und wie immer waren die vergangenen Monate geprägt von einem bekannten und allzu menschlichen Auf und Ab. Das Team vom MYTHO-Blog bedankt sich herzlich für Ihr Interesse an unseren Artikeln und unseren Themen. Wir sind überwältigt vom Zuspruch, den wir erfahren, und freuen uns darauf, Sie auch im nächsten Jahr allfreitaglich mit mythischen, literarischen und kulturellen Neuigkeiten zu versorgen.

2020 dreht sich in unserem Jahresthema alles um das 25-jährige Jubiläum des Arbeitskreises und um Fabelwesen. Dazu werden wir mit kleinen Beiträgen auch regelmäßig in unserem “Bestiarium” informieren, wo wir fantastische Wesen aus aller Welt und aus allen Zeiten, vom Pegasus bis zur Meerjungfrau und vom Riesen bis zum Cyborg, vorstellen.

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"Ich bin Circe" – Weibliche Irrfahrten durch die Griechische Mythologie

Fast jeder kennt die Irrfahrten des Odysseus, von denen der griechische Dichter Homer in seiner “Odyssee” berichtet. Gemeinsam mit der “Ilias” gehört das Epos sowohl zu den ältesten als auch zu den berühmtesten Dichtungen der abendländischen Literatur. Folgt man der Poetik des Philosophen Aristoteles, ist der Inhalt schnell erzählt: “Jemand weilt viele Jahre in der Fremde, wird ständig von Poseidon überwacht und ist ganz allein; bei ihm zu Hause steht es so, daß Freier seinen Besitz verzehren und seinem Sohn nachstellen. Er kehrt nach schweren Bedrängnissen zurück und gibt sich einigen Personen zu erkennen; er fällt über seine Feinde her, bleibt selbst unversehrt und vernichtet die Feinde”. (Aristoteles, Poetik, 17)

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Verwandlung

“Von den Gestalten zu künden, die einst sich verwandelt in neue
Körper, so treibt mich der Geist. Ihr Götter, da ihr sie gewandelt,
Fördert mein Werk und lasset mein Lied in dauerndem Flusse
Von dem Beginne der Welt bis auf meine Zeiten gelangen!”

(Ovid, Metamorphosen, Buch 1, Vs. 1-4)

Alles um uns herum befindet sich in steter Veränderung. Jeder Aspekt unseres menschlichen Lebens führt uns das Tag für Tag vor Augen, und dennoch tun sich die meisten Menschen mit Veränderungen eher schwer. “Das Leben gehört den Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefasst sein”, sagte Johann Wolfgang von Goethe, wobei er wohl eher auf den eben beschriebenen, täglichen Umgang mit dem steten Fluss des Neuen anspielt, als die Verwandlung einer jungen Frau in eine Kuh.

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Eros und Aphrodite

Alles sei voll von Göttern, soll der griechische Philosoph Thales von Milet (6. Jahrhundert v. Chr.) gesagt haben. Er blieb damit, auch wenn er dieser Behauptung eine abstraktere, nicht-wörtliche Bedeutung gegeben haben mag, der Weltsicht seiner Zeitgenossen verbunden. In der Tat fassen polytheistische Weltbilder – und die alten Griechen waren ja Polytheisten – ihre Götter nicht als transzendente Wesenheiten auf, die der Welt gegenüberstehen, sondern als Teil der Welt. Und in diesem Sinne hatte das, was wir Natur nennen, teil am Göttlichen, und Götter wirkten auch hinein in die Lebensvollzüge der Menschen. Sie wachten über die einzelnen Lebensbereiche, wenngleich sie häufig zu komplexe Gestalten waren, als dass man sie restlos mit einer Funktion hätte identifizieren können. Für das, was man im weitesten Sinne Liebe nennen kann, waren zwei Gottheiten zuständig: Eros (Liebesbegehren) und Aphrodite. Sie haben die Antike überlebt und sind nicht zuletzt durch die Kunst des Abendlandes bis heute populär: die schöne junge Frau und ihr knabenhafter Begleiter, der meist mit Pfeil und Bogen und oft auch geflügelt dargestellt wird. Freilich sind sie auf ihrem langen Weg auch zu puren Versinnbildlichungen, zu Allegorien geworden. Für die antike Welt aber waren sie mehr.

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