Michael Köhlmeier, 1949 im österreichischen Vorarlberg geboren, gehört zu jenen Erzählern, die heutigen Lesern die Mythen nahebringen. Er tut dies mit Witz, psychologischer Einfühlung und sprachlicher Genussfähigkeit – Eigenschaften, wie wir sie vor allem in den gegenwärtigen anglo-amerikanischen Zugängen zur Mythologie kennen, sei es bei Neil Gaiman, Stephen Fry, Natalie Haynes oder Marie Phillips. Zugleich ist er Autor von Romanen und Essays, Reflexionen zu Märchen und Mythologie und Dialogpartner des österreichischen Philosophen Konrad Liessmann.
Nach der Lektüre oft betulicher und tiefschürfender Mythendarstellungen wehte mir bei Köhlmeier ein frischer Wind um die Nase. Man merkt ihm an, dass er viel Erfahrung als Autor von Romanen gesammelt hat, so souverän beherrscht er seinen Stoff. Dazu die richtige, das heißt anschauliche Sprache und knappe, lakonisch-komische Dialoge der Figuren, die jedes Kind verstehen würde. Was hat er nicht schon alles nach- oder besser, neu erzählt! Die Nibelungen, Geschichten aus der Bibel, Shakespeare oder das neue Testament – und dieses aus der Sicht des ungläubigen Thomas. Mit letzterem wählt er sich einen zeitgemäßen Erzählstandpunkt, einen, der zu ihm passt, zu seiner eigenen zweifelnden Weltsicht. Aber diese öffnet ihm erst den Blick erst öffnet auf Wunden wie Wunder, also das, was den Menschen eigentlich ausmacht. Wer staunt, bei dem hat sich was gestaut. Köhlmeier war wohl immer ein Staunender, bei all den Geschichtstöpfen, die man ihm vorgesetzt. Im Studium einerseits sich links verstehend, andererseits sich für Märchen begeistern (vgl. sein Buch Von den Märchen, 2018) – das ging für seine Zeitgenossen gar nicht zusammen. Ich möchte hinzufügen: insbesondere in Deutschland. Ich hatte ähnliche Erfahrungen in der damals roten Universität Marburg gemacht und war sehr erfreut, als ich bei meinem Aufenthalt in England ganz andere Einstellungen fand. Sie machten es möglich, Linkssein mit Ökologie und Märchen- und Mythenforschung zu verbinden oder gar die Möglichkeit von fairies und goblins oder Reinkarnation mit wissenschaftlichen Haltungen zu vereinbaren. Das war Anfang der 1970er Jahre, da wurde in Deutschland, egal von welcher Seite, immer noch „gemustert“ und kompromisslos in Entweder-Oder geschieden.
Solches Wundern über Geschichten, solcher Möglichkeitssinn trifft auch auf Köhlmeiers Nach-Neu-Erzählung der griechisch-römischen Mythen zu, die unter dem Titel Das große Sagenbuch des klassischen Altertums 2002 erschienen sind. Was ist Sage, was ist Mythos? Ich weiß nicht, ob der Titel von ihm oder vom Verlag stammt – jedenfalls spielt er auf einen großen Vorgänger an. Viele Ältere sind mit ihm noch aufgewachsen, oft in Form von Schullektüre, nämlich den Nacherzählungen eines schwäbischen Pfarrers und Lehrers, der damit ganze Generationen unterhielt oder langweilte (wie mich, ich gebe es zu). Es handelt sich um Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums von 1838-1840, die auch einmal aus heutiger Sicht unter die Lupe genommen werden sollten.[1] Die Anlehnung von Köhlmeiers Buch an diesen klassischen Titel deutet an, dass genau dies der Falls sein könnte: seine Neu-Erzählung schaut in die Lücken der Überlieferung und wirft Lichter auf die dunkel gebliebenen Stellen in Schwabs Fassung für die Jugend der Biedermeierzeit. In der finden wir uns ja gelegentlich immer noch wieder, oh Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen!
Köhlmeier durchwandert entspannt, erstaunt, empört die verschiedenen mythischen Zyklen: Kreta und Ödipus, Europa und Kadmos, bevor er überhaupt zur Entstehung der Welt kommt. Urchaos und Schöpfung haben erstmal zurückzutreten, und zwar vor dem Sänger und Musiker, den Flöten- und spielern, wie Marsyas, Orpheus und Apollo. Sie sind es ja die diese Geschichten erhalten und verbreitet, vertieft und so aufbereitet haben, dass alle die Ohren spitzen, so wie wir es tun, wenn wir Köhlmeier nun lesen oder ihm auf seinen Hörbüchern lauschen. Anders ausgedrückt: er macht uns erstmal mit den Medien vertraut, bevor er die Vorhänge lüftet, denn alles Verstehen ist eine Frage der Vermittlung. Also kommt erst das Nächste, dann das Übernächste, und erst dann der Beginn von allem. So geht er spielerisch und souverän mit Stoff und Lesern um. Nach 70 Seiten also endlich die Entstehung der Welt, zu den Göttern, Titanen und Menschen, von Perseus und Tantalos zum Krieg um Troja. Von der Ilias zur Odyssee, zurück zu Eos, der Morgenröte, zur Sintflut und den Giganten. Herakles verdient sich drei Kapitel, dann die Argonauten mit Jason auf der Jagd nach dem Goldenen Vlies, Medea… Nun wieder Troja, aber sein Untergang, Aeneas, den es von dort nach Nordafrika verschlägt, mit Dido aus Karthago eine Episode, bevor er sie im Stich lässt, um die neue Hauptstadt der Welt zu gründen, das Ewige Rom. Später wieder der Theseus-Zyklus, der sich mit Ariadne und Kreta verbindet, Glaukos, der im Labyrinth verloren geht und in einem Honigfass endet, aus dem er wieder aufersteht, Krieg um Theben, schließlich Poseidon, der sich aus seinen Gewässern so oft einmischt in die Menschengeschichte, aber es nie zu einem eigenen Zyklus gebracht hat. Das Schlusswort aber gilt einem besonderen Gott, dem Dionysos. „Besonders“ ist wohl zu euphemistisch, denn für Köhlmeier ist dieser Gott geradezu eine Bedrohung. Er steht gegen Aufklärung und Ordnung, bringt Chaos und Orgie ins Leben, Zerstörung wie Leidenschaft, aber ist auch unpersönlich: „Er gibt den Liebenden nichts, er heilt die Leidenden nicht, er dankt nicht, er tröstet nicht, er wärmt nicht. Er verspricht nur eins: Das Leben mit ihm wird außerordentlich werden.“ (598)[2]
Im Übrigen kann diese letzte Geschichte für das Buch im Ganzen stehen. Köhlmeier geht nochmal an den Anfang zurück, an die Asche der Titanen, die von Zeus besiegt wurden. Aus einem Teil dieser Asche formte Prometheus die ersten Menschen. In der Asche fand sich auch ein von Hera zerrissener Gott, Zagreus, Sohn aus einer Liebschaft des Göttervaters mit seiner Tochter Persephone. Zagreus‘ Herz wurde gerettet, er war der Liebling von Zeus und hieß der „eingeborene Sohn“, eine Bezeichnung, die das Christentum für Jesus übernahm. Zeus lässt seine neue Geliebte Semele dieses Herz essen. Hera, verkleidet, überredet Semele, ihren Liebhaber zu fragen, wer er denn sei. Zeus sträubt sich, gibt am Ende aber nach und verstrahlt die arme Semele mit seiner göttlichen Sonnenkraft. Aber bevor sie vor seiner Herrlichkeit ganz verbrennt, rettet er den Fötus, der in ihr aus dem Herzen des Zagreus gewachsen war ist – und trägt ihn selbst in seinem Körper aus! Der Vater als Mutter, darin sieht Köhlmeier den absoluten Sieg des Patriarchats, so wie ja Zeus auch Athene gebären wird. Man könnte diesen Akt auch als Vorstufe zum Frankenstein-Mythos sehen, wobei der „Vater“ und sein Monster selbst wieder Söhne einer Frau, nämlich der Autorin Mary Shelley, sind. Jedenfalls entspringt eines Tages dem Schenkel des Zeus ein Zweimalgeborener, ein „Dionysos“. Aus der frühen Geschichte dieses neuen Gottes wird ersichtlich, dass Unheimliches und destruktive Kräfte am Werk sind. Sie führen unter anderem zur Opferung von zwei Kindern, die zuletzt jedoch von einem fliegenden Widder gerettet werden. Dessen goldenes Fell wiederum führt als das Goldene Vlies in die Geschichten um Jason und die Argonauten.
Köhlmeiers Vorgehen hat drei Charakteristika. Er zeigt uns erstens mannigfache Vorgeschichten, die in die bekannten Mythen zurückführen. Die Mythologie erweist sich als gigantisches Erzählnetzwerk, wo eines mit dem anderen zusammenhängt. Etwa, dass man den Trick, Troja mit dem hölzernen Pferd zu erobern, einem gefangenen trojanischen Hellseher unter Folter auspresste,während die gängige Meinung, es sei Odysseus‘ Idee gewesen, erst spätere Autoren verbreiteten.
Zweitens deckt er die ganzen Schweinereien auf, die Katastrophen, Tabubrüche, Verbrechen, die in dieser Schatz- und Schmutzkammer menschlicher Phantasie, den griechischen Mythen stecken: sei es Ver Kannibalismus, Inzest, Päderastie oder Rache, Eifersucht, Zwang, ebenso wie Mord, Hinterhältigkeit, Konkurrenz, Machtgier und vieles mehr, was den homo sapiens zu einer so gefährlichen wie trickreichen Spezies gemacht hat. Dazu kommen höchst transhumanistische Praktiken, wie das Austragen von Kindern durch Männer, die neuronale Elastizität, die Verwandlungen von Mensch in Tier oder deren Kombination sowie Geschlechtsumwandlungen ermöglicht. Kosmische Kriege, Götter wie Aliens, Verbrennen durch Verstrahlung, Verewigung von Helden und Göttinnen, indem sie zu Sternbildern werden, runden das Spektrum ab. Natürlich gibt es auch edle Züge, naive Figuren, Liebe und Treue, Eros und Schönheit, sonst wäre das ganze Spektakel auf Erden wohl sinnlos. Und drittens: Köhlmeier vergleicht seine Erzählungen gerne mit anderen Narrativen, etwa dem Gilgamesch-Epos oder der Bibel. So wird Dionysos aus verschiedenen Gründen mit Jesus verglichen.
Aber der Autor erlaubt sich auch Urteile, er nimmt Abstand, ist empört oder begeistert. Etwa,als das Orakel von Delphi dem Adrastos rät, seine beiden Töchter einem Löwen und einem Eber zur Frau zu geben. Gedeutet werden die Tiere in diesem Spruch als die zwei feindseligen Brüder Polineikes und Tydeus, die Adrastos mit der Gabe seiner Töchter beschwichtigen will. Köhlmeier: „Manchmal, ich muss es sagen, manchmal widern sie mich an, diese Helden, wenn sie mit ihren Frauen und Töchtern handeln, als wären Frauen und Töchter Kleingeld“ (567). Das wird vielen Lesern und Leserinnen ebenso gehen, aber sie fühlen sich in diesem Moment nicht alleingelassen mit ihrer Empörung. So baut der Autor immer wieder Brücken zur Gegenwart, frischt die Einstellung der Lesenden auf und bringt etwas Dialogisches in seine Texte. Dialoge aber gelingen nur mit gegenseitiger Neugier, denn die“ Neugierde ist eine Meisterin des Erzählens.“ (550)
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
Literaturhinweise:
Groß, Jonathan. Antike Mythen im schwäbischen Gewand. Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums und ihre antike Quellen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024.
Kerényi, Karl. Urbild des unzerstörbaren Lebens (1976). Neuauflage: Stuttgart: Klett& Cotta 1994. empfohlen.
Köhlmeier, Michael. Das große Sagenbuch des klassischen Altertums. München: Piper 2002. (Auf diese Ausgabe beziehen sich die Zahlen in Klammern).
—. mit Konrad Paul Liessmann. Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam? Mythologisch-philosophische Verführungen. München 2016.
—. Von den Märchen. Eine lebenslange Liebe. Innsbruck/Wien: Haymon 2018.
Anmerkungen:
[1] Im 19./20. Jahrhundert wird das Leben mit ihm in der Tat außerordentlich, nachdem sich Nietzsche wieder auf ihn berief in seiner Geburt der Tragödie. In seinem Gefolge finden sich dann zahlreiche Bewegungen im Theater oder Tanz, in Poesie, Drama, Malerei und Musik, zum Beispiel bei den Tänzerinnen Isadora Duncan und Valentine de Saint-Point, die 1912 ein Futuristisches Manifest für Frauen publizierte, in dem sie diese aufforderte, als wütende und lustbetone Mänaden einem neuen Dionysos zu folgen. Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Gott sei Karl Kerényis Studie Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens (1976, Neuauflage1994) empfohlen.
[2] Inzwischen ist eine umfangreiche Studie von Jonathan Groß erschienen: Antike Mythen im schwäbischen Gewand. Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums und ihre antike Quellen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.



Vielen Dank für die Rezension.
Hat mich wirklich neugierig gemacht, mal wieder die alten Griechengeschichten zur Hand zu nehmen. Ist ja bald Weihnachten, Zeit zum Lesen.
Bei Youtube lassen sich die Folgen von Michael Köhlmeier über die griechische Mythologie finden (der BR hatte dort die Regie). Im Zusammenhang mit den Mythologien und Religionen, bin auch selber auch immer wieder empört (schockiert). Warum? Da geht es oft extrem grausam zur Sache. Beispiel:
Da gibt es einen Sohn des Ares mit dem Namen Tereus (thrakischer König). Der halft einst dem Pandion I bei der Verteidigung von Attika. Später gab Pandion I aus Dank dem Tereus seine Tochter Prokne zur Gemahlin. Prokne bekam Sehnsucht nach ihrer Schwester Philomele. Tereus reiste von Thrakien nach Attika, um Philomele zu holen. Auf dem Rückweg vergewaltigte er Philomele und sperrte sie in einer Waldhütte ein. Damit sie nichts sagen kann, schnitt er ihr die Zunge raus. Es kam trotzdem alles raus und Prokne und Philomele zerstückelten Itys, Sohn des Tereus. Im Anschluss aß Tereus die Glieder von seinem eigenen Sohn…echt grausam und scheußlich ->
https://www.mythologie-antike.com/t1053-tereus-mythologie-sohn-des-ares