„Es war einmal…“ –  „Dawno, dawno temu…“ – „Bylo nebylo…“ – Die bunte Welt polnischer und tschechischer Märchen und Legenden: Teil 1

Hübsch fängt das Übel an, nur ist sein Ende fatal: / Der Ochs verweigerte im Lenz den Pflug zu ziehn, / Im Herbst ließ er die Ernte stehn im Weizental, / Im Winter fehlte Brot – da aß der Bauer ihn. (Ignacy Krasicki, Der störrische Ochs)

Vor mir Nebel, hinter mir Nebel, über mir die Sonne! (Božena Něcová, Aschenbrödel)

Polen und Tschechen erfreuen sich, so wie viele andere Völker in Mitteleuropa auch, eines seit Jahrhunderten liebevoll von Generation zu Generation weitergegebenen und liebevoll bewahrten Märchenschatzes. Märchen reichen mit ihren metaphysischen Wurzeln weit ins Mythische, in die Volksmythologie zurück. Sie sind bis heute Mittel geblieben, den Sinn des Lebens zu hinterfragen, zu erheitern, zum Nachsinnen anzuregen, sich als Leser bezaubern lassen, die Phantasie anzuregen, zu träumen. Dabei gilt es im westslawischen Kontext, historische, gesellschaftliche und politische Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen Märchen entstanden bzw. festgehalten wurden. Zu berücksichtigen gilt es dabei auch die prägende Zeit nationaler Unterdrückung und Fremdherrschaft, der Verlust von Freiheit und Unabhängigkeit, herrschende Zensur und Assimilierungsversuche (Germanisierung, Russifizierung). Heute denken wir kaum mehr über die Etymologie des Wortes Märchen nach. Seit Ende des 17. Jahrhunderts gilt das Wort “Mär“ in der Bedeutung von Geschichte bzw. Erzählung als veraltet; die Verkleinerungsform Mär-chen wird seitdem zumeist – in Abgrenzung von einer wahren, authentischen Geschichte bzw. Erzählung – als erfundene, unwahre,  phantasievolle Geschichte mit Happy End aufgefasst, in der Wunder geschehen, Tiere sprechen können und menschliche Eigenschaften besitzen. Die Mär blieb allerdings bis heute in der biblischen Mär von der Geburt Christi erhalten, so im populären Weihnachtslied von Martin Luther: Vom Himmel hoch da komm‘ ich her. Ich bring euch gute neue Mär…, der guten Mär bring ich so viel, davon ich sing’n und sagen will. Erwähnung finden sollte auch ein literarisches Werk des lange Zeit im Dresdner Exil lebenden polnischen Schriftstellers und Historikers Józef Ignacy Kraszewski, der 1876 einen Roman über die alte, legendäre vorchristliche polnisch-litauische Geschichte im 9. Jahrhundert mit dem Titel Eine alte Mär (Stara baśń, 1876) veröffentlichte.

Es ist wie in vielen anderen Fällen dem Sammlerfleiß von Dichtern und Dichterinnen zu verdanken, dass diese zuvor nur mündlich überlieferten Geschichten gesammelt und für die Nachwelt schriftlich festgehalten wurden. Märchen und Legenden sind, unabhängig von der Sprache, in der sie verfasst wurden, untrennbar mit der jeweiligen Landeskultur verbunden;  das trifft vor allem für das zweisprachige Böhmen zu. Während im deutschsprachigen Kontext diesbezüglich die Gebrüder Grimm, Ludwig Bechstein und Wilhelm Hauff als Märchensammler eine wichtige Rolle spielten, ist es im böhmisch-tschechischen Kulturraum die gebürtige Wienerin Božena Němcová (1820-1862) wie auch der tschechische Archivar und Historiker Karel Jaromír Erben (1811-1870), denen Sammlungen der schönsten Märchen ihrer Heimat zu verdanken sind. Wie einst die Gebrüder Grimm bereiste Henryk Oskar Kolberg (1814-1890) im 19. Jahrhundert Polen, sammelte Märchen und Geschichten aus unterschiedlichen Regionen und schrieb sie fast unverändert nieder. Zu den großen Märchensammlern im polnischen Kontext sollte auch der polnische Schriftsteller, Historiker und Verleger Kazimierz Władysław Wójcicki (1807-1879) erwähnt werden. Im Zuge der polnischen Romantik bzw. der tschechischen nationalen Widergeburt kam es zu einer Rückbesinnung auf erzählte eigene Volksmärchen, Sagen und Legenden.

Dabei war, bedingt durch Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit in den böhmischen Ländern, eine eindeutige Grenzziehung zwischen Themen und Motiven polnischer, tschechischer und deutschsprachiger Märchen kaum möglich. Hinzu kamen auch starke Einflüsse des vorchristlichen Volksglaubens und der Mythologie der Nachbarvölker, u.a. der Slowaken und Polen, die zu einer Vermischung von Märchen und Legenden beitrugen. Es war der tschechische Märchenfilm, der seit den 1950er Jahren zur Verbreitung und Popularisierung vieler klassischer Märchen beitrug. Zu ihnen gehört der zu einem Kultfilm avancierte Film von Václav Vorlíček, Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (Tři oříšky pro Popelku, 1973), der untrennbar (wie übrigens auch russische Märchen) mit der Weihnachtszeit verbunden ist. Dabei geht der Film auf Božena Němcovás gleichnamiges Märchen Drei Haselnüsse für Aschenputtel (Pro Popelku) zurück; der Einfluss des deutschsprachigen Märchens Aschenputtel ist nicht zu leugnen. Die Dominanz bestimmter Märchen und Legenden mit Kultstatus könnten darüber hinwegtäuschen, dass es viele andere, ebenso lesenswerte Erzählungen und Legenden gibt, die zwar weniger bekannt, aber dann bei der Lektüre doch vertraut erscheinen. So gibt es auch in den polnischen und tschechischen Märchentexten Magie und Hexerei, treten Zwerge und Riesen, Zauberer und Hexen, Könige, Prinzen und Prinzessinnen, Fabeltiere sowie Wassergeister und Nixen auf. Zunächst scheint die Präsenz der Wasserwesen in der slawischen Mythologie und Märchenwelt aufzufallen. Tatsächlich spielt das Wasser in Gestalt von Seen, Flüssen, Teichen, Weihern und Brunnen eine durchaus wichtige Rolle für Wesen aus einer anderen, fremden Welt: weibliche Naturgeister wie die zauberhaften Wilen (Vilen), die mit ihnen verwandten, verhängnisvollen Rusalken (Nixen), die männlichen Wassergeister, vor allem der Wassermann, Nöck oder Nix. Für die alten Slawen, die gern an Wasserwegen siedelten, stellte das Wasser ein wichtiges Lebenselement dar, das die Quelle des Lebens symbolisierte und für Reinheit, Fruchtbarkeit, magische und spirituelle Kraft stand. Allerdings besaß das Wasser, wie auch die Existenz mythischer und märchenhafter Wesen aus der Wasserwelt, kein alleiniges Merkmal entsprechender Texte. So weist die slawisch-tschechisch-polnische Wassernixe durchaus zahlreiche Ähnlichkeiten mit Andersens kleiner Meerjungfrau auf; sie entstammt aufgrund geographischer Gegebenheit allerdings nicht dem Meer, sondern einem Fluss oder einem seerosenüberwachsenen Teich, in den sie ihren wankelmütigen irdischen Liebhaber in Folge ihres Nixenkusses ins nasse Grab hinab zieht. Der erfolgsgekrönte tschechische Film Malá mořská víla (Die kleine Seejungfrau, 1976) gilt als Klassiker der Verfilmung von Andersens beliebtem Kunstmärchen Die kleine Meerjungfrau. Dabei ist die betörende Stimme, der Gesang, der eigentliche Ursprung ihrer exotischen Schönheit. Für die Verfilmung war Antonín Dvořáks Rusalka, mit dem Untertitel Ein lyrisches Märchen, von großer Bedeutung. Der Komponist nutzte für sein musikalisches Werk über eine große romantische Liebe mit einem tragischen Ende eine Märchenkompilation von Jaroslav Kvapil, die deutliche Bezüge auf ähnliche Motive aus der europäischen Kultur aufweist. Erinnert sei an Friedrich de la Motte-Fouquet: Undine, an Richard Wagner: Drei Rheintöchter: Wellgunde, Woglinde, Floßhilde aus dem Ring des Nibelungen, an Hans-Christian Andersen: Die kleine Meerjungfrau wie auch die altfranzösische Sage von der schönen Melusina, eine Liebesgeschichte zwischen einer Meerjungfrau und einem Rittersmann. Dvořáks Wassernixe sehnt sich nach einem menschlichen Wesen, nach einem irdischen Geliebten. Ihre romantische Liebessehnsucht kommt im berühmten Lied an den Mond zum Ausdruck. Der begehrte Prinz schließt einen Vertrag mit Ježibaba (die tschechische Version der „Baba Jaga“). So erhält Rusalka schließlich menschliche Gestalt, verliert aber als Preis dafür ihre schöne, betörende Stimme, sie muss von nun an stumm bleiben. Die angedachte Hochzeit wird verhindert durch eine fremde, mysteriöse, geheimnisvolle,  verführerisch-schöne Fürstin quasi als irdische Rivalin, für die nur Verführung und Koketterie als Spiel gilt. Der Prinz, der die Hochzeit ausschlägt, versucht Rusalka zurückzugewinnen. Nach ihrer Wandlung in ein menschliches Wesen bleibt Rusalka die Rückkehr in die Wasserwelt verwehrt, sie muss fortan als todbringendes Irrlicht am Wasser umherirren. Reumütig erscheint der Prinz und bittet Rusalka um Vergebung. Es kommt zum letzten, tödlichen Kuss, der Prinz stirbt in Rusalkas Armen und versinkt im Wasser.

Um eine Wassernixe geht es auch in der volkstümlichen Legende über die Gründung der polnischen Hauptstadt Warschau. Von der Ostsee kommend, schwamm sie die Weichsel flussaufwärts. Ermüdet bettete sie ihr schönes Haupt auf dem sandigen Ufer des Flusses, dort, wo sich heute die Warschauer Altstadt befindet. Sie, die Seejungfrau war es, die dem Fischer Wars und dessen märchenhaft schönen Gemahlin Sawa befahl, eine Stadt am Weichselfluss zu errichten, die sie für immer beschützen würde. Dabei soll auch Sawa ursprünglich eine in der Weichsel beheimatete Meerjungfrau gewesen sein, die mit ihrem Gesang den Fischersmann betört hatte. Aus ihrer beider Vornamen wurde letztendlich der Name der Stadt gebildet: War-S(z)awa (Warschau). Bis heute ist die wehrhafte Nixe auf dem Stadtwappen Warschaus zu sehen, barbusig und mit einem Fischschwanz, in der einen Hand trägt sie einen Schild, in der anderen ein Schwert. Ihr Denkmal steht heute auf dem Marktplatz der Warschauer Altstadt.

Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte


 © Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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