Der Gründungsmythos der Insel
Sehr lange währte die Abgeschiedenheit der heute im Zuge der italienischen Einigung von 1860/61 zu Italien gehörenden Sardinien. Sie bestimmt viele Eigenheiten der Geschichte, Kulturgeschichte und sprachlichen Entwicklung dieser Mittelmeerinsel. Die weitreichende Isolation ist zweifelsohne ein Grund dafür, dass die reiche, weit in vorchristliche Zeiten reichende Mythologie Sardiniens mit ihren Narrativen, Volksriten und Bräuchen überleben und bis heute eine maßgebliche Rolle in der sardischen Geschichte, Literatur und Kultur spielt. Die Entstehungsgeschichte wie auch die Namensgeschichte Sardiniens ist untrennbar mit den Mythologien unterschiedlicher Völkerschaften und Kulturen verbundenen, deren geheimnisvoller Ursprung oft bis heute ungeklärt geblieben ist.
So weiß eine uralte Legende zu berichten, dass die Götter, bzw. Gott in der nachfolgenden christlichen Interpretation, bei der Erschaffung der Erde Sardinien vergessen hatten. Es waren die Engel, die Gott erst darauf aufmerksam machten, dass da ein Platz im Mittelmeer leer geblieben war. Da aber Gottes Baumaterial bereits aufgebraucht war, nahm er von jedem von ihm bereits geschaffenen Kontinent ein wenig vom Allerbesten. All das fügte er zu einer harmonischen Einheit und setzte nachfolgend seinen Fußabdruck auf sein Werk. Der göttliche Fußabdruck, der einer Sandale glich, bestimmt die Gestalt Sardiniens. Mit ihren atemberaubenden Landschaften, majestätischen Bergen, sanften, grünbewaldeten Hügeln, fruchtbarem Weide- und Ackerland, Wüsten, magischen Buchten und herrlichen Sandstränden gleicht die Insel tatsächlich einem Minikontinent. Der aus dem Griechischen abgeleitete Name für die Insel lautete „Ichnusa“ bzw. „Sandalion“. „Ichnusa“ heißt übrigens auch ein seit 1912 auf Sardinien gebrautes Kult-Bier. Der christlichen Uminterpretation des Gründungsmythos Sardiniens liegt eine weitaus ältere mythische Narration zugrunde. So geht der übernommene lateinische Namen „Sardinia“ zurück auf die mythische Geschichte von einer griechischen Frau aus Sardeis bzw. Sardes, der heute in der Türkei gelegen Hauptstadt des hochentwickelten mythischen Königreichs von Lydien. Herodot hatte dieses Reich auf die Herakliden zurückgeführt und sah es als Stammland der Etrusker und Sarden an.
Die Sarden und ihre Sprache
Der Ursprung der „ethnischen“ Sarden wird u.a. bei den Iberern vermutet. Erste Zeugnisse gibt es von phönizischen Kaufleuten, welche die Gestaden der Insel besuchten und über sie berichteten. Die Sarden selbst führen ihre Herkunft auf den „Vater der Sarden“, Sardus Pater Babai zurück. Der als Gott phönizisch-punischer Herkunft geltende Sardus soll ein aus Nordafrika (Libyen) stammender Sohn des Herkules gewesen sein. Zum Herrscher der Insel avanciert, trägt die Insel bis heute dessen Namen. Auf Sardinien gefundene römische Münzen stellen den bärtigen Kopf des Sardus dar. Es soll auch Sardus Pater gewesen sein, der den griechischen Namen Ichnussa in Sardo-Sardinia veränderte. Das jedenfalls berichtet der römische Historiker Sallust/Sallustio (Gaius Sallustius Crispus). An Sardus Pater erinnert bis heute ein ihm geweihter Tempel im Südwesten Sardiniens. Eine weitere Version besagt, dass die alten Nuraghen-Sarden das legendäre, kriegerische Seevolk der Shardan/Sherden (in der phönizischen Schreibweise Šrdn/Scherden) gewesen sein könnten, das als „Sardus“ bzw. „Sarda“ Eingang in die romanischen Sprachen fand. Es gibt weiterhin eine Vermutung, dass die Sarden genetisch mit den Basken, deren Ursprung ebenfalls umstritten ist, verwandt sein könnten. Dementsprechend soll auch das Proto-Sardische und Proto-Baskische gemeinsame Wurzeln aufweisen bzw. mit dem ausgestorbenen Etruskischen verwandt sein. Die bis heute neben dem Italienischen auf Sardinien gesprochene sardische Sprache (sardu; limba sarda) bildet einen eigenständigen Zweig der romanischen Sprachfamilie. Sie weist allerdings aufgrund der langen Abgeschiedenheit Sardiniens zahlreiche phonetische und grammatikalische Gemeinsamkeiten mit dem ursprünglichen Latein wie auch viele Entlehnungen aus anderen Sprachen auf. Die sich stark voneinander unterscheidenden sardischen Dialekte wurden erst 2006 kodifiziert. So stellt die moderne gemeinsame Schriftsprache, „Limba sarda comuna“, im Unterschied zum Altsardischen, eine einheitliche Grundlage für die zeitgenössische sardische Literatur dar. Die fast ausschließlich mündliche Weitergabe der Mythen, Sagen und Legenden hatte dazu geführt, dass es mehrere Varianten ein und derselben Erzählung bzw. Helden- und Banditengeschichte gibt, die erst im Nachvollzug in sardischen Mythensammlungen festgehalten wurden. Schriftsteller und Ethnologen haben als „letzte Hüter dieser mündlichen Schätze“ zahlreiche Mythen und Legenden gesammelt und damit für die Nachwelt gerettet. Zu ihnen gehören auch die von den Alten (giajos) von Generation zu Generation weitergegebenen „Kamingeschichten“ (contos de ‘foghile).
Zu den wichtigsten Sammlungen von Mythen und mythischen Erzählungen zählt die Veröffentlichung von Gianmichele Lisai: 101 Geschichten über Sardinien, die man dir nie erzählt hat (101 cose da fare in Sardegna almeno una volta nella vita. Gli insuperabili) aus dem Jahr 2014). In dieser Auswahl befindet sich auch die Legende von Torco dem Helden von Sandalia:
„Bevor sich die Zivilisation auf Sardinien entwickelte, schützte Torco die antike Insel vor Angriffen von Feinden aus dem Meer, die sie erobern und plündern wollten. Als Sohn von Neptun, dem Gott des Meeres, verfügte Torco über eine legendäre Stärke und war ein großer Kenner der Seefahrtskunst. Unermüdlich beobachtete er die Küsten Sardiniens vom Bord eines Schilfbootes aus. Er war es, der bemerkte, dass die Insel die Form einer Sandale hatte und sie ‚Sandalia‘ taufte. (…). Torco und seinen tapferen Männern gelang es immer wieder, die Eindringlinge abzuwehren und sogar eine Seeschlacht zu dominieren, bis ein ruchloses Ereignis das Schicksal der Schlacht kippte. Atlantes Schiff rammte Torcos zerbrechliches Boot, das mit der gesamten Mannschaft in den Tiefen des Meeres versank. Die Bewohner der Insel gerieten in Verzweiflung, denn ohne den tapferen Anführer waren sie den Piraten wehrlos ausgeliefert. An diesem Punkt griff Neptun ein. Er rettete seinen leblosen Sohn, indem er ihm den Geist des Meeres in den Mund bläst, um ihn in einen Meermann zu verwandeln: halb Mensch und halb Fisch. (…) Mit neuer Entschlossenheit und Stärke stellte er sich an die Spitze der Wassermänner, mit denen er die Piratenschiffe umzingelte. Durch kräftige Bewegungen der Fischschwänze verursachten sie hohe Wellen, die die Boote der Eindringling zerschmetterten und Schiffbruch erleiden ließen. Wieder einmal wurde die Insel dank ihres Helden gerettet.“ (Sardinia Unlimited).
Möglicherweise hängt diese Legende auch mit einer vom italienischen Journalisten Sergio Frau vertretenen Hypothese zusammen. Seinen Untersuchungen zufolge könnte die abgeschottete Insel Sardinien das legendäre Atlantis Platons sein. Darauf sollen von enormen Schlammmassen bedeckte archäologische Zeugnisse verweisen, die Überreste einer möglichen Sintflut wie auch das Resultat von Erdbeben sein könnten, die aller Wahrscheinlichkeit nach die nuraghische Kultur vernichtet haben. So analysiert Sergio zahlreiche sardische geographische, anthropologische und historische Analogien wie auch Spuren und archäologische Funde, um zur Schlussfolgerung zu gelangen, dass die mythischen Säulen des Herkules bisher falsch verortet wurden. Sie sollten sich der Meinung von Sergio Frau zufolge vielmehr zwischen Sizilien und Tunesien befunden haben: ‚Atlantika‘. Eine detektivische Untersuchung des antiken Mittelmeerraums. Wo standen die Säulen des Herkules? Wer baute die geheimnisvollen Nuragen?Wo liegt das sagenhafte Atlantis? (2008). Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die sardische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Grazia Deledda, die in ihren literarischen Werken immer wieder zahlreiche Mythen, Geschichten, Legenden und Sagen Sardiniens verarbeitet. Auf Grazia Deledda nimmt die Studienarbeit von Kamala Schuetze Bezug: Sardische Legenden und Mythen in Grazia Deleddas ‚Canne el vento‘, die 2016 veröffentlicht wurde. Die Bezüge der sardischen auf die griechische und römische Mythologie sind offensichtlich, sie reichen kulturgeschichtlich gesehen weitaus tiefer zurück. Verschiedene, zum Teil rätselhafte Zivilisationen haben auf Sardinien ihre Spuren hinterlassen, dazu gehört u.a. Bezüge auf die Etrusker, Phönizier und Karthager.
Die Nuraghen-Kultur
Die geheimnisvolle nuraghische Zivilisation, benannt nach ihren charakteristischen Türmen, entwickelte sich etwa um 1600 v. Chr. in der Bronzezeit. Die Nuraghen-Kultur hatte keine eigenen schriftlichen Zeugnisse hervorgebracht, über sie gibt es allerdings auch nur wenige Überlieferungen von Vertretern anderer Kulturen.
„Sie (die Nuraghen) beobachteten die Welt um sie herum, das Meer, den Himmel, die Erde und dachten nach. Dann begannen sie geheimnisvolle Türme zu errichten, die immer komplexer und zyklopischer wurden. (…) Sie entwarfen und bauten Tausende und Abertausende Nuraghen, die einzigartig auf der Welt sind. Überirdisch gibt es über 7000 Nuraghen. Man findet sie überall auf Sardinien.“
Die Nuraghen-Türme können Residenzen, Tempel, astronomische Observatorien oder Festungsanlagen gewesen sein. Im Inneren eines solchen Nuraghen-Turms befindet sich ein sakraler, Rundbau mit einer charakteristischen Kuppel, „Tholos“ genannt. Bis heute bleiben mannigfaltige archäologische Funde auf Sardinien die wichtigsten Zeugnisse aus jener Zeit. Die imposanten Nuraghen-Türme wurden aus Steinen ohne Bindemittel errichtet. Ihr Bau wird zuweilen auch fantastischen, mythischen Wesen zugeschrieben. Zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten Sardiniens zählen neben den Nuraghen-Türmen die in Fels gehauenen 221 erhaltenen „Dolmen“, Megalithgräber und mannshohe, phallische Steinblöcke aus Basalt oder Granit, „Menhire“ genannt. Zu den mythischen Wesen, die in „Feenhäusern“ und in den Nuraghen-Türmen leben gehören u.a. Feen (Janas). Sie weben im Mondlicht goldene Fäden und wachen über den Schlaf der Kinder und der Toten im Schoß der Mutter Erde auf ihrer Reise ins Jenseits. 3500 dieser in Fels gehauenen Grabkammern, „Haus der Feen“ (Domus de Janas) genannt, befinden sich auf Sardinien. Zu den Hinterlassenschaften der Nuraghen-Kultur zählen weiterhin auch die beeindruckenden „Gigantengräber“ und die rätselhaften „Heiligen Brunnen“. Die bis heute erhaltenen 40 Quellen und Brunnenheiligtümer waren ebenfalls Ausdruck einer besonderen Totenverehrung, sie galten als geweihte Kultstätten der „Mutter Erde“, als Eingangspforten zur Unterwelt, zum Jenseits. Im Umfeld der heiligen Brunnen und Quellen befanden sich bronzene Statuetten, die wahrscheinlich dargebrachte Votivgaben darstellten. Zu den mythischen, symbolträchtigen mythischen Figuren Sardiniens zählen auch die legendären sardischen „Riesen“ von religiösem und militärischem Wert, die als Beschützer der Insel gelten. Zu ihnen gehören die beeindruckenden, bis zu 2,5 Meter hohen Statuen der Giganten von Mont‘e Prama. 1974 zufällig von einem sardischen Bauern entdeckt, stellen sie etwas Einzigartiges in der Mittelmeerkultur dar. Es handelt sich um weit in die Nuraghen-Zeit zurückdatierte Krieger, Bogenschützen und Boxer, die heute zu den wichtigsten sardischen Ikonen zählen und mit weiteren archäologischen Funden zu einer teilweisen Neuschreibung der sardischen Kunstgeschichte führen. Gerade in Sardinien kommt der grundlegenden Frage nach Herkunft und Identität angesichts einer langen, bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts dauernden Unterdrückung regionaler Kultur, Sprache und Literatur eine wachsende Bedeutung zu. So ist ein neues sardisches Selbstbewusstsein entstanden, das sich in einem wachsenden Interesse für die alten Kulturen der Insel, namentlich der Kultur der Nuraghen-Zeit ausdrückt. Dieses neue Bewusstsein zeigt sich auch in der sardischen Sprache, Musik, Kunst und Literatur, in der zunehmend mythische Narrative fortgeschrieben werden.
Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Obwohl die Sarden sprachlich indogermanisiert wurden, hat sich genetisch der vorindogermanische Menschentyp auf dieser Insel besonders rein erhalten. Deshalb titelte seinerzeit die Boulevard-Presse auch sensationalistisch: kam Ötzi aus Sardinien?