Geschichtsschreibung ist häufig tendenziös.
Der Würdigung durch Überhöhung einer Gestalt steht zuweilen die damnatio memoriae gegenüber- das bewusste Löschen aus der Erinnerung. Die Heldentaten des Großen Alexander haben diesen Welteroberer zum Mythos erhoben. Zum schwer erträglichen Mythos dagegen ist der berüchtigte Nero geworden.
Doch wer glaubt, nach Schule und Studium genügend Bescheid zu wissen, den kann die Lektüre des Buches „NERO – Wahnsinn und Wirklichkeit“ von Alexander Bätz eines Besseren belehren. Die 576 Seiten – bei Rowohlt erschienen – lesen sich spannend wie ein Krimi, ohne vom Weg strenger Wissenschaft abzukommen. Hier wird ein umfassender Blick ins römische Imperium geboten wie kaum durch ein anderes Werk. Es fällt einem wie Schuppen von den Augen, wie sehr doch die antiken Quellen, hier akribisch herangezogen, ein auffallend einseitiges Bild geliefert haben, erst Generationen nach dem Tod Neros verfasst, während zeitgleiche Berichte fehlen. Könnte unsere heutige moralische Sicht auf den ruchlosen Muttermörder also doch revidiert werden ? Dieser Gedanke lauert bei der Lektüre auf, angesichts dieser Gesamtschau in eine Welt der Schlangengruben, in der Herrschen, oft auch nur das Weiterleben, kaum ohne Mord möglich schien, um nicht selbst vergiftet zu werden. Das bittere Fazit: Nur wenige der kurzlebigen Herrscher vor und nach Nero starben eines natürlichen Todes, keiner überlebte, ohne selbst zu morden.
Nero, im Jahr 37 in Antium geboren, vom Philosophen Seneca erzieherisch geprägt, war von 54 bis zu seinem Selbstmord im Jahr 68 Kaiser. Einer, der als Kind schon von seiner machtbesessenen Mutter Agrippina in diese Rolle hineingeschoben wurde, dieweil sie zu diesem Zweck dafür sorgte, dass sein kleiner Stiefbruder Britannicus nach einem Pilzgericht allzu früh das Jenseits erschauen musste.
Verlässliche Quellen belehren, dass sich Nero nie an Kriegszügen beteiligt hatte, stattdessen sonnte er sich in den Arenen als erfolgreicher Wagenlenker am Applaus des Volkes. Und als Künstler auf dem Cäsarenthron nahm er Gesangsunterricht. Er soll allzu schlecht auch gar nicht gesungen haben, will man Berichten glauben. Doch das entsprach damals keineswegs den Erwartungen an einen Herrscher. Ein singender Bundespräsident Scheel hatte es da schon leichter, ein amerikanischer Präsident war ja auch vorab Schauspieler, und schon Ludwig XIV. tanzte öffentlich als Sonnenkönig.
Ebenfalls zu einem Mythos von zäher Hartnäckigkeit hat sich das verheerende Großfeuer von Rom in die Geschichte eingebrannt und es leuchtet bis heute über dem Namen Nero. Dass die Stadt aber nicht von ihm angezündelt wurde, hat die Archäologie inzwischen klar nachgewiesen. Das hat den Autor entlastet, eigene Theorien entwickeln zu müssen. Neros großzügiger Wiederaufbau hat ihn und das Reich in weit tiefere Wirtschaftskrisen gestürzt als bisher bewusst. Sie waren wohl auch maßgebend für die darauffolgenden Verwerfungen, inklusive Inflation. Dass Nero auch kaum der Christenverfolger gewesen sein konnte, wie ihm zweihundert Jahre später fromm unterstellt, lehrt schon die Tatsache, dass es bis zu zu seinem Selbstmord im Jahre 68 in Rom kaum Christen, allenfalls ein Häuflein „Krestiani“ gab.
Altbekannte Vorwürfe, die der Nachwelt das Bild vom Gesangskünstler und Harfenisten auf dem Cäsarenthron gemalt haben, lesen sich durch die Brille unserer Zeit anders: als erstaunliche Neuerungsversuche Neros, seine Herrschaft zu einem von Kunst und Volksnähe geprägten Imperium zu gestalten. Derartiges Denken galt damals als töricht und kam zweitausend Jahre zu früh. Blutige Gladiatorenkämpfe waren seine Sache nicht, er ersetzte sie durch phantastische Tierschauen.
Tatsächlich gelang es ihm, das Reich zeitlebens ohne Kriege zu lenken, ganz zum Verdruss seiner nach Eroberungen und Beutezügen geifernden Feldherrn und der gegen ihn eingestellten Senatoren. Auf deren Seite stand der spätere Geschichtsschreiber Tacitus ja auch. Ausdehnungen des Reiches und weitere zahlungspflichtige Kolonien wären gefragt gewesen. Vergessen ist, dass dieser Imperator als Erster den Partherkönig festlich einlud – zur Verbrüderung mit dem alten Erzfeind Roms. Vergessen auch, dass Nero im griechischen Teil des Reiches noch Jahrhunderte nach seinem Tod mit Blumen an seinen Denkmälern verehrt wurde, hatte er doch das tributpflichtige Griechenland – in seiner und heutiger Sicht der geistige Ursprung Roms – von Steuern befreit. Das hatte den Senatoren überhaupt nicht gefallen.
Das Buch klärt nicht zuletzt auf, welche immense Schwierigkeiten für sämtliche Herrscher darin bestanden, ein so gewaltiges Reich zu regieren. Kannte die Zeit der Republik doch schon vor Cäsar keine Demokratie im heutigen Sinn, und führte der Schritt in die imperiale Alleinherrschaft wesentlich zu grausamen Machtkämpfen zwischen Senat, Konsuln, Feldherrn und dem Kaiser.
Das heutige Bild Neros – und damit auch dessen Mythos- wurde zuletzt auf die amerikanische Filmleinwand gemalt, gewohnt geschichtsfern. Der Schauspieler Peter Ustinov hat seinen Nero noch als einen zur Harfe lallenden Irrsinnigen gemimt. Das war genial, hat aber der Welt umso wirksamer den Mythos vom wahnsinnigen Imperator aufgefrischt.
Insofern greift der Untertitel des Buches „Wahnsinn und Wirklichkeit“ diesen Aspekt auch auf. Doch man fragt sich jetzt: war Nero wirklich ebenso wahnsinnig, wie dies seinem grausamen Vorgänger Caligula unterstellt wird? Der nämlich wollte sein Pferd zum Konsul erheben – was wohl auch eher als Spott gegen die Konsuln verstanden werden muss. Die antiken Quellen – vom Autor gut analysiert – lassen diesen Blick nicht mehr zu. Die Nachwelt dagegen hat sich stets in einem Wahn vermeintlicher Wahrheit gesonnt, nicht selten von Mythen geleitet.
Das Buch: ein hervorragendes Werk, ein Muss für jeden, der die Antike besser verstehen möchte!
Ein Beitrag von Dr. Alexander Rauch
Alexander Rauch ist Kunst- und Kulturhistoriker. Aus seiner Feder stammen Monographien zu Stadtbaukunst, Künstlermonographien, überwiegend aus den Bereichen Denkmalpflege, Architektur und Malerei Süddeutschlands des 18. bis 20. Jahrhunderts, aber auch Forschungsergebnisse aus der Jüdischen Geschichte. Zuletzt erschien von ihm „Mythos im Judentum“ in der Reihe Kleines Mythologisches Alphabet (Edition Hamouda, 2021); „Gestensprache in der Kunst – von der Antike bis zur Neuzeit“ (Uni Heidelberg, 2022); „Mythos und Macht – Geschichte einer Beziehung“ (Edition Hamouda, 2024).
Literaturhinweis:
Alexander Bätz. Nero. Wahnsinn und Wirklichkeit. Rowohlt, Hamburg 2023.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Faszinierend noch einmal so einen historischen Einblick vergegenwärtigen zu bekommen!!! Großartig !!