Kerberos

Mich will niemand freiwillig kennenlernen, aber da du schon mal da bist, stelle ich mich dir auch vor. Man nennt mich Kerberos, den Höllenhund. Das Wort „Kerberos“ stammt aus der griechischen Sprache und bedeutet so viel wie „Dämon der Grube“. Solltest du dich vor großen schwarzen Hunden fürchten, empfehle ich dir dringend, diesen Text nicht zu Ende zu lesen, denn er wird dir das Blut in den Adern gefrieren lassen. Ich habe dich gewarnt.

Mein Reich ist die finstere Unterwelt (Hades). Dort wache ich über das Höllentor, auf dass kein Lebender die magische Grenze zwischen Diesseits und Jenseits überschreitet, dem Ort der ewigen Qualen und der Läuterung. Zudem besteht meine Aufgabe darin, eine Flucht der verdammten Seelen zu verhindern und ihnen die Rückkehr in die diesseitige Welt zu verwehren. An mir kommt so schnell keiner vorbei.

Allein mein Antlitz ruft Angst und Schrecken hervor. Dargestellt wurde ich meist mit einem oder mit drei Köpfen, aber auch bis zu einhundert Häupter wurden mir in längst vergangenen Zeiten zugeschrieben. Meine Gestalt ist eng mit dem Symbol der Schlange verbunden. Manchmal wurde mein Schwanz in Schlangengestalt abgebildet, ein anderes Mal bildeten Schlangen das Haupthaar meiner vielen Köpfe. Es soll sogar so weit gekommen sein, dass man meine Häupter zur Gänze in Schlangengestalt darstellte. Mit der Schlange bilde ich also eine enge Lebensgemeinschaft und man könnte mich sogar als eine Chimäre bezeichnen. Nichtsdestotrotz bin ich der Höllenhund, dem man lieber nicht begegnet.

Viele mutige Heroen trauten sich bisher die Pforten der Hölle zu erkunden. Diejenigen, die es taten, wurden meist nach einer Begegnung mit mir schnell zur Umkehr bewegt. Wie es heißt, berichteten sie von einer fürchterlichen vielköpfigen Hundegestalt, die den wagemutigen Kundschafter mit einem metallischen Bellen empfängt und mit giftigem Atem in die Flucht schlägt. Jedoch gelang es einigen wenigen dennoch, mit übermenschlicher Stärke oder List an mir vorbei zu kommen und das Reich der Unterwelt zu betreten. Auch ein Höllenhund ist nicht unfehlbar, leider.

Die griechischen Mythen berichten davon, wie der Heroe Herakles die von König Eurystheus gestellten Aufgaben erfolgreich meisterte. Doch der tückische König gönnte ihm seinen Ruhm nicht, und so stellte er Herakles vor ein schier unlösbares Problem. Er solle den Höllenhund Kerberos, also meine Wenigkeit, zum König bringen. Durch einen riesigen Spalt kletterte Herakles in die Unterwelt hinab. Dort angekommen zwang er den Fährmann Charon dazu, ihn über den Totenfluss Styx zu geleiten. Schließlich gelangte Herakles zu Hades, dem Herrscher über die Unterwelt. Von ihm erhielt er die Erlaubnis, mich, den Höllenhund Kerberos, in die Welt der Menschen bringen zu dürfen. Die Bedingung war jedoch, dass mich Herakles ohne den Einsatz von Waffen bezwingen solle. Mit bloßen Händen rang er mit mir, würgte mich und ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich gefesselt vor dem König. Die Aufgabe war erfüllt. Keine schöne Erfahrung. Herakles zugutehalten muss ich jedoch seine ehrenwerte Fairness, denn nach meiner schmachvollen Zurschaustellung brachte er mich wohlbehalten zurück in meinen mir vertrauten Lebensraum der Unterwelt. Überall dort, wo in der Welt der Menschen mein giftiger Speichel niedertropfte, spross die giftige Blume Akóniton aus dem Boden. Dieses Gewächs kennt man heutzutage auch als den giftigen Blauen Eisenhut.

Der griechische Dichter Hesiod beschrieb mich in seinem Werk der „Theogonie“, das die Entstehung der Welt und der Götter thematisiert, als ein Kind der schönäugigen und schlangengestaltigen Dämonenmutter Echidna und als Sohn des drachen- oder schlangenköpfigen Riesen Typhon. Als meine Geschwister gelten die Chimära, ein Mischwesen aus einem Löwen, einer Ziege und einer Schlange; die schlangenköpfige Hydra; der Nemeische Löwe, der in den Wäldern von Argolis und Peleponnes sein Unwesen trieb;  der zweiköpfige Hund Orthos, der auf der Insel Erytheia die Rinderherde des Dämonen Geryoneus bewachte; und die Sphinx, die Dämonin der Zerstörung und des Unheils. Hesiods Schilderung geizt nicht an Komplimenten, denn er beschrieb mich als den grausamen Leichenfresser des Hades, der mit eherner Stimme und fünfzig Köpfen Angst und Schrecken verbreitet. Ja, niemand geringeres als der mächtige Hades, der Herrscher über die Unterwelt, ist mein Herr und Gebieter.

In diesen finsteren Abgründen wurde Eurydike gefangen gehalten, die Gemahlin des Sängers und Dichters Orpheus. Eines Tages beschloss Orpheus, die düstere Unterwelt zu betreten, um seine Gemahlin zu suchen und sie in die diesseitige Welt zurückzuführen. Der mutige Heroe schaffte es, mich mit seinem betörenden Spiel auf der Lyra, einem antiken Musikinstrument, zu bezaubern, und sein lieblicher Gesang lullte mich geradezu ein. Als ich wieder zu Sinnen kam, war er auch schon an mir vorbei geschlichen.

Auch die römische Mythologie berichtete von Helden oder Heldinnen, die in die Unterwelt gelangten. Ganz besonders dreist überlistete mich die Königstochter Psyche. Wollte sie doch unbedingt den Auftrag der Liebesgöttin Venus erfüllen, ihr eine Dose gefüllt mit der Schönheit Proserpinas zu bringen. Proserpina galt in römischer Zeit als Göttin der Unterwelt. Psyche kannte meine Schwächen sehr genau und sie wusste, dass ich allem widerstehen kann, mit Ausnahme eines leckeren und saftigen Stückes Honigkuchen. Also bot sie mir ein zuckersüßes, vor Honig nur so triefendes Stückchen Kuchen an und ich ließ es mir genüsslich schmecken. Kaum, dass ich‘s bemerkte, war sie auch schon an mir vorbei. Um meiner Torheit die Krone aufzusetzen, bestach sie mich ein zweites Mal mit einem Stückchen Kuchen, um somit aus der Unterwelt wieder hinaus zu gelangen. Es war mit Abstand der beste Honigkuchen, der mir jemals vor meine vielen Mäuler kam. Was soll man da machen?

Aber dem nicht genug. Meine große Schwäche für Honigkuchen sollte noch ein weiteres Mal schamlos ausgenutzt werden. Der römische Dichter Virgil beschrieb in seinem Buch „Aeneis“, wie der Königssohn Aeneas, der auch als Stammvater aller Römer galt, in die Unterwelt reist, um sich von seinem Vater Anchises die Zukunft seines Herrschergeschlechts weissagen zu lassen. Aeneas zur Seite stand die Seherin Sybilla, die eine geniale List ersann. Zwar hatte sie keinen Kuchen für mich mitgebracht, doch den reinen Honig, den sie mir darbot, konnte ich nicht ausschlagen. In der antiken Welt der Griechen und Römer galt Honig auch als ein Schlafmittel. Den ganzen Topf leckeren Honigs schlang ich auf einmal hinunter und sogleich landete ich in einer Welt der süßesten Träume. Aeneas nutzte die sich ihm bietende Chance und durchquerte unbehelligt das Tor zur Unterwelt. Dank eines magischen Mistelzweigs fand Aeneas dann auch in die diesseitige Welt zurück. 

Aber es sollte noch schlimmer kommen. Der italienische Dichter Dante Alighieri machte mich zu einem Akteur in seinem Hauptwerk „Die göttliche Komödie“, das in der Zeit zwischen 1307 und 1321 entstand. Dort wache ich im dritten Höllenkreis über die Seelen der Nimmersatten und Gefräßigen. Ich selbst, der stolze und furchterregende Kerberos, gelte als Sinnbild der Gefräßigkeit. Was für eine unverschämte Herabwürdigung. Und was ist mit meinen anderen herausragenden Charaktereigenschaften? Habe ich denn nicht auch noch andere Qualitäten als meinen unstillbaren Hunger? Wie lange noch wird mir diese Honigkuchengeschichte zum Vorwurf gemacht? Um die Sache perfekt zu machen, wirft mir Virgil, Dantes Führer durch die Hölle, zum Abschied noch eine Handvoll Dreck ins Maul, wohl um mich zum Schweigen zu bringen. Na, dann schönen Dank auch.

Die Zeugnisse meines Scheiterns. Was nützen die fürchterlichste Gestalt, der giftigste Atem und das scheußlichste Gekläffe, wenn sich diese dahergelaufenen Möchtegern-Götter auf trügerische Weise an mir vorbeistehlen oder mich mit brachialer Gewalt bezwingen? Und genau an diese abscheulichen Geschichten erinnern sich die Menschen bis zum heutigen Tag. Und immer wieder dieser Honigkuchen … Vergessen sind die unzähligen Male, die ich aufopferungsvoll das Höllentor verteidigte und pflichtbewusst meine mir zugedachte Aufgabe erfüllte. Undank ist der Welten Lohn. Diese Schurken. Sollen die Tore zur Unterwelt für jeden offenstehen? Sollen die Ausgeburten der Hölle die Freiheit erlangen?

Unten ist die Hölle, oben der Himmel und dazwischen leben die Menschen. Diese kosmische Ordnung ist so alt wie der Mensch selbst und man sollte sich davor hüten, die Grenzen der Welten aufzuweichen oder sie gar leichtfertig zu überschreiten. Die Geschöpfe der Hölle sollten besser dort bleiben, wo sie seit Jahrtausenden gefangen gehalten werden. Was würde geschehen, sollten sie freikommen und die Welt der Menschen heimsuchen? Solange wie ich, der Höllenhund Kerberos, über die Pforten der Unterwelt wache und die Menschen Angst vor mir haben, werde ich meine Aufgabe als furchterregender Torwächter erfüllen können.

Besser also, du fürchtest dich vor mir!

Kerberos dankt seinem Autor Andreas Erler.

 

 

Mehr Informationen über mich findest du unter:

Der kleine Pauly – Lexikon der Antike in fünf Bänden, dtv: München, 1979.

Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen. Die Götter- und Menschheitsgeschichten, dtv: München, 1994.

Wilhelm Heinrich Roscher: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1894.

Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, rororo: Hamburg, 2001.

 

© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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