Die rätselhafte Zeit: Vom Sonnenkult zur Weltzeituhr

Zeit – was ist das? Und wie wird sie fassbar? Seit Jahrtausenden beschäftigten uns Fragen zum Phänomen Zeit. Für den Blog des Arbeitskreises versuchte ich meine Gedanken zum Thema „Zeit“ zu sortieren und zu verschriftlichen. In drei Kapiteln werden sie im Laufe des Jahres hier veröffentlicht.

Das Phänomen Zeit beschäftigte mich erstmals in Kindertagen. Es galt „die Uhr“ zu erlernen. Was meinte, dass man in der Lage ist, von einem Ziffernblatt die richtige Uhrzeit abzulesen, zu lernen, dass der Tag in 24 Stunden gegliedert ist, dass sowohl arabische als auch römische Zahlen auf Ziffernblättern der Uhren zu finden sein können. „Die Uhr“ lernte ich ebenso wie das Binden der Schnürsenkel von älteren Mädchen aus der Nachbarschaft, denen es offenbar Vergnügen bereitete, begriffsstutzigen kleinen Jungen derartige Dinge zu erklären.

Etwas später, ich war auf einen Ausflug nach Berlin mitgenommen worden, geriet ich in ernstliche Kollision mit der Zeit. Die Weltzeituhr auf dem Berliner Alexanderplatz  – ich erinnere mich, wie mich diese Uhr damals und noch lange darauf faszinierte und es mir unglaubhaft erschien, dass zur gleichen Zeit, also in diesem Moment, in dem ich (7jährig?) zum ersten Mal vor dieser Uhr stand und also glauben sollte, dass es in New York jetzt, genau in diesem Augenblick, nicht Nachmittag, sondern Vormittag und in Nowosibirsk gerade früher Abend sein sollte.  Für Moskau, London und Berlin wurden genau in diesem Moment drei unterschiedliche Stunden angezeigt! Neben Ungläubigkeit kann ich mich an Empörung erinnern. Wie konnte es nur sein, dass die gewohnte Zeit derart unzuverlässig sein sollte? Ich hatte mich doch gerade erst an den unabänderlichen Lauf der Uhrzeit gewöhnt, Tag für Tag, unaufhörlich umkreisten die Zeiger das Ziffernblatt und ganz egal, ob es die Armbanduhr des Vaters, die Standuhr in der Stube der Großeltern, die Uhren über den Fabriktoren, die Rathaus- oder Bahnhofsuhr war, sie alle zeigten immer und überall die gleiche Zeit an. Doch jetzt geriet diese Vorstellung von der universellen Unabänderlichkeit der Zeit ins Wanken. Auch der Raum, der geographische Ort, an dem man sich gerade befand, schien bei der ganzen Angelegenheit eine Rolle zu spielen. Ich haderte in diesem überraschenden Moment mit der Zeit, mit den Erwachsenen, die sich über mein Erstaunen amüsierten, vielleicht auch mit der gesamten Existenz.

An diesen Moment aus Kindertagen erinnere ich mich ein halbes Jahrhundert später. Wieder stehe ich vor dieser Uhr auf dem Berliner Alexanderplatz. Ein halbes Jahrhundert ist seither vergangen, aber jenes nun fern zurückliegende Erlebnis ist mir für einen Moment gegenwärtig, hat in meinem Empfinden mit unerhörter Geschwindigkeit diese Jahrzehnte übersprungen. Für einen Augenblick war ich in jene Kindheitstage zurückversetzt, die – gefühlt – so unendlich weit zurückliegen, die ich gelegentlich betrachten kann, so wie man sich einen Film ansieht, in dem fremde Personen agieren, während ich doch gleichzeitig hier als Neunundfünfzigjähriger in einem neuen Jahrtausend auf dem selben Alexanderplatz stehe. Subjektives Zeitempfunden versus gemessene Zeit. Denn die gemessene Zeit lässt sich im Gegensatz zur gefühlten Zeit sehr genau beziffern, Soundsoviele Jahre, Tage, Stunden sind vergangen, seit ich zum ersten Mal vor der Uhr auf dem Berliner Alexanderplatz stand. Das subjektive Verhältnis zur Zeit, der eigenen Lebenszeit, der Tageszeit ist jedoch ständigem Wandel unterworfen. Manchmal scheint uns die Zeit dahinzukriechen, nahezu stillzustehen, dann wieder ist eine Stunde wie im Fluge vergangen, ohne dass man sagen könnte, wie es zugegangen ist. Dieses Problem, das Staunen darüber wie unterschiedlich Zeitläufe empfunden werden können und die Suche nach Möglichkeiten Zeit zu messen, zu erfassen und schließlich auch ins Verhältnis zur eigenen Lebensdauer zu setzen beschäftigt die Menschen von jeher. Ebenso wie die Zeit grundlegende Bedeutung für das individuellen Leben hat, trifft es auch für das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit zu.

Elias Canetti spricht in „Masse und Macht“ von der Ordnung der Zeit und stellt die Frage in den Raum, ob eine kalendarische Neuordnung maßgebliches Kennzeichen entstehender Herrschaftssysteme gewesen sei. Kalendarische Systeme bestimmen jedenfalls seit Beginn der Geschichtsschreibung unseren Blick hinsichtlich Einteilung und Abgrenzung historischer Zeitabschnitte, Zivilisationen und Kulturen.

Turm der Winde, Athen

Hekataios von Milet, Sohn des Hegesandros, war ein antiker griechischer Geschichtsschreiber und Geograph. Er wirkte in Milet im Zeitraum von ca. 560 bis 480 v. Chr. Herodot berichtet, dass dieser Hekataios mit ägyptischen Priestern einen Disput führte, welche Kultur die ältere sei: Als der Geschichtsschreiber Hekataios sich einstmals bei seiner Anwesenheit in Theben auf seinen Stammbaum etwas zugute tat und sein väterliches Geschlecht im sechzehnten Gliede auf einen Gott zurückführte, machten es die Priester des Zeus mit ihm wie mit mir, der ich mich freilich nicht mit meinem Stammbaum aufspielte. Sie führten mich nämlich ins Innere des großen Tempels und zeigten mir dort der Reihe nach die kolossalen Standbilder aller … Oberpriester … Und als Hekataios sich auf seinen Stammbaum berief, … hielten sie ihm  die Zahl dieser Priester entgegen … dreihundertfünfundvierzig … von einem Gotte … aber stamme aber keiner von ihnen ab.

Der chronologische Raum wird in diesem Falle anhand der Geschlechterfolgen vermessen. Geht man davon aus, dass in der Antike drei Generationen etwa hundert Jahre ergeben haben, so verweisen die ägyptischen Priester hier auf einen Zeitraum von mehr als zehntausend Jahren. Zeit gemessen anhand der durchschnittlichen Lebensdauer. Geordnet anhand der aufeinanderfolgenden Dynastien. Hier gibt es einen Anfang und ein Ende, die Wissenschaft spricht von linearem Zeitverständnis. Ursprünglicher dürfte aber das zyklische Zeitverständnis sein, gemessen an den wiederkehrenden Naturvorgängen, an Tag und Nacht und den Jahreszeiten. Wie aber misst man Zeit? Gemessen wurde mit Sonnenuhren, mit Wasseruhren oder Sanduhren. Wasser- und Sanduhren, bei denen Flüssigkeit bzw. Sandkörner langsam von einem Behältnis in ein anderes übergehen, definieren eine Zeitspanne. Der Vorteil zur Sonnenuhr liegt darin, dass auch bei Abwesenheit der Sonneneinstrahlung gemessen werden kann. Der achteckige Turm der Winde in Athen – im 1. Jahrhundert v. C. errichtet – vereinte neben der Anzeige der Windrichtung beide Varianten: An mindestens zwei Seiten des Turms waren Sonnenuhren angebracht und im Inneren des Turms befand sich eine Wasseruhr. So diente dieser Turm ebenso zur Zeitanzeige wie zur Zeitmessung.

Zwar soll es erste mechanische Uhren bereits ab 1300 in Europa gegeben haben, die Abstrahierung der Zeitmessung von den Naturvorgängen vollzog sich aber in großem Stil erst mit der beginnenden Industrialisierung. Trat zunächst in jedem Dorf die Kirchturmuhr in das Leben der Menschen ein, folgten Uhren an öffentlichen Gebäuden wie Rathäusern, Bahnhöfen, Fabriken. Datum und Uhrzeit begannen durch veränderte Arbeitswelten eine immer größere Rolle zu spielen.

Damit einher ging auch eine Normierung und Vereinheitlichung der Zeitangaben, denn die Kirchturmuhren zeigten zunächst nur eine ungefähre Zeit an, die von Ort zu Ort differieren konnte. Das war auch lange kein Problem. Eine ungefähre Zeitangabe genügte, um den Tag zu strukturieren, eine Struktur, die sich aus den Gebets- und Arbeitszeiten der Klöster entwickelt hatte. Erst mit dem Aufkommen der Industriearbeit, der ineinandergreifenden Abläufe, dem Umstand, dass viele Menschen nun ihre Dörfer verliessen, um in den wachsenden Städten zu arbeiten und den sich entwickelnden Verkehrswegen war es unabdingbar geworden über eine einheitliche Zeitangabe zu verfügen. Zuvor aber begann der Tag Jahrtausendelang mit dem Sonnenaufgang und endete mit der anbrechenden Nacht. Der Stand der Sonne, der Grad des einfallenden Sonnenlichtes war das Maß für Zeitbestimmung und Zeitmessung. Die Sonnenuhr erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit, stellt sie doch die Verbindung zu unserem Zentralgestirn her, das menschliches Leben als Konstante von allem Anfang an bestimmte.

Dass offenbar weiterhin ein besonderes Verhältnis zur Sonnenuhr besteht zeigt sich in Orten wie dem „Sonnenuhrendorf“ Taubenheim an der Spree. Dutzende Sonnenuhren befinden sich dort an Hauswänden, Giebeln und in Gärten. Ausgelöst durch den ortsansässigen Grafiker Martin Hölzel verbreitete sich der wiederbelebte Sonnenkult auch auf die Nachbargemeinden Sohland und Wehrsdorf. Ähnliche Beispiele bieten Birkenau im Odenwald oder Städte wie das italienische Aiello del Friuli und Gernsbach in Süddeutschland, die ebenfalls erstaunlich viele Sonenuhren vorweisen können. Neben ästhetischen Erwägungen und dem Wunsch eine Tradition wiederzubeleben, die aus einer Vergangenheit stammt, in der die Zeit langsamer zu vergehen schien, dürfte eben auch die uralte religiöse Beziehung zur Sonne eine gewisse Rolle spielen. Hinsichtlich der Gemeinde Sohland an der Spree ist darüber hinaus noch interessant, dass es dort zwei weitere Aspekte gibt, die mir in diesem Zusammenhang erwähnenswert scheinen: Im umliegenden Oberlausitzer Bergland existieren etliche Gesteinsformationen, die als Sonnenheiligtümer bezeichnet werden. Von diesem Felsen bzw. Steinformationen wird angenommen, dass sie in prähistorischer Zeit zur kalendarischen Sonnenbeobachtung genutzt wurden. Davon angeregt gründete die Sternwarte Sohland eine Fachgruppe Archäoastronomie und seit 2023 ist in eben dieser sächsischen Region das Deutsche Zentrum für Astrophysik (DZA) als Forschungszentrum im Aufbau begriffen. Dies sei lediglich erwähnt, um die Spanne deutlich zu machen, die sich eröffnet, wenn das Thema Sonnenuhr, Sonne und Zeitmessung zur Sprache kommt. Naturvorgänge und abstrahierte Zeitmessung – noch immer schlagen wir uns mit dem Phänomen Zeit herum.

Das beständige Tick-Tack einer Uhr hat – so scheint es mir  – sein natürliches Vorbild im Auf- und Ab von Flut und Ebbe der Meere. Ewige Bewegungen, deren Anzahl mit dem Ablauf der Zeit ins Unendliche wächst. Zeit wird gemessen und gezählt. Was aber ist das, was wir Zeit nennen? Seneca schrieb in De brevitate vitae: „Es war eine griechische Krankheit, zu untersuchen, welche Zahl von Ruderern Odysseus gehabt habe, ob die Ilias oder die Odyssee zuerst geschrieben worden sei …“)

Von diesem Zitat ausgehend stellt sich mir jetzt die Frage, ob es eine japanische Krankheit gewesen sein könnte, die zur Erfindung der Quarz-Armbanduhr in den 1970er Jahren geführt hat, um in der Folge der Weltbevölkerung eine jederzeit und an jedem Ort verfügbare Zeitmessung zu ermöglichen.

Ein Beitrag von Jörg Jacob


Jörg Jacob, 1964 in Glauchau geboren. Nach einer Ausbildung zum Polsterer war er freier Mitarbeiter der Leipziger Volkszeitung sowie Mitarbeiter einer Begegnungsstätte für Kunst und Kultur. 1998-2002 studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (Abschluss 2003). Nach Veröffentlichungen von Kurzprosa in namhaften Anthologien und Zeitschriften erschien 2006 sein Romandebüt. Jacob erhielt verschiedene Auszeichnungen und Stipendien, u. a. den Gellert-Preis für seinen Roman Das Vineta-Riff. Seit 2010 betreut er verschiedene Projekte und Schreibwerkstätten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Jörg Jacob lebt und arbeitet als freier Autor in Leipzig, zuletzt erschien Godot gießt nach/Herr Tod will leben, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig 2019, fluten, 2022, Aus der Stadt und über den Fluss: Zwölf Versuche über das Gehen, 2022 sowie Gefährten der Stille: Erzählung, 2024.


Literaturhinweise:

Das Geschichtswerk des Herodot von Halikarnassos, aus dem Griechischen von Theodor Braun

De Brevitate Vitae – Die Kürze des Lebens, Seneca, Übersetzung von Franz Peter Waiblinger

Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen

István Hahn: Sonnentage – Mondjahre


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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