Ein Hauptthema der Salons und Akademien des 17. und 18. Jahrhunderts war die Entdeckung der Neuen Welt. Man diskutierte über die Sitten ihrer Bewohner, Moral und Gesellschaftsordnung, Sprachen und Kultur. Gleichzeitig entstand die Perspektive des Relativismus – von Montaigne bis Montesquieu: die fremden Kulturen könnten der unsrigen ebenbürtig sein, je nach Vergleichskriterien. Auch wenn Europa viele indigene Kulturen im Laufe der Jahrhunderte verdrängte oder vernichtete, so kann man in der westlichen Neugier den Beginn von Einflüssen aus den indigenen Kulturen in die Zentren europäischer Kolonialmächte sehen. Karl- Heinz Kohl hat sich als Ethnologe über Jahrzehnte mit dem Verhältnis zwischen indigenen und westlichen Kulturen beschäftigt und legt uns mit Neun Stämme die faszinierende Frage vor: wie haben eigentlich Stammeskulturen aus Afrika, Polynesien, Amerika und Australien westliche Kunst, Theorie und Lebenswelt beeinflusst? Wie weit ist unsere Moderne indigen?
Diese Frage geht weit hinaus über die afrikanischen Skulpturen, die etwa Picasso oder Nolde zu neuen künstlerischen Ideen angeregt haben. Es sind Aneignungsprozesse, die von Euphorie und Missverständnissen geprägt sind. Kohl spricht auch lieber von Anverwandlungen und sieht die Grenzen zwischen Opfern und Tätern, wie sie im postkolonialen Diskurs oft gezogen werden, als problematisch an. Denn ob die afrikanischen Dogon, die Hopi oder die australischen Aranda – sie alle wussten bald, wie man die globale Kultur mit der spirituellen Kultur ihrer Vorfahren auch ködern konnte. Genannt sei nur die „Traumzeit“ der Australier, die ihren Multiplikator in einem britischen Reiseautor (Bruce Chatwin) fand und die dadurch zu einer weltweiten Ikone wurde, oft wiederum gegen den Widerstand eigener indigener Gruppen.
Das Bild, das Kohl zeichnet, ist also komplex. Es beginnt 1550 mit einem brasilianischen Dorf in der Normandie, das zu Ehren des Königs aufgestellt wurde. Mit diesem Ereignis aber nimmt die Diskussion um Kannibalismus an Fahrt auf, denn die Tupinambá scheinen diesen zu praktizieren. Die europäischen Medien stürzen sich auf dieses Tabu, ein Calvinist vergleicht den Stamm mit den Katholiken, die ja auch das Fleisch und Blut des Herrn zu sich nähmen. Michel de Montaigne schreibt einen berühmten Essay über die Kannibalen, in dem er die eigene Kultur von außen in den Blick nimmt und sie für grausamer hält, einen Essay übrigens, der auch in Shakespeares The Tempest seine Spuren hinterließ. Im 20. Jahrhundert greifen Künstler und Künstlerinnen sowie Intellektuelle in São Paulo den Topos auf und leiten damit den brasilianischen Modernismó ein. Anthropophagie wird in Manifesten und Bildern als Akt der schöpferischen Aneignung gepriesen.
Faszinierend ist auch die Geschichte der irokesischen Gesellschaftsordnung. 1724 stellt ein französischer Missionar fest, dass die Irokesen eine demokratische Verfassung haben und ihr Oberster Rat sich mit dem Senat des alten Rom vergleichen lässt. Engels und Bachofen regten sie an, über gesellschaftliche Konzepte wie Mutterrecht und Familiensystem nachzudenken. Benjamin Franklin nahm die Idee zu einem Staatenbund von der Irokesenliga auf und auch die frühen Feministinnen fanden hier Vorbildliches. Der heutige Mother-Earth Kult, den Hippies und die ökologische Bewegung aufgriffen, hat auch hier seine Wurzeln. Er wirkte wie so viele westliche ‚Entdeckungen‘ zurück auf die irokesische Selbstdarstellung.
Weitere spannende Berichte liefert Kohl von den australischen Aborigines und ihren Traumpfaden, aber hebt auch die Rolle ihrer Mythologie für die Ethno-Psychoanalyse hervor. Die Südsee hat nicht nur für die deutschen Expressionisten oder Gauguin entscheidende Impulse gegeben. Ein gewisser Ernst Scheurmann erfand einen Häuptling Tuiavii, der die Weißen in ihrer absurden Zivilisation besucht und sich verwundert bis mitleidig über Errungenschaften wie Geld, Hast und die Krankheit des Denkens äußert. Sein Büchlein Der Papalagi war nicht nur bei Erscheinen im Jahr 1920 ein Erfolg, es lebte auch wieder in den system- und konsumkritischen Zeiten der 1960er/ 70er Jahre als Gegengift auf. (Aus Bayern erhielt der Häuptling gar einen begeisterten Brief, in dem man ihn als „Oberbürgermeiste von Apia“ titulierte). Der populären Inspiration kann man eine akademische an die Seite stellen, wenn die amerikanische Anthropologin Margaret Mead mit ihrem Coming of Age (1928) in Samoa einen andauernden Streit um die sexuelle Freizügigkeit in der Erziehung entfacht. Ob diese auf falschen Recherchen beruhte oder nicht, die Thesen beeinflussten die zeitgenössische Pädagogik im Westen in einem bedeutenden Maß.
Spekulationen mit großen Wirkungen rankten sich auch um den Stamm der Hopi in Arizona. Die matrilineare Struktur, die seltsamen Kachina-Puppen und der Schlangentanz lockten Ethnologen, Missionare und etwa den Kunsthistoriker Aby Warburg an. Der Schlangentanz war für diesen eine Offenbarung und die Erinnerung an die Hopi-Rituale sollte ihn später aus einer psychischen Krankheit zurückholen. Im benachbarten New Mexico sammelten sich Künstlerinnen (Georgia O’Keefe) oder Autoren (D.H. Lawrence, Thornton Wilder) und Esoteriker. C.G. Jung und Aldous Huxley statteten Besuche ab. Hopi-Mythen, die von Apokalypsen sprachen, sah man wirklich werden. Die Hippies erhielten eine neue Bibel mit dem Titel Das Buch der Hopi von Frank Waters. Es blieb nicht aus, dass große Geschäfte gemacht wurden mit Kultgegenständen oder dass weiße Geschäftsleute sich trafen, um Hopi-Maskentänze aufzuführen. Surrealismus und Dadaismus fanden hier und in anderen indigenen Kulturen Anstöße für ihre Überquerung von Grenzen, die ihnen westliche Kultur und Weltbild gesetzt hatten. Kohl vergisst leider in seinem Kapitel über die Hopi, die berühmte Kontroverse von Sprachwissenschaftlern, die sich an der Sapir/Whorf-These entzündete. Benjamin L. Whorf hatte bekanntlich behauptet, die Sprache der Hopi habe einen Zeitbegriff, der es den Nutzern erlaubte, etwa die Relativitätstheorie leichter zu verstehen. Wie weit Denken und Sprache sich gegenseitig bedingen, ist bis heute eine Frage mit viel Potenzial.
Kohls Buch ist eine Fundgrube und zeigt, wie tief die verdeckten Einflüsse indigener Kulturen sich auf das heutige europäisch-westliche Denken und Fühlen auswirkt – und wie dieses umgekehrt auch die fremden Kulturen verwandelt hat, die dadurch teils zerstört wurden, teils aber auch sich zu verkaufen wussten. Viele künstlerische und intellektuelle Bewegungen des 20. Jahrhunderts können wir nun mit anderen Augen sehen: als Prozesse, in denen Hommage und Ausbeutung, Nutznießung und Bereicherung wechselhaft angelegt sind. Der Begriff der „Aneignung“ muss vor diesem Hintergrund differenzierter gesehen werden. Wenn wir die Anteile indigener Kulturen an der Entstehung unserer eigenen Moderne erkennen, wird es leichter, den Dialog mit ihnen auf Augenhöhe zu führen. Er könnte uns auch helfen, unsere eigene Kultur besser zu verstehen. Für diesen faszinierenden Blickwechsel kann man dem Autor nur dankbar sein.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
Literaturhinweis:
Karl-Heinz Kohl: Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne. München: C.H. Beck 2024.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.