Zeit – was ist das? Und wie wird sie fassbar? Seit Jahrtausenden beschäftigten uns Fragen zum Phänomen Zeit. Für den Blog des Arbeitskreises versuchte ich meine Gedanken zum Thema „Zeit“ zu sortieren und zu verschriftlichen. In drei Kapiteln werden sie im Laufe des Jahres hier veröffentlicht.
In zahllosen Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen können wir der allegorischen Figur des Chronos begegnen. Die Personifikation der Zeit in dieser ursprünglich mythischen Gestalt ist ein Versuch, das Phänomen greifbarer zu gestalten. Vorstellungen eines bärtigen Schöpfergottes haben hier vermutlich ebenso einen ihrer Ursprünge wie die Darstellungen des Gevatters Tod mit Sense und Stundenglas. Das griechische chrónos allerdings bezeichnete gleichermaßen die Zeit wie das Wort. Und auch in der lateinischen Sprache steht Tempus für die sprachlichen Formen und das Phänomen Zeit an sich. Wort und Zeit – literarische Texte thematisieren häufig das Phänomen Zeit, und dies auf sehr unterschiedliche Weise, einige Beispiele dazu führe ich hier an.
Formal können sich Erzählungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bewegen, sie vermögen zwischen diesen Zeitebenen scheinbar mühelos hin- und her zuspringen. Sich dem Phänomen Zeit vollständig zu entziehen ist jedoch auch der Literatur nicht möglich. Doch mit welchen Zeitbegriffen wird operiert, um fiktionale Texte zu verstehen und zu analysieren? Literarische Texte erzählen meist von bereits vergangenen Geschehnissen, können aber als Fiction auch Zukünftiges schildern. Zeit spielt also eine wesentliche Rolle. Eine Minute kann sich erheblich dehnen, wenn nicht nur das Geschehen geschildert wird, sondern Gedanken und Empfindungen einer Person. Eine gewaltige Zeitspanne, die viele Jahre umfasst, kann dagegen durchaus in wenigen Sätzen zusammenfassend abgehandelt werden.
In einem der bekanntesten Texte der Weltliteratur, Homers Odyssee, erzählt Odysseus am Hof der Phäaken von den Abenteuern seiner Irrfahrt. Wie lange braucht er wohl, um all das bereits Erlebte zu schildern? Immerhin sind Jahre vergangen, seit er von Troja die Rückreise antrat. Mit dem neunten Gesang setzt diese Rückblende im Text ein und erst im dreizehnten Gesang kehren wir wieder in den Palast des Königs Alkinoos und damit in die Gegenwartsebene der Erzählung zurück. Bei der erzählten Zeitspanne handelt es sich um nahezu zehn Jahre, denn dies ist der Zeitraum, der für Odysseus Irrfahrt angegeben wird. Die Zeit, in der er dies alles berichtet ,wird wohl einige Stunden in Anspruch genommen haben, beginnend „nach dem Abendschmaus“ am Hof des Königs der Phäaken. Einige Stunden, sagen wir drei, oder vielleicht auch vier, für zehn Jahre. Wie lange aber brauchen wir nun, um den entsprechenden Abschnitt in der Odyssee zu lesen? In der Literaturtheorie werden die Begriffe erzählte Zeit und Erzählzeit verwendet: Um eine Normseite (1800 Zeichen incl. Leerzeichen) laut zu lesen, braucht es etwa zwei Minuten.
Diese Zeit, die wir benötigen, um einen Abschnitt zu lesen, wird als Erzählzeit bezeichnet. In den zwei Minuten, die wir also damit verbringen eine Seite zu lesen, können wir unter Umständen etwas erfahren, dass sich über viele Jahre hinweg ereignet hat oder auch nur die Geschehnisse bzw. Empfindungen einer einzigen Minute schildert. Es ist die erzählte Zeit.
Das zur raffenden Rückblende gegenteilige Verfahren können wir bei beispielhaft bei Marcel Proust betrachten: In „Unterwegs zu Swan“ wird der Moment des Einschlafens der Erzählfigur, ein Moment, der in der Realität womöglich nur wenige Minuten dauert, bis zum Äußersten gedehnt und analysiert, der erzählerische Raum weitet sich hier auf einem dutzend Buchseiten zu einem eigenen Kosmos, der die Begrenzung des Schlafzimmers vollständig überwindet. Und wenn er schließlich wieder aufwacht „… verliert (er) sein Zeitgefühl, und in der ersten Minute seines Erwachens wird er meinen, er sei eben erst zu Bett gegangen.“
Ein weiterer interessanter Aspekt ist das Verhältnis von Zeit und Ort, das als Chronotopos bezeichnet wird. Chronotopoi charakterisieren den Zusammenhang zwischen dem Ort und dem Zeitverlauf einer Erzählung. Und um auf Odysseus am Hof der Phäaken zurückzukommen – die Weite der Welt, die Schauplatz seiner mehrjährigen Abenteuer war, wird zusammengepresst im vergleichsweise engen Saal des Alkinoos, in dem sich Erzähler und Zuhörer befinden. Aus dieser „Zeitschleuse“ treten wir als Leser gemeinsam mit dem Helden in dem Moment wieder hervor, in dem die Rückblende der Erzählung endet und die Weiterreise nach Ithaka beginnen kann. Die Verzahnung von Raum und Zeit, von der wir seit Einstein wissen, (wenngleich es schwierig geblieben ist, sich diese vorzustellen bzw. zu begreifen) spiegelt sich in der erzählten Welt. Die Raumzeittheorie besagt, dass Zeit eben nicht universell sein kann, sondern Ortsgebunden ist, sich verlangsamen und beschleunigen kann. Verschiedene Orten bedeuten also auch verschiedene Zeiten. Und mit einer Ausdehnung des Raums dehnt sich dann auch Zeit aus. In der Literatur korrelieren Raum und Zeit ebenfalls auf komplexe Weise und zwar hinsichtlich Form und Inhalt gleichermaßen.
„Es ist eine moderne Illusion zu glauben, die Zeit sei eine lineare und zielgerichtete Abfolge, die von A nach B geht. Sie kann auch von B nach A gehen, und die Wirkung kann die Ursache hervorrufen …“lässt Umberto Eco einen seiner Protagonisten in „Das Foucaultsche Pendel“ behaupten, und man darf darüber nachsinnen, ob sich das auch auf die Struktur des Romans selbst bezieht.
Im Roman von Jules Verne, „Reise um die Welt in achtzig Tagen“, ist von Anfang an klar, dass die Zeit der Handlung, von Abreise bis Rückkehr, 80 Tage betragen wird. Allerdings mit der Einschränkung, dass diese Angabe zwar für die Londoner (dem Ort an dem die Reise beginnt) zutrifft, der Reisende selbst aber 81 Tage unterwegs ist, da er von West nach Ost unterwegs ist. Ebenso können wir aber – ausgehend von H. G. Wells – in diversen literarischen Werken Zeitreisenden begegnen, denen es mittels Zeitmaschine gelingt, beträchtliche Zeiträume in beide Richtungen – Vergangenheit wie Zukunft – zu durchqueren und dabei in zeitbedingte Turbulenzen geraten. Eine aktuelle Neuerscheinung, die sich dem Zeitreisen widmet: „Das Ministerium der Zeit von Kaliane Bradley.
Inhaltlich wird das Phänomen „Zeit“ in literarischen Texten jedenfalls häufig und recht unterschiedlich thematisiert. bzw. auch als Metapher verwendet. So heißt es bei Thomas Mann im Teufelskapitel des Romans „Doktor Faustus“ beispielsweise: „So wollt ihr mir Zeit verkaufen? Zeit? Bloß so Zeit? Nein, mein Guter, das ist keine Teufelware. (…) Was für `ne Sorte Zeit, darauf kommts an! Große Zeit, tolle Zeit, ganz verteufelte Zeit, in der es hoch und überhoch hergeht – und auch wieder ein bißchen miserabel …“
Hier wird Zeit also nicht nach Quantität sondern nach Qualität bemessen. Gute Zeiten, schlechte Zeiten – auch die Bewertung ist natürlich eine subjektive Angelegenheit. (und kann nicht vereinheitlicht werden, nicht einmal für die Figuren einer fiktiven Erzählung)
Ganz anders hingegen lässt Hermann Hesse in seiner Erzählung „Siddharta“ den alten Fährmann Vasudera zum Thema sprechen:
„Hast du, so fragte er ihn einst, „hast auch du vom Flusse jenes Geheime gelernt: daß es keine Zeit gibt?“
Vasuderas Gesicht überzog sich mit hellem Lächeln.
„Ja, Siddhartha“, sprach er. „Es ist doch dieses, was du meinst: daß der Fluss überall zugleich ist, am Ursprung und an der Mündung, am Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall zugleich, und daß es für ihn nur Gegenwart gibt, nicht den Schatten Zukunft?“
Die absolute Gegenwart ist im Buddhismus von großer Bedeutung. In diesem Zustand gibt es keine Zeit, alles ist in diesem großen Jetzt enthalten. In diesem Beispiel ist ein Fluss entscheidend, der nicht namentlich gekennzeichnet ist, da es doch um das Wesen des Flusses geht, das für jeden anderen Flusslauf ebenso zutrifft.
In Sten Nadolnys Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ hingegen spielt das subjektive Zeitempfinden eine wesentliche Rolle. Seine Hauptfigur kann mit dem allgemeinen Tempo nicht Schritt halten. Die Zeit, in der etwas geschieht oder gesagt wird, vergeht diesem John Franklin so schnell, dass Wesentliches nicht erfasst werden kann. Die „versehrte“ Kirchturmuhr im Kindheitsort von John Franklin illustriert dieses komplizierte Verhältnis: „Das Zifferblatt war an der Seitenkante des dicken Turms auf den Stein gemalt. Nur einen Zeiger gab es, und der mußte dreimal am Tag vorgerückt werden. John hatte eine Bemerkung gehört, die ihn mit dem eigensinnigen Uhrwerk in Verbindung brachte. Verstanden hatte er sie nicht, aber er fand seitdem, die Uhr habe mit ihm zu tun.“
Literatur vermag mit der Zeit zu spielen und zugleich die Frage nach ihrem Wesen immer wieder neu zu stellen. Für die Leser bemisst sich die Frage, ob man sich lieber ein dreizeiliges Gedicht vornimmt oder einen umfangreichen Roman, nicht zuletzt an der Zeit, die für eine Lektüre zur Verfügung steht. Literarische Texte sind in gewisser Weise aber auch selbst Zeitmaschinen, die – ohne das Thema Zeit direkt aufzugreifen – in Vergangenheit oder Zukunft entführen. Mit der Einleitung zur Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ von Thomas Mann – um dieses Beispiel noch anzuführen – fährt man wie in einem Fahrstuhl durch die Zeiten immer tiefer hinunter in eine ferne Vergangenheit. Und auch in einer meiner Erzählungen tritt „die Zeit“ in Erscheinung. So heißt es in „Gefährten der Stille“: Zeit, dachte Anders, merkwürdig und unbegreiflich. Ich kann sie allein durch Veränderungen wahrnehmen. Ohne Veränderung würde auch Zeit nicht existieren.
Ein Beitrag von Jörg Jacob
Literaturhinweise:
Harald Weinrich, Tempus / Besprochene und erzählte Welt.
Homer, Odyssee (Übersetzung von J. H. Voß).
Marcel Proust, Unterwegs zu Swan.
Umberto Eco, Das Foucaultsche Pendel, dtv S. 245.
Umberto Eco, Im Wald der Fiktionen, dtv.
Thomas Mann, Doktor Faustus.
Hermann Hesse, Siddhartha / Suhrkamp TB / S. 87.
Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit.
Jörg Jacob, Gefährten der Stille, Connewitzer Verlagsbuchhandlung.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
„In einem der bekanntesten Texte der Weltliteratur, Homers Odyssee, erzählt Odysseus am Hof der Phäaken von den Abenteuern seiner Irrfahrt. Wie lange braucht er wohl, um all das bereits Erlebte zu schildern?“
Das war die letzte Station des Odysseus, vor seiner Heimkehr nach Ithaka. Angefangen hat alles mit Polyphem. Das wird schon einige Wochen bis Monate gedauert haben, bis Odysseus alles erzählt hatte. So genau, wird es aber auch wieder nicht geschildert. Am Hofe des Alkinoos wurde ein Agon zur Ehre des Odysseus abgehalten. Wie lange die Erzählung des Odysseus dauerte, lässt sich aber kaum abschätzen ->
https://www.mythologie-antike.com/t873-alkinoos-mythologie-konig-der-phaiaken
Ein sehr schöner Überblick! Ich empfehle von Wells noch die Geschichte „The New Accelerator“, der neue Beschleuniger, einer Maschine, mit der Zeit manipuliert werden kann, vergleichbar dem Kino. Von g k Chesterton gibt es Gedanken darüber, wie die Welt aus der Sicht eines Blitzes erscheint. Unerschöpfliches Thema!
ZEIT! ;;; Eines der Themen meines Lebens, welches 1961 begann !
Ausgelöst wurde dieses Zeit-bedenken bei mir, damals, durch H.G. Wells wunderbare Erzählung „Die Zeitmaschine“ (Original: 1895) und die bizarre SF-Serie „Time-Tunnel“ (Anfang der 70er im dt. TV.)
Danke für diesen feinen, gute literatur-schwelgenden Artikel !