Vor hundert Jahren starb Rudolf Steiner, doch sein Werk, sein Denken ist lebendig geblieben, und sei es durch die zahlreichen Auseinandersetzungen, die es gerade in den letzten zwei Jahrzehnten ausgelöst hat. Vielleicht liegt diese Lebendigkeit auch an den ausufernden Gedanken, die Steiner hervorgebracht hat und die allesamt, obwohl esoterisch fundiert, einen Bezug zur Praxis entwickelt haben, sei es in der Medizin, Landwirtschaft, Pädagogik, Ernährung, Architektur oder Kosmetik – man denke nur an Weleda, Demeter, Waldorfschulen oder biodynamischen Ackerbau.
Mit anderen Worten, sie sind anschlussfähig, und zwar, so muss man vermuten, weil sie Widerstand leisten gegen die komplette Technisierung und Industrialisierung, die Digitalisierung und den Raubbau an Zeit, Menschlichkeit und Gesundheit. Wie konnte Steiner das alles in Bewegung setzen, neben seinen hundertfältigen Schriften und Vorträgen, zumal er vielfach angefeindet wurde und nicht allzu lange lebte (er wurde 64)? Auf all diese Fragen wird man keine konkreten Antworten finden, auch nicht in Wolfgang Müllers sympathisierend-kritischen Überlegungen, deren Titel schon eine Spannung ausdrückt. Um diese Spannung aber geht es. Der Journalist, Jahrgang 1957, versucht Annäherungen sowohl an Steiners formidables Werk als auch an sich selbst und seine Zeitgenossen, deren Kritik an Steiner er durchaus ernst nimmt.
Mir gefällt vor allem der bewusst subjektive Einschlag des Buches, denn anders kann man sich dem astralen Gebirge wohl kaum nähern. Also: warum kehrt der Autor immer wieder zu Steiner zurück, ohne ein gläubiger Anhänger zu sein? Gerade weil Steiner, zumindest in seinen Verlautbarungen, immer wieder darauf hinweist, man solle alle Erkenntnisse, die er mitteilt, überprüfen, ja, geradezu wissenschaftliche Standards anlegen. Ich selbst bin immer wieder in die Nähe der Anthroposophie gekommen, nolens volens, mal Ersatzdienst leisten in einem anthroposophischen Heim für behinderte Kinder in England, wo eine pragmatisch-angelsächsische Version praktiziert wird; mal im Studium der Werke von Owen Barfield, dem Freund Tolkiens und C.S. Lewis‘. Mit anthroposophischen Verlagen und Zeitschriften hatte ich gute Erfahrungen, weil sich meine Interessengebiete mit ihnen zeitweise deckten (etwa in Sachen Hugo Kükelhaus). Hängen geblieben sind bei mir einige Aussprüche und Hinweise, weniger das System als solches. So ergeht es mir auch bei dem Buch von Müller. So war es Steiners Kennzeichen – und das wird in anthroposophischen Kreisen auch geübt –, seine Reden frei zu halten, das heißt, man konnte sein Denken auch beim Reden verfolgen, nicht wie heute oft üblich unter Geisteswissenschaftlern, die aus einer Rede das Ablesen von fossilierten Gedanken. Ein Vortrag sollte eben ein Vortragen sein, kein Nachtragen. Dazu bringt Müller den tiefgründigen Hinweis von Steiner: Man dürfe nie aus innerem „Geschwelltsein“ sprechen, sondern „im Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit gegenüber dem, was zu sagen wäre. Sie müssen eigentlich um Hilfe bitten.“ Das unterstreiche ich mir dick. Es gibt einiges in diesem Buch, was ich mir unterstreiche. Etwa dieses: Die spirituelle Welt ist für Steiner real und objektiv erfassbar, wenn man sich dafür geistig übt. Denn das ist notwendig, um einen klaren Zugang zu bekommen. Für diese Selbstdisziplinierung macht er sechs Vorschläge (und erinnert an die Sechs Vorschläge für die Menschheit des italienischen Autors Italo Calvino): Erziehung zur Sachlichkeit, Schulung des Willens, Gelassenheit, Positivität, Unbefangenheit, Harmonisierung dieser Haltungen. Ich denke, das könnte vielen von uns im Leben weiterhelfen, ohne jede Esoterik.
Aber vor allem setzt sich Müller mit den Vorwürfen auseinander, die seit den 1990ern den Gründer der Anthroposophie und sie selbst treffen. Zwei Hauptthemen werden benannt: inwiefern ist das, was die Anthroposophie lehrt, ob philosophisch oder praktisch, überhaupt wissenschaftlich fundiert? Müller will nicht die Richtigkeit anthroposophischer Medizin oder Landwirtschaft beweisen, plädiert aber für einen offenen Umgang auch mit Homöopathie, die ja bei aller fehlenden wissenschaftlichen Grundierung auf Erfolge verweisen kann und daher in einer Nische verweilt. Überhaupt stellt Müller bei manchen Anthroposophen, die zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstüberschätzung schwanken, eine typische Psychologie der Nische fest: defensiv einerseits, andererseits von sich überzeugt und ver-Steinert. Das zweite Hauptthema in diesen Jahren ist die medial wirksame Suggestion, Steiner und die Seinen seien Rassisten gewesen und hätten die Nähe zu nationalsozialistischer Esoterik nicht gescheut und sich dank gemeinsamen Irrationalismus im Kampf gegen die Moderne befunden. Müller zeigt, dass Steiner tatsächlich in einigen Vorträgen heute Unerträgliches über Juden, Afrikaner und die auserwählten Arier gesagt hat. Manches davon hat er aus der Theosophie bezogen, der er zunächst ja gefolgt war. Dennoch zeigt sein Umgang mit dem Thema „Rasse“ doch ein eher offenes Spektrum, keine geradlinige Erhöhung des einen und Diskriminierung des anderen. Zwar könnte die Karma-Idee, die die eigene Verantwortung für Leid in diesem Leben aus einem früheren Leben herleitet, sehr wohl nationalsozialistisch genutzt werden, jedoch zeige die Praxis der anthroposophischen Heime oder Camphill-Dörfer, wie sorgsam gerade die dort tätigen Menschen inklusiv denken und das Gegenteil von Diskriminierung dort praktiziert wird. Im Übrigen wurde die Anthroposophie während der NS-Zeit verboten. Allerdings wirft Müller der offiziellen anthroposophischen Geschichtsschreibung vor, diese Aspekte zu wenig offen bearbeitet zu haben.
Worin aber sieht Müller im letzten Teil seines Buches die immer noch andauernde und vielleicht wachsende Bedeutung Steiners heute und in der Zukunft? Kurz gesagt: Anthroposophie könnte zu einer neuen Beleuchtung der Wirklichkeit beitragen, ein erster Schritt wäre dies für einen anderen Umgang zwischen Menschen und zwischen Mensch und Natur. Die Dinge könnten durch anthroposophische Wahrnehmungsübung eine „andere Färbung“ bekommen und uns jünger und neugieriger machen. Man denke an Steiners Aufruf: „Werden Sie Genies an Interesse!“ Mit dem digitalen Zeitalter treten wir in völlig neue Felder von Problemen ein, die Aufmerksamkeit, Verlust von Sinneskräften, kognitive Dissonanzen betreffen. Dabei könnte die Anthroposophie „Geburtshelferin der mentalen Integration werden.“ Wolfgang Müllers kritische, selbstkritische, aber auch sympathisierende Schrift darf man als eine wichtige Brücke zwischen skeptischer Öffentlichkeit und einer manchmal merkwürdigen und verschwurbelten, aber doch produktiven Lehre bezeichnen.
Ein Beitrag von Elmar Schenkel
Literaturhinweis:
Wolfgang Müller: Das Rätsel Rudolf Steiner. Irritation und Inspiration. Stuttgart: Kröner 2025, 253 S., € 25.00.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.
Im Gegensatz zum Hardcore-Steiner mit seiner skurrilen Esoterik (gemischt mit Evolutionismus, was nach René Guénon ein sicheres Zeichen für eine pseudo- oder gegeninitiatische Lehre darstellt) kann der Softcore-Steiner mit seiner Arzneimittellehre oder dem biologisch-dynamischen Landbau auch weitere Bevölkerungsgruppen ansprechen.