Zwischen kulturellem Gedächtnis und literarischer Fiktion – Slawische Mythen in der zeitgenössischen polnischen Literatur, Teil 1

Allgemeinslawische, nationale wie auch regionale Mythen sind in der zeitgenössischen polnischen Literatur von großer Bedeutung, die zunehmend und auf unterschiedliche Art und Weise ins kulturelle Gedächtnis zurückgerufen werden. Sie veranschaulichen ein fast ununterbrochenes Suchen nach einer zum größten Teil untergegangenen, verdrängten, vergessenen Kultur und Religion vor der „Taufe“ Polens im Jahre 966. Zu unterscheiden ist dabei zwischen einer im Wachsen begriffenen neuheidnischen (neo-paganistischen) Bewegung und einem zunehmenden Interesse für europäische und slawische Mythologie in der Literatur, u.a. als ein „ureigenes Anliegen“ verstanden. Nicht nur in Polen gibt es eine reiche wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Literatur zum Thema Mythen und Mythologie. Verwiesen sei an dieser Stelle lediglich auf eine neue Veröffentlichung über slawische Mythologie und Folklore, die folgenden Titel trägt: The End of The Sun – Eine magische Reise durch die altslawische Folklore (2025) von André Savetier.[1]

Mich interessieren vor allem die zahlreichen Motive mythologischer Herkunft in der modernen zeitgenössischen Literatur Polens. Dabei haben wir es mit einer Tradierung als auch einem kreativen Umgang mit Mythen gesamteuropäischer wie slawisch-polnischer Herkunft, mit „entzauberten und wiederverzauberten mythischen Welten“ zu tun. So setzen einige Schriftsteller und Schriftstellerinnen auf eine gewisse kulturelle Verbindung bzw. Kontinuität des Nationalen, des „ewig Polnischen“ mit dem Vorchristlichen, Heidnischen. Eine Tendenz, die vor allem in der Romantik mit ihren Barden, aber auch in der Literatur und Kultur des „Jungen Polen“ (Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert) im Rückbezug auf eine verklärte, idealisierte, heroische Vergangenheit ihren eigentlichen Ursprung sieht. Daraus weiß die polnische Literatur bis heute immer wieder zu schöpfen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an zahlreich vertretene historische Romane, so u.a. an Eine alte Mär (Stara Baśń) des polnischen Schriftstellers Józef Ignacy Kraszewski (1812-1887) zum vorchristlichen Thema. Exemplarisch soll anhand ausgewählter Werke der zeitgenössischen Literatur polnischer Herkunft gezeigt werden, wie mythologische Elemente, Motive und Handlungsstränge kreativ in literarische Erzählungen eingewebt, zuweilen auch zum tragenden Thema werden.

Wo die Nacht verweilt… Lavendelblau trifft auf Farngrün, Himmel auf Wald (Ania Poranek)

Am Anfang meiner Ausführungen soll eine literarische Veröffentlichung stehen, deren vorrangiges Thema die heimische polnische Volksmythologie ist. Das Buch von A. B. (Ania) Porannek trägt den Titel Wo die Nacht verweilt. Heimisch ist hier im doppelten Sinne zu verstehen, zum einen als eine Heimkehr der in Kanada (Ontario) lebenden Autorin in die angestammte Heimat Polen, aber auch als eine Rückkehr zur heimischen, polnischen Sagenwelt und Volksmythologie der Vorfahren. „As a Polish girl who grew up in Canada, the stories of Polish folklore were something I knew from childhood of my childhood memories of my grandparents‘ bedtime stories.” Die Schriftstellerin erweist sich als eine leidenschaftliche Kennerin und Liebhaberin slawischer Mythologie und mythischer Erzählungen. Das zeigt sich in aller Deutlichkeit in ihrem in englischer Sprache verfassten poetischen Debütroman  Where The Dark Stands Still (2024): „Gothic, melancholy, fairytale, Slavic, romantic.“ Das Buch wurde zu einem Bestseller. Die polnische Übersetzung erschien 2025 unter dem Titel Tam, gdzie trwa noc. Die deutsche Ausgabe trägt den poetischen Titel Wo die Nacht verweilt (2024) und ist mit dem Zusatz: „Slawische Folklore trifft auf romantische Fantasy“ versehen. In ihrer märchenhaft gestalteten Fantasy-Geschichte greift Poranek auf die polnische Volksmythologie zurück. Zunächst versteckte die Protagonistin Liska Radost (ein sprechender Name, etwa: Füchslein Freude) ihre magischen Fähigkeiten in einem vom Aberglauben geprägten Dorf, in dem Andersartigkeit nicht geduldet wird, und sie als Hexe verschrien wird. Aus diesem Grund versucht sie ihre magischen Fähigkeiten vor den anderen Dorfbewohnern zu verbergen. Der Ordenspriester der römisch-katholischen Kirche richtet folgende warnende Worte an sie:

„Magie verstößt gegen die Gesetze der Natur, ändert Dinge, die nicht geändert werden sollten. Sie funktioniert, indem Geister angerufen werden – und wer das bewusst tut, betreibt Hexerei. Die eifrigsten Geister stets Gehilfen des Teufels sind. Das ist vor allem für Mädchen wie dich gefährlich. Weil Frauen empfänglicher für die Versuchungen der Finsternis sind!“

Als Liska zunehmend die Kontrolle über ihre magischen Kräfte zu entgleiten droht, sucht sie zur Mittsommernacht (Kupala-Nacht, auch Johannesnacht genannt) Hilfe im nahegelegenen, von Geistern bewohnten, finsteren Driada-Wald. Die nur in dieser Nacht blühende Farnblume, der magische Kräfte zugesprochen werden, soll Liska einen Wunsch erfüllen; sie möchte ihre geächtete, verhängnisvolle Magie loswerden, um endlich ein „normales“ Leben führen zu können. Im Wald trifft sie auf den Dämon und Wächter des Waldes, Leszy (ein sprechender Name, etwa: Waldgeist), der seine Gestalt, so oft es ihm gefällt, wandeln kann. Zunächst tritt er als ein stattlicher weißer Hirsch in Erscheinung. „Er ist groß, von schlanker Statur und besitzt die Eleganz eines Adligen.“ Die Reisenden schützt Leszy auf ihrem Weg durch den Gespensterwald vor Unheil, allerdings gegen die Entrichtung eines Tributs. Leszy schlägt auch Liska einen Handel vor: Sie soll ihm ein Jahr zu Diensten stehen, erst danach soll ihr der mit der Farnblüte in Verbindung stehende Wunsch erfüllt werden. Doch bald schon findet sie heraus, dass sie nicht die einzige ist, die auf solch einen „Deal“ eingegangen ist. Alle Mädchen vor ihr waren auf mysteriöse Weise plötzlich verschwunden. Mit Liska und Leszy beginnt auch eine erotische „story“, die zuweilen an „Die Schöne und das Biester“ erinnert. Neben dem Waldgeist werden weitere Gestalten aus der slawisch-polnischen Sagenwelt und Mythologie zum Leben erwecken. Zu ihnen gehört die trügerische, zunächst verführerisch erscheinende Nymphe Rusałka: „Den Bach hinauf steht […] eine wunderschöne Frau, nackt, mit flachsblonden Locken, die über ihre Brüste fallen, und einladend ausgebreiteten Armen.“ Hinzu kommt die slawische Mittagsfrau – Południca, sowie Kikimora, ein kleines, hässliches Weiblein mit wirrem Haar und glühenden Augen, deren Ursprung aller Wahrscheinlichkeit nach auf die slawische Erdgöttin Mokosch (feuchte Mutter Erde) zurückgeführt werden kann. Letztendlich entdeckt Liska „einen Farn, üppig und unnatürlich grün. So grün, dass er zu leuchten scheint. In der Mitte, zwischen die Farnwedel geschmiegt und vom Leuchtkranz der Blätter umgeben, befindet sich eine einzige Blüte.“

Setzen wir unsere kleine literarische Erkundung mit einem der erfolgreichsten zeitgenössischen Schriftsteller Polens fort. Szczepan Twardoch (* 1979), studierter Soziologe, verfasste mit seinem Buch Drach eine Jahrhundert-Saga. Der Titel, im polnischen Original (2014) und in der deutschen Übersetzung von Olaf Kühl (2016) identisch, geht auf das oberschlesische Wort „drach“ zurück. Der über vier Generationen reichende Roman thematisiert Twardochs Heimat Oberschlesien als „unentdeckte Atlantis mitten in Europa“. Zugleich weist das Buch auch autobiographische Züge auf, setzt sich mit der weitverzweigten Familiengeschichte des Autors auseinander. Aufschlussreich sind die zahlreichen Verflechtungen der monumentalen Erzählung mit mythischem wie archetypischem Denken, so u.a. mit Verweisen auf den Żmij oder auch Żmej, einen slawischen Drachen (zuweilen auch eine Schlange), der auf den düsteren slawische Gott der Unterwelt, Weles (Veles), zurückgehen könnte. Er ist es, der über die menschliche Existenz herrscht. Eigentliche Erzählerin ist in Twardochs Buch allerdings die Erde selbst, das geschundene oberschlesische Erdreich in Gestalt von Körper und Leib zugleich: Der Leib als das allseits Lebendige, das Gelebte und Gespürte, als „leibhafte“ Erscheinung, während der Körper eher Gegenstand von Anatomie und Physiologie ist. Der zentrale Protagonist Josef Magnor, der sich weder als Pole noch als Deutscher fühlt, fährt in die Grube ein: „Er ist tief unter der Erde, ist tief in mir, wie mein Sohn in meinem Leib, in Dunkelheit.“ Es ist eine Art der Rückkehr in die Geborgenheit des Mutterleibs, wie auch ein Bezug auf die fruchtbare göttliche Mutter Erde Mokosch (die Feuchte) bzw. Mati Syra Zemlya (die feuchte Mutter Erde). Und diese Erde weiß einfach alles, sie vergisst nichts, sie verschlingt menschliche Überreste und „verstofflicht“ diese. Es ist ein fatalistischer, ewiger Kreislauf: „Erde zu Erde…“ Die Mutter Erde hebt die Dichotomie von Tod und Leben auf: „[…] oder wie erkläre ich euch die einfache Tatsache, dass ihr Erde seid, von Erde geboren und zur Erde werdend, ihr seid ich, auch mir werdet ihr geboren und kehrt in mich zurück.“ Als Paraphrase ist es zugleich auch ein Rückgriff auf eine alttestamentarische Formel: „Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück.“

Die grenzüberschreitende Mythologie der Erde als urzeitliche Substanz wird in Twardochs Buch zu einer omnipotenten Hüterin des Erzählschatzes; sie wird zum mitleidlos schwarzen, drachenähnlichem Geschöpf. Und schwarz wie das Erdreich sind auch die Bergleute… Der schwarze Drache, im Oberschlesischen „Drach“ genannt, gilt als Verkörperung der Erde bzw. der Erdmutter selbst:

„Die Erde ist so ein großer Drach, dem kriechen mer über seinen Leib, und Stollen graben mer in seinen Leib, der die reene Sonne is. In der Heiligen Schrift steht es geschrieben, bei Esekiel, dass der Pharao ein Krokodil ist, das im Fluss geschlüpft ist, weißt du? […] Aber das ist keen Krokodil, […] ist ein bieser Drach. Ein großer. Verstehst du?“ Es ist eben jener Drach, der wie die Erde auch, mitleidlos die Zeit, die Jahrhunderte, die Generationen in ihren über- und unterirdischen Dimensionen überblickt:

„Ich spüre die Füße von Josef Magnor. Ich spüre die Füße und Hände des Sohnes von Josef Magnor, wie sie mich kratzen und reizen und wie sie heranwachsen, aufquellen, ich spüre die Füße des Enkels von Josef Magnor und des Urenkels von Josef Magnor, die Füße des Urenkels von Josef Magnor in Lederschuhen, entpanzert, an der Cafétheke in Gleiwitz. Etwas verbindet sie, ein Faden, der durch mich hindurchläuft, in mir ist er, der ich bin.“

Zugleich dient das Wort „Drach“ auch als Schimpfwort: „Weg mit dir, du Drach!“ – ist zugleich eine Beschwörung des Teufels, „Pieronje“, bezogen auf den obersten slawischen Donnergott „Perun“: „Der himmlische Gott, der auf Gipfel der Weltachse sitzt zwischen Sonne und Mond, der donnergebietende Gott des Krieges, der Axt und der Schwüre, Liebesgott, Bändiger der Schlange.“

Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte


Anmerkung:

[1] https://www.dasklapptsonicht.de/the-end-of-the-sun/


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

3 Antworten auf „Zwischen kulturellem Gedächtnis und literarischer Fiktion – Slawische Mythen in der zeitgenössischen polnischen Literatur, Teil 1“

  1. Heute wird Sokrates übrigens so gedeutet, dass er mehrfach dem „Zeitgeist“ widersprach – und deshalb schließlich mit dem Tode bestraft wurde. Wie ist es heute? Widerspricht man dem Zeitgeist, wird man ausgesondert….

    Was hat sich denn jemals WIRKLICH geändert (geistig)? Geistig betrachtet, hat es nie eine Weiterentwicklung („Evolution“) gegeben.

  2. „Dann bin ich insofern etwas weiser, als das, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube.“

    So soll es Sokrates gesagt haben. Aber: Von Sokrates selber gibt es keine (altgriechischen) Schriften. Vielleicht gibt es Fragmente, da bin ich jetzt aber nicht sicher.

    In 1. Linie wird Platon die schriftliche Beschreibung des Sokrates zugeordnet. Platon ist aber auch sehr problematisch. Diese Philosophie ist nämlich keine „Ich-Philosophie“ – sondern eine erzählerische Philosophie. Ständig erzählt Platon Geschichten, die sich zwischen mehreren (fiktionalen?) Gestalten abspielen. Platon selber spielt überhaupt nie aktiv mit, der lässt immer diskutieren.

  3. „Magie verstößt gegen die Gesetze der Natur, ändert Dinge, die nicht geändert werden sollten. Sie funktioniert, indem Geister angerufen werden – und wer das bewusst tut, betreibt Hexerei.“

    Warum wird in ALLEN Mythologien der Fokus sehr stark auf Magie fixiert? Woher kommt das Wort Magie und wie wird es in die deutsche Sprache übersetzt? Altgriechisch μαγεία mageía = deutsch -> „Zauberei“, lateinisch magia. Gedeutet wird das Wort Magie als Zauberei. Das Wort kommt aus dem Altgriechischen, aber ALLE Mythologien – auch die slawische Mythologie – ist komplett bestückt mit magischen Elementen. Wir lachen heute darüber. Aber kann man Dinge WIRKLICH mit einer Sicherheit von 100% ausschließen? Ich weiß es nicht, und würde deshalb schreiben: Wer sich einbildet, zu wissen, ist noch dümmer, als derjenige, der weiß, dass er nicht weiß – und auch nicht glaubt, zu wissen.

    Was Magie betrifft, weise ich aus der griechischen Mythologie mal auf die dreifaltige Hekate hin ->

    https://www.mythologie-antike.com/t3-hekate-in-der-griechischen-mythologie

    Was ist denn mit diesem obersten slawischen Donnergott Perun? Wo soll denn der Unterschied zu Zeus, Jupiter, Thor, Taranis, Indra , Gott, Allah, Jehova, Jahwe und noch mehr sein? Da gibt es überhaupt keine Unterschiede, bis auf die Namen. Die ganzen Muster / Mechanismen sind stets identisch ->

    https://www.mythologie-antike.com/t646-donnerkeil-mythologie-waffe-des-himmelsvaters-zeus-baal-thor-taranis-etc

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