Zwischen kulturellem Gedächtnis und literarischer Fiktion – Slawische Mythen in der zeitgenössischen polnischen Literatur, Teil 2

Ein weiterer Roman [Szczepan] Twardochs, Cholod (im polnischen Original geht der Titel auf das russische Wort für „Kälte“ zurück) trägt den deutschen Übersetzungstitel „Kälte“ (2024): „Cholod, weil es kalt ist!“ Und „Kälte“ steht auch als Metapher“ für geistige Kälte und Gefühllosigkeit. In Twardochs Buch haben wir es zunächst mit einer fiktiven Reise nach Spitzbergen in eine ehemalige Bergarbeiterstadt zu tun.

Der fiktive Erzähler Szczepan trifft auf seiner „Flucht vor der Welt und dem Leben“ auf eine ältere Frau namens Borghild Moen. Diese überreicht ihm auf ihrem Schiff ein Notizbuch, das rückblickend am 16. Juni 1946 beginnt. Protagonist dieser Geschichte ist Konrad Widuch mit einer überaus verwickelten und spannenden Lebensreise: Er hatte in der kaiserlich-deutschen Marine gedient, war am Matrosenaufstand von 1918 beteiligt, wurde bald zu einem begeisterten Revolutionär und Trotzkisten, ein Gegner der „Weißen“ im russischen Bürgerkrieg. In der Ukraine wird er Zeuge des Holodomor (die große Hungerkatastrophe), und er kämpft in der Roten Reiterarmee Budjonnys wie auch im Polnisch-sowjetischen Krieg. Unter der Gewaltherrschaft Stalins verliert Widuch letztendlich alles, was ihm teuer und lieb war: seinen Glaube an den Kommunismus und die Sowjetunion, den Glauben an seine Familie und seine Zukunft. Und so flüchtet er mit der Russin Ljubow (ein sprechender Name: Liebe) und dem georgischen Kriminellen Gabaidze in den eiskalten Norden. Dort wird er von archaisch lebenden Ureinwohnern gefunden. Diese glauben an unter und mit ihnen lebende Götter. Es ist eine „mythische Welt vor der Schrift“, „vorliterarische Mythen als axis mundi“ bestimmen das tägliche Leben; Götter und Geister sind „real wie ein Pferd oder ein Mensch“. Der Erzählrahmen des Romans geht auf Joseph Conrads Herz der Finsternis als eine Reise in die Totalitarismen und gewaltsamen, blutigen Umbrüche des 20. Jahrhunderts zurück. Cholod stellt eine finstere Welt voller Grausamkeit und Gewalt vor. Zwei sowjetische Wissenschaftler entdecken schließlich mit ihrem Wasserflugzeug die Siedlung der Cholodzer:

„Nicht einmal am Ende der Welt ist man vor Moskaus Schergen sicher. […]. Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend, schwach sind, aber es kommt groß, ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland, das heißt in Scheiße. Damit alles genau solche Scheiße wird wie es selbst… So wird Russland kommen und euch auffressen und ausscheißen… […] Ihr seid wenige. Und sie sind viele. Und Russland, wenn es sich ergießt, ist wie eine Springflut, wie diese großen Wogen im Meer, die aufkommen, wenn der Gletscher kalbt, wenn ein Berg vom Eis abbricht und ins Meer fällt und die Brandung am Strand aufsteht zu einer Wasserwand und anstürmt und wegfegt, um sich dann zurückzuziehen und die Boote vom Ufer mitzureißen, trocknende Fischernetze, Menschen, Seehunde, Götter, wenn ihr sie ans Ufer gestellt habt, alles nimmt sie mit und geht, aber Russland ist schlimmer, denn die Woge zieht sich zurück, aber Russland niemals. Versteht ihr? Wo der Russe seinen Fuß hinsetzt, dort bleibt er auch.“

Dem entgegnet der geblendete und verstümmelte Gaibadze (ihm wurden beide Hände abgehackt) als das von den Eingeborenen anerkannte spirituelle Oberhaupt: „Russland wird euch Reichtum und Wohlergehen bringen… Habt keine Angst vor Russland. Russland ist gerecht… Russland bringt viel Wodka.“

Cholod war zweifelsohne auch unter dem Einfluss des Ukrainekrieges entstanden. Ihm folgte Twardochs jüngstes Werk Die Nulllinie. Roman aus dem Krieg (2025). Als einer von wenigen westlichen Schriftstellern hatte der Schriftsteller die Front in der Ukraine besucht, hatte er an der vorderster Linie die Schrecken des Krieges gesehen und war dabei selbst in Gefahr geraten. Es ist ein mit aufwühlender, bestechender Authentizität und „epischer Wucht“ daherkommendes Buch über Gewalt und Finsternis, über Freiheit, Mut, Barbarei und Menschsein. Dem Roman wird kennzeichnenderweise ein Zitat aus Homers Elias vorangestellt:

„Meine göttliche Mutter, die silberfüßige Thetis, Sagt, mich führ zum Tod‘ ein zweifach endendes Schicksal. Wenn ich allhier verharrend die Stadt der Troer umkämpfe; Hin sei die Heimkehr dann, doch blühe mir ewiger Nachruhm. Aber wenn heim ich kehre zum lieben Land der Väter; Dann sei verwelkt mein Ruhm, doch weithin reiche des Lebens Dauer, und nicht frühzeitig ans Ziel des Todes gelang‘ ich.“ (Homer, Ilias, 9. Gesang)

Die polnische Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk (* 1962) ist dafür bekannt, dass sie häufig mystische Elemente mit historischen Realitäten kombiniert.

So folgt dem Buchtitel Empusion, im polnischen Original Empuzjon, der Untertitel als eine Art Ankündigung: Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte. Damit wäre der Erzählrahmen gesetzt. Der Titel ist eine kreative Wortschöpfung der Autorin. Er setzt sich aus dem altgriechischen „Symposium“, sinngemäß für ein geselliges Beisammensein bzw. Trinkgelage ausschließlich in einer Männerrunde, und „Empusa“, einer dämonischen weiblichen Figur aus der griechischen Mythologie zusammen. Diese Spuk- und Schreckensgestalt diente der grimmigen Göttin der Unterwelt, Hekate. Sie treten häufig gemeinsam als Verwandlungskünstlerinnen auf. Der griechischen Volksetymologie nach sind sie einfüßig, besitzen ein Bein aus Bronze oder Kupfer, und sie führen nichts Gutes im Schilde. So verführen sie junge Männer und ernährt sich von ihrem Fleisch und Blut. Eine derartige Gestalt mit einem Esels- und einem Pferdefuß tritt u.a. auch in Goethes Faust. Zweiter Teil in der Walpurgisnacht auf. Bei Tokarczuk sind die titelgebenden Empusen in erster Linie mythische Angstgöttinnen und Schreckgeister. Auf besondere Weise bringen sie feministische Schauerelemente, unheimlich wirkende Gender-Unklarheiten und seltsame Waldgeister in den Erzählfluss ein, und sie sind die eigentlichen Erzählerinnen des Romans. Als „schlesische Variante“ von Thomas Manns Zauberberg spielt Tokarczuks Roman in einem Sanatorium für Lungenkranke. In einer Art Schauerroman werden sexuelle Themen, Geschlechteridentitäten und Horrormotive raffiniert verhandelt. Geister und Gespenster halten sich vornehmlich im nahen Wald auf, befinden sich aber auch unter den Türschwellen oder auf dem Dachboden. Hinzu kommen rätselhafte Ritualmorde. Wie eine Drohung schwebt eine alte Legende aus der Zeit der Hexenverbrennung über dem schlesischen Ort Görbersdorf, dem heutigen Sokołowsko. Als Hexen verfolgte Frauen sind vor vielen Jahrhunderten in die Wälder geflohen und führen dort immer noch ihr Unwesen. Eben dort ereignen sich merkwürdige Todesfälle; es trifft dabei immer wieder junge Männer, die in Stücke zerrissen im Wald aufgefunden werden. Es scheinen übernatürliche Kräfte am Werk zu sein, die sich rächen und die Macht an sich reißen wollen.

Zu ihnen gehören auch die rustikalen „Tuntschis“, Sexpuppen oder Ersatzfrauen, die Köhler im Wald aus Moss formen. Jene, auch im Alpenraum als „Sennentuntschis“ bekannten Puppen sollen, zum Leben erweckt, sich für die an ihnen begangenen Untaten und gottlosen Frevel rächen; sie ziehen den übergriffigen Männern die Haut vom Leibe.

„Es war eine menschliche Gestalt. […]. Doch war es nur eine Figur aus Moos, Ästen, trockenen Nadeln, von Pilzgeflecht wie mit zarter Spitze umwachsenem morschen Holz. Der recht plastisch herausgearbeitete Kopf hatte ein Gesicht aus Zunderschwamm, mit Tannenzapfen als Augen und einem in die weiche Substanz hineingehöhlten Loch als Mund. […] Die Puppe hatte seitlich ausgebreitete Arme und Beine, und zwischen den Beinen […] befand sich ein dunkles, enges Loch, ein Tunnel, der ins Innere dieses organischen, aus den Früchten des Waldes geformten Leibes führte.“  

Sämtliche misogynen Ansichten im Buch stellen ausgewählte Paraphrasen von Textpassagen bekannter Schriftsteller der Weltliteratur dar. Wissenschaftsdiskurse der klassischen Moderne werden mit dem Übersinnlichen kontrastiert. Dabei weist der kränkliche, weiche, sanftmütige, junge Protagonist mit dem militanten Namen Mieczysław Wojnicz (Krieger) eine sexuell non-binäre Identität auf. In der Männerrunde im Sanatorium soll Wojnowicz auf Wunsch seiner Familie etwas männlicher werden: „Ein jämmerliches, hilfloses Weinen würgte Wojnicz in der Kehle, das er vor dem Vater und dem Onkel zu verbergen gezwungen war. Sie hätten doch noch gesagt, er flenne wie ein Weib. […] Es ist doch ganz einfach, dachte er, während er seine Tränen herunterschluckte: Ein Mann zu sein heißt, zu lernen, alles zu ignorieren, was Probleme bereitet. Das ist das ganz Geheimnis.“ Zu guter Letzt nimmt er seine sexuelle Identität an und beginnt als Frau ein neues Leben.

Die große Geschichte wie die kleinen, erzählten Geschichten, Mythen und Metaphysik stehen nicht nur bei Tokarczuk im Zentrum. Das kulturelle Gedächtnis eines Landes bzw. einer Region scheint alle wechselnden politischen Systeme zu überdauern, schreibt sich auch in die Natur einer Landschaft und in die Erfahrung der Menschen, die dort leben, ein, sind „für immer hier.“ Zahlreiche Werke der zeitgenössischen polnischen Literatur nehmen mythische Geschichten und Figuren zum Ausgangspunkt, erzählen sie weiter, neu, zumeist aus einer anderen Perspektive. Sie kombinieren sie mit neuen Erzählelementen, integrieren sie in einen weit gefassten europäischen Raum. Es kommt zu einer vielfältigen Re-Mythisierung und Dekonstruktion von Mythen. Ein solcher „Hunger nach dem Mythos“ wie auch eine „Renaissance des Mythischen“ kann in allen slawischen Literaturen des 20. Jahrhunderts beobachtet werden. Sie geben Impulse, liefern Stoff für neue Geschichten, die bisher nur selten oder noch gar nicht erzählt wurden.

Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V. 

Eine Antwort auf „Zwischen kulturellem Gedächtnis und literarischer Fiktion – Slawische Mythen in der zeitgenössischen polnischen Literatur, Teil 2“

  1. „In der Ukraine wird er Zeuge des Holodomor (die große Hungerkatastrophe), und er kämpft in der Roten Reiterarmee Budjonnys wie auch im Polnisch-sowjetischen Krieg. Unter der Gewaltherrschaft Stalins verliert Widuch letztendlich alles, was ihm teuer und lieb war“

    Das Wort Krieg finde ich dabei besonders interessant. Wenn man durch die Geschichtsbücher reist, gibt es stets Kriege. Es heißt, dass die schriftlichen Aufzeichnungen mit den sumerischen Keiltexten (Schriftsystem) starten, datiert auf ca. vor 5000 Jahren. Sofort lassen sich den Schriftzeugnissen die Begriffe Betrug, Täuschung und Krieg entnehmen. Betrug, Täuschung und Krieg gehören demnach zu den bedeutsamsten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation. Altgriechisch (Antike) heißt der Krieg Polemos ->

    https://www.mythologie-antike.com/t474-polemos-mythologie-gott-vom-krieg

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