Der Schrecken der Naguals

In den Mythologien Mesoamerikas gilt der Nagual oder Nahual als persönlicher Schutzgeist, der in tierischer wie pflanzlicher Form in Erscheinung treten kann. Diese Schutzgeister können bei einigen Menschen auch Schrecken auslösen. Der französische Historiker, Ethnologe und Archäologe Abbé Charles Étienne Brasseur de Bourbourg (1814 – 1874) sowie der US-amerikanische Ethnologe und Archäologe Daniel Garrison Brinton (1837-1899) wollten im überlieferten Mythos einen “Nagualismus”, eine geheime Untergrundbewegung erkennen, die dem Kolonialismus gefährlich werden könne und die Zerstörung der christlichen Gesellschaftsordnung zum Ziel habe.

Schutzgeister verursachen auch heute noch Ängste bei Menschen, wie das Beispiel der Auseinandersetzungen um die Theaterperformance unter der Regie von Volker Hesse zur Einweihung des Sankt-Gotthard-Basistunnels eindrücklich zeigte. Das Theaterstück, das sich um eine Sage aus dem Urnerland gehandelt haben soll, wonach der Teufel auf der Jagd nach einer menschlichen Seele mit einem Ziegenbock überlistet worden sei[1], löste heftige Reaktionen aus.

Selbsternannte Experten glaubten darin Satanismus, Totenanbetung, satanische Rituale und islamische Symbole und den Beginn einer neuen Weltordnung von Illuminaten auszumachen, während bei vielen Zuschauern das “bizarre Schauspiel” lediglich auf Unverständnis stieß. Gleichsam erinnerte das Ganze an Rituale, die christliche Missionare im Mittelalter und der Neuzeit als “Teufelswerk” denunzierten. Folgerichtig lieferten sie die Priester und Teilnehmer derartiger Zeremonien den Inquisitionsgerichten aus. Um falsche Rückschlüsse zu vermeiden, wäre vielleicht ein informatives Begleitheft für das kostspielige Mega-Event ratsam gewesen.

Ein anderes Verständnis von Nagualismus hatte der US-amerikanische Ethnologe und Schriftsteller Carlos Castañeda, der mit Don Juan Matus, einem angeblichen Schamanen und Zauberer des Volks der Yaqui, einen New-Age-Kult auf der Grundlage eines vorgeblich tradierten Nagualismus der Tolteken begründete. Die ersten Bücher Castañedas über mesoamerikanischen Schamanismus galten lange Zeit als ethnologische Feldstudien, beruhten jedoch im Wesentlichen auf Untersuchungen okkulter Literatur der Universitätsbibliothek. Der US-amerikanische Schriftsteller Richard de Mille konnte Anfang der 1970er Jahre nachweisen, dass es sich bei Don Juan Matus um eine fiktive Figur handelte.

Willi Büsing: Ask und Embla, 80 cm x 100 cm, Acryl auf Leinwand, 2011

In meiner Malerei haben Naguals einen festen Platz eingenommen. 2011 arbeitete ich mit meiner Frau, der mexikanischen Künstlerin Jennifer Jennsel, an der Ausstellung “Luna de maíz, sol de trigo” (Maismond, Weizensonne). Hierbei setzten wir uns mit deutscher und mexikanischer Mythologie auseinander. In diesem Zusammenhang entstanden auch zwei Gemeinschaftsarbeiten von mir und meiner Frau: eines bezog sich dabei auf das erste Menschenpaar “Ask und Embla” der nordischen Mythologie, dem wir als zwei Schlangen hinzufügten. Im Gegensatz zur biblischen Mythologie, in der die Schlange als Verführerin und Sinnbild des Bösen in Erscheinung tritt, fungieren unsere Schlangen dagegen als Schutzgeister und Lebensbegleiter des Menschenpaars. Paul Hermann räumt den Schlangen im Seelenglauben einen hervorragenden Platz ein:

“Unter den Tieren, in die sich die Seele verwandelt, nimmt die Schlange einen hervorragenden Platz ein. (…) Der Zisterzienser-Prior CÄSARIUS VON HEISTERBACH (13. Jahrhundert) weiß, dass die Schlange als Schutzgeist mit dem Kinde zur Welt kommt und dass das Leben des Neugeborenen an das ihre geknüpft ist.”[2]

Ein bekennender Archäologe warf mir in diesem Zusammenhang im (un)sozialen Netzwerk “Facebook” vor, Verschwörungstheorien zu verbreiten, da nach (seinem) wissenschaftlichen Forschungsstand in der nordischen Mythologie Schlangen lediglich in negativer Form in Erscheinung getreten seien. Dabei verwies er explizit auf die Midgardschlange, die ich selbst als schöpferische wie zerstörerische Figur ansehe und weder mit Gut noch mit Böse charakterisieren würde. Zwar tritt sie in der nordischen Mythologie als Gegner der Asen in Erscheinung, hält aber zugleich die Welt bis zum “Schicksal der Götter”, zusammen und bewahrt sie somit vor dem Auseinanderbrechen ins Chaos. Die Mitgardschlange gehört zu den Jöten oder auch Jötunn, dem ältesten Göttergeschlecht in der altnordischen Mythologie. Von ihnen stammen die ersten Götter ab. Möglicherweise könnte es sich bei den Jöten (Sturm- und Wetterriesen) um ein historisches Volk der Finnen gehandelt haben: der Urbevölkerung des hohen Nordens, das von Odins Gefolgschaft vertrieben wurde. Kategorien wie Gut und Böse entsprechen dem christlichen Weltbild und erklären die im Zuge der Christianisierung zunehmende Dämonisierung der Jöten. Für eine wissenschaftliche Verortung der Jöten im Allgemeinen und der Midgardschlange im Besonderen halte ich derartige Zuschreibungen für vollkommen ungeeignet. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für die Gegner der Jöten, dem Göttergeschlecht der Asen, die ebenfalls, um beim dualen Weltbild zu bleiben, gute wie böse Eigenschaften aufzuweisen haben.

Das Christentum ersetzte Schutzgeister durch Schutzpatrone und versuchte damit auch den Seelenglauben, der mit der Pflanzen- und Tierwelt verbunden war, in Vergessenheit geraten zu lassen. Im vorherrschenden Synkretismus Mexikos sind die Wurzeln des vorspanischen Glaubens heute noch deutlich sichtbar. So geht beispielsweise die Schutzpatronin Mexikos, die Jungfrau von Guadalupe, auf die aztekische und von der indigenen Bevölkerung Mesoamerikas verehrte Muttergottheit Tonantzin zurück. Es ist daher kein Zufall, dass es einen Bezug auf den Ort der Verehrung für Tonantzin und “Unserer Lieben Frau von Guadalupe” gibt. Auch im mexikanischen Día de los muertos (Tag der Toten) wird der altmexikanische Glaube sichtbar, wonach die Toten einmal im Jahr zum Ende der Erntezeit zu Besuch aus dem Jenseits kommen, um gemeinsam mit den Lebenden ein fröhliches Wiedersehen mit Musik, Tanz, gutem Essen und Trinken zu feiern. Nachdem spanische Missionare vergeblich versuchten, das Totenfest abzuschaffen, wurde es schließlich zeitlich mit den katholischen Feiertagen Allerheiligen und Allerseelen zusammengelegt. Im mexikanischen Unabhängigkeitskampf gegen die spanische Vorherrschaft (1810 bis 1821) bezog sich die Unabhängigkeitsbewegung bewusst auf die vorspanische Kultur und schuf damit ein neues Nationalbewusstsein, das bis heute die mexikanische Alltagskultur prägt.

Inzwischen sind Naguals zum Bestandteil einiger meiner Bilder geworden: als Schreckgestalten wie in “Der Fährmann” oder als Schutzgeister und Lebensbegleiter in “Aussicht”, “Im Garten der Naguals” und “Zeit des Hirschkäfers”.

 Willi Büsing: Zeit des Hirschkäfers, Acryl auf Leinwand, 80 cm x 100 cm, 2020

Den Schrecken der Naguals können wir wir im Grunde bei uns selbst suchen. Das Entsetzen verweist auf unsere eigenen unzulänglichen und negativen Charakterzüge wie bspw. die der Gier. So spiegelt sich der ambivalente Charakter der Schlange in Schatzsagen wie der Nibelungensage wider. “Als die Seele, die ihren Schatz nicht hergeben will, ist die Schlange die Hüterin des Grabschatzes …”[3] Der Drachentod stellt somit die Überwindung der Angst dar, “durch das Eindringen in sein Haus und seinen Frieden, die Seele des mächtigen Toten zu beleidigen”[4]. Die Überwindung von Ängsten und der damit einhergehenden Überlistung oder gar Tötung des Schutzgeistes ist jedoch keine Garantie dafür, seinem Schicksal – der Vergeltung des Schutzgeistes – zu entgehen. Das zeigt das tragische Ende von Siegfried in der Nibelungensage. Wir sollten daher auch den Warnsignalen der Naguals unsere Aufmerksamkeit schenken.

Ein Beitrag von Willi Büsing


Willi Büsing lebt und arbeitet als freier Künstler in Berlin. Angeregt durch die Zeichnungen und der Malerei seines Vaters sowie Buchillustrationen zur griechischen Mythologie wendet sich Willi Büsing bereits in Kindertagen der Malerei und Zeichenkunst zu. Die Bilder aus dieser Zeit spiegeln die Einflüsse  von Elternhaus, Kirche und Fernsehwelt wider: vom Kreuzzug frommer Ritter, über den Konflikt von Cowboys (weiße Siedler und Armee) gegen die Indianer, bis hin zum Vietnamkrieg.

Das Studium und der Universitätsabschluss der Europäischen Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und die Begegnung mit der eigenen und fremden Kultur schärft seine Sicht auf die menschliche Existenz, die den wesentlichen Fokus seiner Arbeit bildet.

Arbeiten von Willi Büsing unter https://www.willi-buesing.de/


Anmerkungen:

[1] (Fokus, 7.6.2016)

[2] Paul Hermann, Deutsche Mythologie, Aufbau Taschenbuch Verlag, 2. Auflage 1992, S. 33.

[3] Ebd., S. 34

[4] Ebd.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Der Schrecken der Naguals“

  1. Danke für diesen Beitrag über hierzulande wenig bekannte Mythen. Die Schlange wird übrigens auch bei den Ophiten positiv gesehen – sie glauben, dass die Schlange den Menschen die Erkenntnis brachte – da gibts auch das Bild von der gekreuzigten Schlange. Wie auch immer – die Voraussetzung für Versöhnung ist immer die Fähigkeit zu differenzieren und von der Schwarz-Weiß-Malerei wegzukommen. In dieser Hinsicht ein nachdenklicher Beitrag.

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