Das Book of Shadows – ein Hexenbuch zwischen mythischer Tradition und magischer Innovation

Das Book of Shadows – eine Wicca-Bibel?

Vor einigen Jahren, es war um die Maienzeit, durfte ich zu einem Universitätsseminar, das sich dem modernen Neuheidentum widmete und von der Wicca-Forscherin Dr. Britta Rensing (Die Wicca-Religion, 2007) geleitet wurde, einen Vortrag über das Book of Shadows beisteuern, das in der neopaganen Religion namens Wicca eine große Bedeutung hat. Als ich zu Beginn in die Runde fragte, worum es sich bei diesem Buch der Schatten handeln könnte, kamen die verschiedensten Ideen zu Tage: die Bibel der schwarzen Magie, eine Dämonologie der Schattenwelt, die heilige Schrift des Neopaganismus, der theologische Kanon des modernen Hexentums und, und, und. Die Ideen trafen zwar nicht recht zu, waren aber vollkommen plausibel, schließlich hatten ja so einige okkultistische Strömungen der Moderne Schriften hervorgebracht, die ihrer Anhängerschaft als spirituelle „Richtschnur“ (altgr. Κανών; kanón) dienten – etwa die Satanic Bibel (1969) von Anton Szandor LaVey, dem Begründer der Church of Satan, oder das Liber AL vel Legis („Buch des Gesetzes“, 1909) von Aleister Crowley, dem „Godfather“ des modernen Okkultismus. Das Book of Shadows sorgte für Irritationen und Diskussionen: War Wicca nun tatsächlich eine „Buchreligion“, die ein Konvolut normativer Texte für eine konzeptuelle Religionspraxis bereitstellt? Nach und nach wurde klarer, dass sich Wicca ebenso wie das Buch der Schatten den klassischen religionswissenschaftlichen Kategorien entzieht und es hier besonders wichtig ist, einzelne Elemente differenziert zu betrachten. Denn bei dem Book of Shadows handelt es sich keineswegs um eine „Wicca-Bibel“, sondern um ein ganz besonderes religiös-magisches Textgenre, in dem kollektive Tradition und individuelle Erkenntnis zusammengeführt werden und sich, wie ich meine zu erkennen, das frühromantische Paradigma der Sympraxis offenbart.

Wicca – Modernes Hexentum

Wicca lässt sich am einfachsten als modernes Hexentum verstehen und wird innerhalb der Religionswissenschaft zu den „neopaganen Religionen“ gezählt, da es auf zahlreichen paganen und traditionellen Religionen aufbaut bzw. Elemente aus diesen adaptiert und in neuer Form reanimiert.  Man könnte Wicca auch als „Mysterienreligion“, „Naturreligion“ und auf viele weitere Arten bestimmen, um andere, ebenso wichtige Aspekte und Facetten zu betonen (vgl. Rensing 2007, 119ff., 135ff.). Zentral, und deshalb wird hier Wicca in erster Linie als modernes Hexentum beschrieben, ist jedoch das Selbstbild der Wiccas als Hexe im Sinne eines Menschen, der sein Leben der Magie widmet. Auf dieser Grundsäule des magischen Denkens fußt Wicca.

Begründet wurde Wicca 1954 von dem englischen Beamten und Okkultisten Gerald B. Gardner. Viel früher wäre dies offiziell auch nicht möglich gewesen, denn bis zum Jahr 1951 galt in Großbritannien das Witchcraft Act, das jede Form der Hexerei verbot. Gardner selbst behauptete, sein magisches Wissen und seine spirituellen Fähigkeiten von Priesterinnen und Priestern eines angeblich seit der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung bestehenden und im Geheimen agierenden Hexenzirkels, dem New Forest Coven, erhalten zu haben, in dem das alte Hexenwissen und die alte Hexenkunst gepflegt, tradiert und vor der Kirche oder weltlichen Antihexereigesetzen geschützt wurde. Für Gardner ebenso wie fürdie Anthropologin und „Godmother“ des modern Hexentums Margaret A. Murray ist Wicca daher keineswegs ein Neopaganismus, sondern nichts weniger als die Bestätigung dafür, dass es bis in die Moderne magisch agierende Geheimzirkel gibt, „die noch die gleichen Riten ausüben wie die sogenannten ‚Hexe‘ des Mittelalters, und dass diese Riten wirklich lebendige Überlieferungen sind und nicht Wiederbelebung nach Büchern“ (Murray 2013, 10) – und genau dies ist die populäre und durchaus umstrittene Hexenkult-Theorie Murrays, die von ihr in The Witch-Cult in Western Europe (1921) dargelegt wurde und auf die Wicca-Religion und zahlreiche andere neupagane Strömungen enormen Einfluss hatte und hat.

Wicca gewann gerade bei Frauen, die offen für alternative Spiritualität und Religion waren und sich durch das Bild der „heimlichen Hexe“ repräsentiert sahen, schnell an Popularität und wuchs zu einer heute internationalen Religion, die sich in zahlreichen Traditionen, Pfaden und Covens zergliedert und insofern dezentral organisiert ist. Die allermeisten Wiccas gehören darüber hinaus gar keinem Kollektiv oder Zirkel an, sondern sind sogenannte „freifliegende Hexen“. Allein in Deutschland wird die Zahl der praktizierenden Wiccas auf 20.000 – 30.000 geschätzt (vgl. REMID).

Der Name „Wicca“ ist von Gardner eine direkte Adaption aus dem Altenglischen. Das altenglische wicca bedeutet nämlich „Hexer, Zauberer“, wicce ist die „Hexe, Zauberin“ (vgl. auch altengl. wiccian, „hexen, zaubern“). „Wicca“ ist jedoch als Religionsbezeichnung und „künstlich geschaffener Name“ ein grammatikalisches Neutrum (vgl. Rensing 2007, 11). Was Wicca zu einer neopaganen Religion macht, ist der Umstand, dass sich diese sich zwischen Altem und Neuem bewegt und somit traditionell verankert, aber zugleich auch dynamisch formbar ist – oder mit dem Worten der Hohepriesterin und Wicca-Mitbegründerin Vivianne Crowley: „Die alte Religion im neuen Zeitalter“ (Crowley 2004).

Je nach Gruppe oder Individuum kann sich die Religiosität der Wiccas anders ausdrücken, sodass man nicht von dem Wicca sprechen kann. Ein paar zentrale Aspekte lassen sich aber doch fassen: Im Zentrum von Wicca steht die Erkenntnis der Göttlichkeit in der Natur, weshalb sich Wicca auch als pantheistisches Hexentum beschreiben ließe. Besonderer Bedeutung kommt die Verehrung von Naturgottheiten, die sich vor allem in der polaren Theologie der „Großen Göttin“ und des „Gehörnten Gottes“ als zwei sich ergänzende Naturprinzipien widerspiegeln. Hexenhaft wird es vor allem in der Praxis: Magisches Denken, das Vollziehen von Ritualen, das Sprechen von Zaubersprüchen, das Wissen um magische Heil- und Kräuterkunde, das Zelebrieren von acht Jahreskreisfesten und vieles, was als „Hexenkunst“ gilt, sind fundamentale Bestandteile innerhalb der Wicca-Religion. – Und natürlich auch das Book of Shadows, in dem all dieses Wissen zusammengetragen wird.

Der Mythos vom Book of Shadows

Den Namen „Book of Shadows“ hat Gardner weder tradiert bekommen noch erfunden, sondern einem Zeitschriftenartikel entlehnt. Dies vermutet zumindest Doreen Valiente, die mit Gardner als Hohepriesterin im New Forest Coven wirkte, später einen eigenen Coven gründete und als „Mutter der Wicca-Religion“ (Rensing 2007) gilt. The Book of Shadows ist der Titel eines zweiteiligen Artikels des indischen Handlesers Mir Bashir, der 1949 und 1950 in der Zeitschrift The Occult Observer erschien, die wiederum von Gardner rezipiert wurde. Bashirs Abhandlung handelt von einem angeblich alten Sanskrit-Manuskript, das sich mit der Divination aus Schatten befasst und auf das er zufällig bei einem Streifzug durch Bombay gestoßen war (vgl. Valiente 2004, 217f.). Vielleicht ist das schon die ganze story. Denn um ein Buch, das sich mit Schatten befasst, handelt es sich bei dem Book of Shadows nämlich auch nicht.

Gardner selbst erzählt eine andere Geschichte und berichtet von einer alten Tradition des Book of Shadows, die er selbst durch den New Forst Coven kennenlernte, als er 1939 in diesen initiiert wurde, und gemäß der er das „Schattenbuch“ in Wicca einführte:

Bei der Initiation in einen Wicca-Coven überlässt der Initiator dem Initianten sein persönliches Buch der Schatten. Aus diesem soll der Initiant sein eigenes „Schattenbuch“ schaffen, indem er alles, was er für bedeutsam hält, handschriftlich überträgt und es mit seinem eigenen Wissen und seinen eigenen Erfahrungen fortführt – bis er womöglich selbst als Initiator wirkt und sein Buch zur Abschrift einem Neuling überreicht. „Daher“, so Vivian Crowley, „wird es zu keiner Zwangsjacke des Glaubens und der rituellen Praxis“ (Crowley 1998, 15).

Ob Gardners Geschichten um den geheimen New Forst Coven (den es tatsächlich gab) und über die Tradition des Book of Shadows immer den historischen Tatsachen entsprechen, ist zweifelhaft. Nichtsdestoweniger haben seine stories für das moderne Wicca ein Gefühl der Tradition evoziert, wodurch sie zugleich einen mythischen Status erlangt haben. Schließlich ist das Buch der Schatten seither im Wicca fest verankert und wird in der klassischen Tradition – genau wie Gardner den Mythos überliefert – in einem Initiationsritus überreicht und ist somit auch Gegenstand eines magisch aufgeladenen Zeremoniells. Dieses Buch kreiert und symbolisiert das spirituelle Band zwischen Initiator und Initiant, zwischen Tradition und Innovation. Jeder Blick ins Buch, jeder Akt des Lesens und Schreibens wird damit zu einer weiteren magisch-okkulten Handlung, weshalb für viele Wiccas das Book of Shadows selbst ein magischer und heiliger Gegenstand ist.

Die geheimen Inhalte des „Schattenbuches“

Eigentlich ist das Book of Shadows ein geheimes Kompendium des Hexenwissens, das letztlich nur dem Initiator und seinem Initianten offenbart wird. Wiccas legen bei ihrer Initiation sogar einen Schwur der Geheimhaltung ab. Aber wie es eben mit den meisten „geheimen“ Büchern ist, ist auch das Book of Shadows niemals ein vollkommenes Mysterium geblieben.

Thematisch kann es allerlei Hexenwissen umfassen: „theology, philosophy, seasonal and other rituals, spells, way or raising power, and numerous other matters“ (Heselton 2003, 274). Gardner selbst, so berichtet es Fred Lamond, der in Gardners Bricket Wood Coven initiiert wurde, beschrieb das Book of Shadows häufig als „a personal ‚cookbook‘ of spells that the individual witch has found to work“ (zit. nach ebd., 275).

Die ältesten bekannten Exemplare eines Book of Shadows stammen aus der Feder Gardners. Eines trägt den Namen Ye Bok of Ye Art Magical. Das Manuskript Ye Bok of Ye Art Magical befindet sich heute im Besitz der Wiccan Church of Canada (vgl. ebd., 279). Weitere Manuskripte sind unter den ganz unprätentiösen Namen Text A, Text B und Text C bekannt. In dem Manuskript Text A zeigt sich in besonderem Maße der Crowleyanismus Gardners, stammen doch zahlreiche übertragene Texte aus dem Œuvre Aleister Crowleys, was seine Kollegin Valiente recht ärgerlich fand, da sie nicht viel von dem selbsternannten „Großen Tier 666“ hielt (vgl. dazu Valiente 1989, 54ff.). Und so befreite Valiente den Text A in ihrer eigenen Kreation vom Crowley-Einfluss, woraus Text C entstanden ist. Text B ist eine Eigenüberarbeitung von Gardner selbst (vgl. Bogdan 2007, 154).

Wirft man einen Blick auf Gardners „Schattenbücher“, kann man sich einer gewissen magisch-okkulten Atmosphäre nicht entziehen: Das in Lederband eingekleidete und handgebundene Ye Bok of Ye Art Magical, das weitaus älter wirkt, als es ist, stellt ebenso wie Text A ein Konvolut okkultistischer Texte, magischer Poesie, ritueller Praktiken, mythischer Theologien und mystischer Symbole dar (vgl. Heselton 2003, 282). Verschiedene Farben und Schreibstile prägen Gardners Niederschriften: Rituale beispielsweise sind häufig außerordentlich kalligraphisch gestaltet und die Schrift erinnert durch die langgezogenen Buchstabenlinien an Tolkins Tengwar. Ebenso findet man auch klassische, unsauber verfasste Notizen (vgl. ebd., 283ff.), sodass man nicht von einem durchkomponierten Werk, sondern tatsächlich eher von einem „cookbook“ der besonderen Art sprechen kann.

Ein Beispiel: Gardners „Schattennotizen“ zum Zeremoniell der Walpurgisnacht

Es wird kaum überraschen, dass in dem Zauber- und Ritualbuch des modernen Hexenmeisters Gardner das Zeremoniell der Walpurgisnacht beschrieben wird, gilt doch die Walpurgisnacht als das höchste und heiligste Fest einer Hexe, das seit dem Mittelalter auch als „Hexensabbat“ bekannt ist. Um einen kleinen Eindruck von Gardners Book of Shadows-Praxis zu erhalten, sollen folgend seine darin enthaltenen Notizen zum Walpurgisnachtsritus, wie er ihn in seinem Coven zelebrierte, vorgestellt werden (zit. nach Kelly). Zum besseren Verständnis sind einige Passagen kommentiert.

If possible ride poles, brooms, etc. High Priestess leading, quick dance step, singing

[Kommentar N.H.: Das Reiten auf Besen, Stöcken, ebenso wie auf Tieren und anderen magischen „Reit- und Flugobjekten“ gehört zum stereotypen Bild der Hexe und der „Hexengöttinnen“ und „Nachtfahrenden“. So heißt es schon bei Regio von Prüm (10. Jh.), dass es „gewisse verbrecherische Frauen gibt, die Satan gefolgt sind und, durch Blendwerk und Vorspiegelungen der Dämonen verführt, glauben und bekennen, des Nachts zusammen mit der heidnischen Göttin Diana und einer unzählbaren Menge von Frauen auf gewissen Tieren zu reiten, in der Stille der Nacht große Entfernungen zurückzulegen, die Weisungen der Göttin zu befolgen, als wäre sie die Herrin, und in bestimmten Nächten zu ihrem Dienst gerufen zu werden“ (zit. nach Ginzburg 2005, 104). Das von Gardner beschriebene Reiten, Tanzen und Singen lässt auf einen Kulttanz schließen, der das Ritual eröffnet. Es darf auch davon ausgegangen werden, dass dieses Ritual – wie die meisten Rituale in Gardners Wicca-Tradition – nackt vollzogen wurde. Die rituelle Nacktheit wird im Wicca Skyclad genannt und ist darüber hinaus jedoch ein Topos, der »in besonderem Maße das frühneuzeitliche Hexenbild [prägt], sodass die ›nackte Hexte‹ ein Stereotyp darstellt« (Höffgen 2019, 159).

„O do not tell the priests of our arts. For they would call it sin, For we will be in the woods all night Aconjuring conjuring summer in. And we bring you good news by word of mouth. For women, cattle, and corn: The sun is coming up from the south,With oak and ash, and thorn.“

[Kommentar, N.H.: Der ekstatische Kulttanz wird von einem Gesang begleitet, der einerseits auf das verbotene und verachtete Hexenwissen und Hexendaseinanspielt und andererseits die Bedeutung und den Zweck des Ritus offenbart: nämlich den Sommer herbeizuführen. Die Walpurgisnacht wird hier als klassisches „Fruchtbarkeitsritual“ inszeniert und zelebriert (vgl. zum Hexensabbat als Fruchtbarkeitsritual Ginzburgs Forschungen zu den Benandanti; ebd.). Der Gesang ist dabei eine leicht abgewandelte Strophe aus A Tree Song des britischen Schriftstellers, Dichters und Freimaurers Rudyard Kipling (Das Dschungelbuch).]

Meeting dance if possible.

Form circle as usual, and purify.

[Kommentar N.H.: Das Bilden und Ziehen magischer Schutzkreise gehört im Wicca zu den wichtigsten „Hexenkompetenzen“. Wie ein magischer Kreis zu ziehen ist, wird in Gardners „Schattenbüchern“ ebenfalls beschrieben (vgl. Casting the Circle). Auch die rituelle Reinigung ist, wie in zahlreichen Religionen, ein zentrales Element und häufiges Eingangsritual, um sich vom „Alltäglichen“ zu befreien und in den magischen, kultischen oder rituellen Kontext eintreten zu können.]

High Priestess assumes Goddess position; officers all give her the fivefold kiss.

[Kommentar N.H.: Im Wicca gibt es Hohepriesterinnen und Hohepriester zweiten und dritten Grades (der erste Grad ist der einfache Priesterstatus), die als Leiter des Covens fungieren. Bei der „Position der Göttin“ handelt es sich in der Regel um eine Stellung mit leicht gespreizten Beinen und zum Himmel erhobenen, geöffneten Armen. Bei dem „fünffachen Kuss“ handelt es sich um Küsse, mit denen die fünf als heilig erachteten menschlichen Körperzentren – Füße, Knie, Schoß, Brust, Lippen – gesegnet werden sollen.]

She purifies all.

High Priestess again assumes Goddess position.

Magus invokes, draws down moon, „I invoke thee and call upon thee, O mighty Mother of us all, bringer of all fruitfulness, By seed and root, by stem and bud, by leaf and flower and fruit, by life and love, do we invoke thee, to descend upon the body of thy servant and Priestess here.“

[Kommentar N.H.: Es folgt eine Anrufung des Monds, ein ebenfalls im Wicca etabliertes Vollmondritual ist („Drawing Down the Moon“, vgl. auch das Pendant „Drawing Down the Sun“) und als Sinnbild der weiblichen Urkraft und der „weiblichen Dreifaltigkeit“ (Maiden, Mother, Crone) gilt.]

Magus gives Fivefold Kiss to High Priestess.

All should be purified in sacrifice before her, and she should purify Magus and some others with her own hands.

Cakes and wine.

[Kommentar N.H.: „Cakes und wine“ ist ein weiteres Ritual, das in die Walpurgisnacht eingebettet ist und von Gardner ebenfalls in seinem Book of Shadows beschrieben wird. Hier geht es um die Segnung des Männlichen und des Weiblichen, des Körpers und des Geistes.]

Games.

[Kommentar N.H.: Auf dem Mai-Hexensabbat, wie er uns aus mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählungen überliefert ist, ist immer allerlei Gaukelei und Jahrmarkstreiben los, was hier im Zeremoniell aufgegriffen wird.]

Great Rite if possible, in token or truly.

[Kommentar N.H.: Der „Große Ritus“ gilt als das bedeutendste Ritual im Wicca und stellt nichts weniger als die Heilige Hochzeit der Großen Göttin und des Gehörnten Gottes dar, die auf dem Höhepunkt der Walpurgisnacht zelebriert wird. Die Kräfte des Männlichen und Weiblichen werden nun zur Alleinheit. Es kommt zu einem sexualmagischen Akt, der den Mythos der Heiligen Hochzeit zur Realität werden lässt.]

Dismiss [the guardians, and close down the magic circle; the people then stay to] feast and dance.

Das Book of Shadows: Ein Grimoire in der Tradition romantischer Sympraxis – oder das magische Gedächtnis der Hexe

Will man das Book of Shadows klassifizieren, so ist die Einordnung als Grimoire wohl am naheliegendsten. Bei einem Grimoire handelt es sich um einen Gattungsbegriff für magische Bücher bzw. Zauberbücher, die „conjunctions and charms, providing instructions on how to make magical objects such as protective amulets and talismans. They are reporsitories of knowledge that arm people against evil spirits and witches, heal their illness, fulfill their sexual desires, divine and alter their destiny, and much else besides“ (Davies 2009, 1) beinhalten. Diese Definition des Historikers Owen Davies klingt wie eine Beschreibung des Book of Shadows.

Das Grimoire, das ein Buch über Magie und ein magisches Buch zugleich ist (vgl. ebd., 2), hat eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht und nahezu weltweit anzutreffend ist. Man denke an das altägyptische Totenbuch prt m hrw („Herausgehen am Tage“) oder die Pyramidentexte, die sogar bis zu 4.000 Jahre alt sind, an das antike Corpus Hermeticum, das Hermes Trismegistos zugeschrieben wird, man denke an die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Höllenzwänge, von denen eines aus den Federn des Dr. Faustus stammen soll, an das isländische Galdrabok (um 1600) oder das altenglische Lacnunga (etwa 11. Jh.), das den berühmten Nine Herbs Charm enthält – und noch Otfried Preußler wusste, dass er dem Müllermeister, der Krabat auf seine verhängnisvolle Mühle im Koselbruch bei Schwarzkoll gerufen hat, einen Koraktor in die Hand legen muss, in dem die Kunst der schwarzen Magie zusammengetragen ist.

Gerade in früheren Zeiten, als die Alphabetisierung keineswegs verbreitet war, galt schon die Fähigkeit des Schreibens und Lesens selbst als eine magische Kunst – heißt auch: Grimoires waren eine Elitenangelegenheit. Gleichwohl lässt sich in der Tradition der Grimoires das Bedürfnis des Menschen nach magischem Wissen und magischen Erfahrungen erkennen, ebenso wie das Bedürfnis, auf eine übersinnliche Art und Weise in die Geschehnisse der Welt – positiv wie negativ – eingreifen zu wollen (weiße vs. schwarze Magie) und mit mythischen Wesen – Gottheiten und Geistern – in Kontakt zu treten. Oder anders formuliert: „Zauberbücher geben Auskunft über das magische Denken“ (Dillinger 2007, 9f.).

Was das Book of Shadows als Grimoire jedoch einzigartig macht, ist seine traditionelle und gleichsam innovative wie individuelle Komponente. Grimoires sind in der Regel feste, abgeschlossene Schriften, so jedoch nicht das Buch der Schatten, dessen Namen Valiente einmal als „romantisch“ bezeichnet hat (Valiente 2004, 217).

In der Tat steckt viel Romantisches in diesem besonderen Zauberbuch – nicht nur im Namen: Im Book of Shadows lässt sich eine poetologische Programmatik erkennen, die besonders für die Frühromantik außerordentlich prägend war: die Sympraxis bzw. Sympoesie oder Symphilosophie. Poesie war für Frühromantiker wie Novalis oder Friedrich Schlegel nicht nur als reine Dichtkunst gedacht, sondern sollte sich auf alle Künste erstrecken – „schließlich soll das Leben selbst poetisch werden“ (Jeßing/Köhnen 2003, 35). Ersetzt man hier den Poesiebegriff durch den Magiebegriff – und das war für Frühromantiker keineswegs ein großer Schritt – so entfaltet sich das Selbstverständnis der Wiccas: Magie sollte nicht nur auf den Bereich der Magie begrenzt sein, sondern das Leben selbst soll magisch werden. Das Book of Shadows als Konvolut magischen Denkens wird dann zu einem Ausdruck und Symbol dieses magischen Lebens.

Die frühromantische Programmatik war durch und durch auf Religion, Magie und Spiritualität ausgelegt (vgl. Goebel 1997, 182). Für Novalis, den Schlegel als Zauberer betrachtete und dessen Weltzugang als „magischer Idealismus“ bezeichnet wird (vgl. Röttgers 1981, 108), war Sympoesie auch zugleich Ausdruck der Neuen Mythologie – Poesie und Mythos waren eins. Auch für die Wicca-Religion hat Poesie als mythisches Element eine große Bedeutung (zur Poesie im Wicca vgl. Rensing 2007, 37-66). Viele Wiccas drücken daher ihre religiösen Gefühle, Erfahrungen und Vorstellungen in magisch-mythischen Dichtungen aus.

Aber mehr noch: Die Literaturwissenschaftler Benedikt Jeßing und Ralph Köhnen beschreiben das frühromantische Konzept der Sympraxis, wie es von Novalis gedacht war, wie folgt: „Jeder sollte prinzipiell zum Teilnehmer eines großen Kunstwerkes werden, zwischen Autor und Leser wird die Trennung dann aufgehoben“. Novalis sah „in jedem Leser einen Ko-Autor […] und in dem Kritiker einen Fortschreiber, der sich seinem Gegenstand annähert und ihn weiterentwickelt“. – „Nicht das abgeschlossene Werk, sondern das ständige Fortschreiben ist entscheidend“ (Jeßing/Köhnen 2003, S. 34f.). In diesen Worten spiegelt sich das grundlegende Konzept des Book of Shadows, das sich zwischen magischer Tradition und magischer Innovation entfaltet. Der Initiant, der das Book of Shadows seines Initiators erhält, ist nicht sein untergebener Transkriptor, sondern sein progressiver Kritiker. Austausch und Individualität nehmen hier die Rolle von Dogma und Dominanz ein. Das Buch der Schatten ist ganz im Sinne der frühromantischen Sympraxis kein abgeschlossenes Werk, sondern ein Fortschreiben der Tradition – kurzum: das magische Gedächtnis einer Hexe. 

Ein Beitrag von Nicole Höffgen


Literaturhinweise:

Bogdan, Henrik: Western Esotericism and Rituals of Initiation. New York 2007.

Crowley, Vivianne: Wicca. Die alte Religion im neuen Zeitalter. 3. Aufl. Bad Ischl 2004.

Davies, Owen: Grimoires. A History of Magic Books. New York 2009.

Dillinger, Johannes: Hexen und Magie. Eine historische Einführung. Frankfurt a. M. 2007.

Gardner, Gerald B.: The Gardnerian Book of Shadows. In: ISTA (https://www.sacred-texts.com/pag/gbos/index.htm, letzter Abruf: April 2023).

Ginzburg, Carlo: Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte. Berlin 2005.

Goebel, Andreas: Sympoesie. Zur Funktion der Kunst im Kontext der Frühromantik. In:  Karl-Siegbaert Rehberg (Hg.): Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden 1996, Bd. 2: Sektionen, Arbeitsgruppen, Foren, Fedor-Stepun-Tagung. Opladen 1997, S. 179-183.

Heselton, Philip: Gerad Gardner and the Cauldron of Inspiration. Sumerset 2003.

Höffgen, Nicole: Zur Nacktheit von Hexen. Eine frühneuzeitliche Symbolik zwischen Prüderie und Pornographie. In: Lars Alliolio-Näcke/Jürgen van Oorschot/Uter Verstegen (Hg.): Nacktheit. Transdisziplinäre anthropologische Perspektiven. Berlin 2019, S. 159-174.

Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph: Einführung in die Neue deutsche Literaturwissenschaft. Stuttgart 2003.

Kelly, Aidan A. (Hg.): The Gardnerian Book of Shadows. In: ISTA (Internet Sacred Text Archive) (https://www.sacred-texts.com/bos/index.htm, letzter Abruf: April 2023).

Murray, Margaret A.: Einführung. In: Gerald B. Gardner: Die Weisheit der Wicca. Hamburg 2013, S. 10-11.

Murray, Margaret A.: The Witch-Cult in Western Europe. Oxford 1921.

REMID (Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst: Religionen & Weltanschauungsgemeinschaften in Deutschland: Mitgliederzahlen (https://www.remid.de/info_zahlen/, letzter Abruf: April 2023).

Rensing, Britta: Die Wicca-Religion. Theologie, Rituale, Ethik. Marburg 2007.

Röttgers, Kurt: Symphilosophieren. In: Philosophisches Jahrbuch 88 (1981), S. 90-119.

Valiente, Doreen: The Rebirth of Witchcraft. London 1989.

Valiente, Doreen: Working with Gerald, and Robert Cochrane, Magister. In: Chas S. Clifton/Graham Harvey (Hg.): The Paganism Reader. London 2004, S. 215-238.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Das Book of Shadows – ein Hexenbuch zwischen mythischer Tradition und magischer Innovation“

  1. Danke für den Artikel, der viele Fehler aufweist, aber auch umgekehrt sehr viel richtiges umschreibt. Angenehm fand ich, dass man Wicca nicht wie so oft geschieht historisch erst bei Gerald Gardner festmacht, sondern Nicole Höffgen sich immerhin auch auf die Forschungen von Margaret Murray auch bezieht. 20 bis 30tausend Anhänger halte ich für eine übertriebene Zahl, aber im Artikel wird ja vermerkt, dass dahinter sich die meisten als covenlose Freifliegende verbergen. Über deren traditionelles Wissen kann man spekulieren, oft bezeichnen sie sich einfach als Hexen und verfügen über nur wenige Kenntnisse, die sie aus obskuren – wie es leider in der Esoterik überhaupt sich manifestiert – Quellen, die man nicht ernstnehmen kann. Eigentliches Wicca ist traditionell und vollzieht sich tatsächlich über initiatorische Einweihungslinien und diese sind unverändert eigentlich viel weniger als die immer wieder genannten viele Tausende Anhänger. Allerdings bezeichnen sich auch nicht traditionell eingeweihte sogenannte Hexen als Wicca und zum Leid der Traditionellen kann man – und will auch nicht – den Wicca-Begriff schützen. Die Traditionellen bemühen sich allerdings immer um Aufklärung was Wicca-Zugehörigkeit eigentlich ausmacht. Vivianne Crowley als Wicca-Mitbegründerin zu bezeichnen ist ebenso ein Flüchtigkeitsfehler, die – nennen wir es mal – Gründung geht ja auf Gardner zurück, was als Vivianne in den traditionellen Strom sich initiieren ließ ja schon jahrzehnte lang her war. Sicherlich ist sie natürlich aber eine prominente zeitgenössische Priesterin dieser Tradition. Dies nur als Feststellung beim ersten flüchtigen Überfliegen des Textes, den ich ansonsten schon besser und fundierter finde als das meiste was man über diese Strömung sonst wo so liest

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