Der MYTHO-Blog erinnert … an Sibylle Lewitscharoff

Am 13. Mai 2023 starb die Schriftstellerin und Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff. Sie debütierte im Jahr 1994 mit dem Prosaband “36 Gerechte”. Es folgten weitere Prosa-Werke wie “Pong” (1998), “Consummatus” (2006), “Blumenberg” (2011) oder “Von oben” (2019), hinzu kamen zahlreiche Essays, Gespräche, Hörspiele und ein Theaterstück (“Vor dem Gericht”, 2012 uraufgeführt im Nationaltheater Mannheim). Dass Lewitscharoff eine große Bewunderung für den spätmittelalterlichen Dichter Dante Alighieri hegte, belegen eindrucksvoll der Roman “Das Pfingstwunder” und der im Dante-Jahr 2021 im Insel Verlag erschienene Essay “Warum Dante?”.

Auch für den MYTHO-Blog des Arbeitskreises für Vergleichende Mythologie schrieb Sibylle Lewitscharoff über Dante und seine fiktive Reise durch die drei Jenseitswelten (Hölle, Fegefeuer, Paradies) ein leidenschaftliches Plädoyer, die alten Texte in ihrer ganz eigenen Zeitlosigkeit nicht zu vergessen und immer wieder neu zu hinterfragen.

Um die Schriftstellerin zu würdigen, haben wir den Essay, der demnächst auch in einer Dante-Anthologie im Isele-Verlag erscheinen wird, noch einmal beigefügt. Veröffentlicht wurde der Text am 14.09.2021. Es war Dantes 700. Todestag.

Das Team vom MYTHO-Blog


Viele Menschen befinden sich immer noch in der außerordentlichen Situation, gerade wesentlich mehr Zeit zur Verfügung zu haben als sonst. Was also tun? Herumsitzen und sich von schlechter Laune regieren lassen? Keine gute Idee. Falls Sie das Werk noch nicht kennen sollten, hätte ich eine Empfehlung – beschaffen Sie sich Dantes Meisterwerk, die Divina Commedia. Vermutlich sind etliche von Ihnen im Italienischen nicht so gut zuhause, dass Sie das Buch im Original lesen könnten. Dann darf ich Ihnen die Übersetzung von „Philaletes“, dem König Johann von Sachsen, empfehlen, der Mitte des 19. Jahrhunderts eine fulminante Übersetzung geliefert hat, die bis heute Gültigkeit besitzt. Johann versuchte, an Schriften aus der Dante-Zeit heranzukommen, um ein kleines Museum aufzubauen, und er lud in seinem Dresdner Schloss die damaligen Kenner des Werkes zu ersten Gesprächen über die Commedia ein.

Bezüglich der Übersetzung des Werks führt die deutsche Sprache die Weltrangliste an. Es gibt sage und schreibe über fünfzig Komplettübersetzungen und siebenundzwanzig Teilübersetzungen, darunter einige herausragende. Das Interesse an dem Werk begann im späten 18. Jahrhundert, im 20. Jahrhundert hagelte es dann die meisten Übersetzungen. Berühmt ist die Teilübersetzung von Stefan George, gehüllt in ein samtenes Dunkeldeutsch – sie klingt hervorragend, wenn man bereit ist, einem Übersetzer von Gedichten größtmögliche Freiheit zuzugestehen, um ein fremdes Werk gekonnt in die eigene Sprache zu schmuggeln. George trug die Verse Dantes wie ein Priester in abgedunkelten Räumen vor, erleuchtet von einer einzigen Kerze, die auf seinem Tisch stand. Bisweilen soll er dabei sogar einen Lorbeerkranz auf dem edlen Haupte getragen haben, aber das kommt mir übertrieben vor, lanciert von seinen Gegnern, denen das inszenatorische Gehabe des seltsamen Hohepriesters auf die Nerven ging.

Ich finde es schade, dass Stefan George nicht das komplette Werk übertragen hat, auch wenn sein Text hochgradig eigenwillig ist, klingt er doch faszinierend. Nicht weniger interessant, aber höchst sonderbar, wenn nicht geradezu irrwitzig, ist die Übersetzung von Rudolf Borchardt. Sie ist in einem erfundenen Deutsch zu Papier gebracht, das sich an provenzalischen Klängen orientiert. Zugleich versuchte der Dichter Borchardt, den Vokalreigen des Italienischen ins Deutsche zu übertragen.

Die Übersetzung klingt wunderbar, bisweilen recht eigenartig, allerdings muss man die Commedia kennen, um die Übersetzung wirklich zu verstehen. Borchardt lebte in den dreißiger Jahren in Oberitalien. Ihm gelang es, eine Audienz bei Mussolini in Rom zu erwirken, um dem Duce seine Übersetzung zu überreichen. Die Szene ist von hoher Komik. Als Mussolini die schwere Diktatorenfaust auf das Buch niedersenkte, war Borchardt davon überzeugt, der Duce habe ad hoc alles, aber auch wirklich alles begriffen, was in dem Buch stand (und das bei einer Übersetzung, bei der selbst gebildete Deutsche sich schwer damit tun, in der Lektüre glücklich bis ans Ende zu gelangen).

Außerordentlich war die Wirkung von Dantes Commedia während der russischen Verfolgung unter Stalin, in den deutschen Konzentrationslagern und in einigen Kriegsgefangenenlagern der deutschen Wehrmacht in Italien. Ossip Mandelstam gilt als ein begnadeter Dante-Kenner, der die Commedia im Original lesen konnte und in hoher Not herzergreifend darüber schrieb. Primo Levis Aufzeichnungen, Dante betreffend, sind in Italien bekannt. Kurios wirken manche Berichte aus den von Deutschen eingerichteten Kriegsgefangenlagern in Italien. So manch gebildeter Professor hielt dort bei gut Wetter nach freier Rezitation von Dante-Versen regelrechte Colloquien für seine Mitgefangenen ab. Natürlich kam dabei hauptsächlich das Inferno zur Sprache. Die schwer leidenden Menschen sahen sich selbst schuldlos in eine Hölle versetzt und widmeten sich einem Text, der von extremen körperlichen Zumutungen handelt – ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte der Literatur.

Lassen Sie sich jedoch von den Greueln der Hölle nicht zu sehr im Voraus schockieren, greifen Sie zu dem Buch, Sie werden einen einzigartigen Gewinn davontragen, denn die Klangreigen dieser absolut erstklassigen Dichtung stehen in eigenartigem Kontrast zum strafenden Sadismus, der im ersten Teil der Commedia vorwaltet. Die Verse klingen wunderbar, ihr Inhalt ist drastisch.

Auch im Purgatorium geht es nicht gerade milde zu. Die Strafen sind zeitweise immer noch heftig, doch in den leidenden, zitternden, zagenden Seelen keimt bereits die Hoffnung auf Erlösung. Alles wird luftiger, leichter; von der Hoffnung angetrieben erklimmen die toten Scheinkörper den Läuterungsberg, wie es auch Dante tut, noch immer in Begleitung seines Jenseitsführers Vergil. Auf dem Gipfel des riesigen Berges, der aus dem Ozean ragt, muss Vergil wieder ins Inferno zurückkehren, allerdings an einen zwar verhangenen, aber körperlich nicht strafenden Ort, eine Art Vorhölle im permanenten Dämmerzustand. Der Abschied ist schmerzhaft, auch für den Leser, der es als ungerecht empfindet, dass der Mann, der Dante so treu und gewissenhaft geleitet hat, nun wieder in eine freudlose Sphäre verbannt ist, und zwar nur, weil er kein Christ war, obwohl er als Heide, der vor der Geburt Jesu lebte, das Christentum noch gar nicht kennen konnte.

Das letzte Abenteuer, das Dante nun bevorsteht, den Flug gen Himmel in Begleitung Beatrices, seiner heiß geliebten und leider früh verstorbenen Jugendliebe, diese elegant vonstatten gehende Reise wird ohne die Zuhilfenahme eines Gerätes inszeniert, als freier, mit Armen und Beinen selbstgesteuerter Leibflug, der in ein Gefild führt, in dem Leichtigkeit, Anmut, Klugheit und jauchzendes Glück vorherrschen.

Es gehört zu den schwierigsten, ja fast unmöglichen Aufgaben der Literatur, nicht nur den brutalen und hässlichen Seiten des Lebens eine Stimme zu verleihen, sondern auch der Schönheit, der Freiheit, gar etwas so Unwahrscheinlichem wie der Erlösung. Und dies gelingt Dante in bezaubernder Form. Dabei ist kein Gewabere im Spiel, kein kitschiges Sprachgewoge, kein Schwebebo-Schwibibi, denn die Vernunft führt auch hier das Wort. Obwohl der dritte und letzte Teil der Commedia eher selten zitiert wird, gehört er zur schönsten Dichtung, die je geschrieben worden ist. Und er wartet mit einer gloriosen Erfindung auf: Gott bleibt verborgen. Er tritt nicht als edler und meist verkitschter Greis in Erscheinung, nicht mit weißgelocktem Haar, das Ihm bis auf die Schultern fällt, den Körper gehüllt in ein bodenlanges, weißes Gewand. Ein schwirrender Kreis von Engeln, der unablässig um Seinen kosmischen Wohnsitz zirkuliert, verbirgt den eigentlich Unnennbaren. Dante hört hier auf die Bibel, die verbietet, dass man sich von Ihm ein Bild macht.

Ein Essay von Sibylle Lewitscharoff


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

2 Antworten auf „Der MYTHO-Blog erinnert … an Sibylle Lewitscharoff“

  1. Borchardt würde es überhaupt verdienen, der Vergessenheit entrissen zu werden. Unglaublicherweise gibt es über ihn eine lieferbare Biographie: Peter Sprengel, R. B. Der Herr der Worte, München (C. H. Beck) 2015

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