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Das gestohlene Kind

„Wer bist du und was haben sie mit Dir gemacht?“

Bestimmt hat jeder von uns diesen Satz schon einmal von Familienmitgliedern, Freunden oder Kollegen vernommen, wenn jene verwundert neue Seiten oder Verhaltensweisen an uns feststellten, die ihnen suspekt erschienen. Mit diesen Fragen wird auch scherzhaft der Vermutung Ausdruck verliehen, dass wir quasi über Nacht gegen ein fremdes Wesen ausgetauscht worden sind, welches nur vorgibt, der oder die Angesprochene zu sein.

Doch was wäre, wenn Menschen tatsächlich ausgewechselt werden könnten, wenn ein Doppelgänger still und heimlich unseren Platz einnähme, während wir uns dagegen verzweifelt in einer anderen, ungewohnten, gar feindlichen Umgebung zurechtfinden müssten? Zumindest die Vorstellung, dass Kinder geraubt und durch ein Wechselbalg ersetzt werden können, hatte jahrhundertelang durchaus einen festen Platz im Volksglauben. (Näheres zu diesem Thema findet sich in unserem Mythisch-Literarischen Bestiarium.)

Der US-amerikanische Autor Keith Donohue verarbeitet diesen mythologischen Stoff in seinem Debütroman auf ganz außergewöhnliche Weise. „Das gestohlene Kind“ (Originaltitel: „The Stolen Child“) ist für mich eines der ungewöhnlichsten Bücher der vergangenen Jahre, denn es verbindet sehr gelungen verschiedene Sujets miteinander.

Der siebenjährige Henry Day läuft nach einem Streit mit seiner Mutter von zu Hause fort, hinein in den nahegelegenen Wald. Nach bangen Stunden und einer großangelegten Suchaktion wird der Junge schließlich gefunden. Doch das Kind, welches man in einem hohlen Baum entdeckt, ist nicht Henry, denn ein Kobold hat sein Aussehen angenommen und unbemerkt seinen Platz mit ihm getauscht. Die überglücklichen Eltern sind erstaunt über das veränderte Wesen ihres Erstgeborenen, denn der vormals eher aufmüpfige Junge ist nun artig, bescheiden und hat quasi aus dem Nichts ein großes musikalisches Talent entwickelt. Was die Menschen jedoch nicht ahnen: Monatelang hat eine Bande von Kobolden den ausgewählten Jungen observiert und alles über ihn in Erfahrung gebracht, um den Austausch problemlos vorzunehmen. Obschon den Vater im Laufe der Zeit der leise Verdacht beschleicht, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugeht.

Der ursprüngliche Henry hingegen, das von Kobolden in Kindergestalt gekidnappte „echte“ Kind, muss sich von nun an mit der rauen Realität eines Lebens in freier Natur sowie mit der Hierarchie in der Gruppe, mit der er ab jetzt zu leben gezwungen ist, arrangieren. In einem brutalen Ritual wird er zum Wechselbalg gemacht und seiner Identität beraubt, denn: „Seinen Namen zu verlieren ist der Beginn des Vergessens.“ (Donohue, S. 28) Doch „Anyday“, wie er von nun an genannt wird, will nicht vergessen. Verzweifelt versucht er die Erinnerung an sein früheres Leben aufrecht zu erhalten, führt Tagebuch, legt einen Kalender an, während er sich mehr schlecht als recht an das Leben im Wald gewöhnt.

Der Wechselbalg, der Henrys Platz einnimmt, wächst in der Menschenwelt heran, besucht Schule und Universität, verliebt sich und gründet eine Familie. Er entwickelt zunehmendes Interesse an seiner Vorvergangenheit, findet heraus, wer er war, bevor er vor etwa hundert Jahren selbst geraubt und zum Kobold gemacht wurde. Das musikalische Wunderkind von einst entfaltet nun vollends seine Begabung und findet dadurch nicht nur zu seiner Berufung, sondern auch seinen Platz im Leben.

Keith Donohue, dessen hier besprochenes Erstlingswerk in zahlreiche Sprachen übertragen wurde, setzte sich erst als Erwachsener mit seinen irischen Wurzeln auseinander. 1960 in Pittsburgh/Pennsylvania geboren, studierte er an der dortigen Universität Anglistik und war zunächst lange Jahre für die internationale Kulturstiftung der Vereinigten Staaten tätig, bevor er sich entschloss, seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller zu bestreiten. Zu „Das gestohlene Kind“ wurde er angeregt durch das gleichnamige Gedicht des irischen Schriftstellers William Butler Yeats, in welchem Feen ein Kind überreden, die Welt der Menschen zu verlassen und mit ihnen zu gehen.

Die Naturgeister hier sind keine putzigen Wesen, wie man sie aus mancherlei Fantasyfilmen oder -romanen kennt. Sie ähneln eher einer Bande von Straßenkids, die einen ständigen Überlebenskampf ausfechten. Sie stehlen, prügeln, essen das, was der Wald hergibt, und schlafen auf mühsam erkämpften Plätzen. Sie bleiben in ihren kindlichen Körpern, bis sie an der Reihe sind, sich in die Welt der Menschen zurückzutauschen. „Sie waren Elben, wenn auch nicht von der Art, wie man sie aus Büchern, von Gemälden und aus Filmen kennt. Nicht wie die sieben Zwerge, die Wichtelmänner, die Dreikäsehochs, der Däumling, die Heinzelmännchen, Elfen oder diese nahezu nackten, fliegenden Geister am Anfang von Fantasia. Nicht wie die rothaarigen Männchen in grünen Kleidern, die einen an das Ende des Regenbogens führen. Weder wie die Helfer des Weihnachtsmanns noch wie die Ungeheuer, Trolle oder andere Scheusale der Brüder Grimm oder aus Mother Goose. Die Jungen und Mädchen waren in der Zeit stecken geblieben, ohne erkennbares Alter, unbändig wie eine Meute wilder Hunde.“ (Donohue, S. 27)

„Das gestohlene Kind“ ist nicht nur gute Unterhaltung, sondern ein fesselnder Coming-of-Age-Roman, in dem mit Mitteln der Phantastik Themen wie Erwachsenwerden und der Verlust der Kindheit behandelt sowie Märchenmotive und psychologische Themen kunstvoll miteinander verknüpft werden. Des Weiteren wird hier der Zerfall einer Kultur beschrieben – das Vordringen der Zivilisation raubt den Kobolden, die einst mit Pelztierjägern nach Amerika „eingewandert“ waren (so wird es im Buch angedeutet) ihren Lebensraum; sie werden aus ihren seit Jahrhunderten bestehenden Milieu verdrängt. Die Modernisierung der Welt und die damit einhergehende Zerstörung der Natur werden anhand dramatischer Ereignisse geschildert. Nicht zuletzt spannt der Autor somit einen zeitlichen Bogen aus einer mythischen Vergangenheit ins Hier und Heute. Der Roman sei allen empfohlen, die sich für Fantasy-Literatur begeistern, welche über übliche Erzähltraditionen hinausgeht.

Ein Beitrag von Isabel Bendt


Buchtipp:

Keith Donohue: Das Gestohlene Kind. Dt. von Sabine Herting, Goldmann, 2009 (derzeit nur antiquarisch erhältlich).


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Titelbild von Amy auf Pixabay

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