Der Wandelbare. Rezension zu einer neuen Biographie von Rudolf Steiner

Er mag heute umstritten sein aus vielerlei Gründen – aber sein Werk und seine Person faszinieren weiterhin. Rudolf Steiner war einer der reichhaltigsten Geister des Jahrhunderts – Visionär, Wissenschaftler, Pseudo-Wissenschaftler, Philosoph, Philologe und Guru, gewollt wie ungewollt. Ratgeber in Lebensfragen wie in Landwirtschaft oder Medizin, teils mit zweifelhaften, teils mit beachtlichen Erfolgen.

Biographien gibt es zur Genüge, oft auch sehr umfassende wie die von Christoph Lindenberg oder Helmut Zander, die vor einigen Jahren erschienen. Und natürlich Steiners eigene Autobiographie. Aber wer will heutzutage solche dicken Werke lesen? Alternativ wäre die Rowohlt Monographie zu nennen, auch von Christoph Lindenberg. Doch die deckt eben nur das Wichtigste ab im Leben Steiners. Aber was ist das Wichtigste denn? Die Chronologie? Das Subjekt in der Mitte, der Kontext rundherum? Oder zuerst der Kontext, dann das Individuum? Bei jeder Biographie bleiben diese Fragen virulent.

Vor uns liegt wieder ein dickes Buch:  1861-1925 Rudolf Steiner – eine Bildbiografie, geschrieben von gleich vier Autoren. Der Unterschied zu den genannten Biographien liegt in der Präsentation. Im Sinne eines New Historicism werden alle möglichen Dokumente einbezogen: Postkarten, Urkunden, Fotos, Briefe usw., um ein Leben in all seinen Dimensionen abzubilden. Dabei wird deutlich, warum auf Dauer die konventionellen Biographien so ermüden: sie gehen meist linear vor. Zu viel Linie macht müde. Hier aber wird ein Netzwerk ausgebreitet, in dem man sich irgendwo einen Anfang suchen kann, um auf erstaunliche Zusammenhänge und Rückblicke zu stoßen.

Überhaupt wird deutlich, wie viele von Steiners späteren Leistungen und Interessen auf die Kindheit zurückgehen. Mit 16 entdeckt Steiner etwa in einem Schaufenster die Kritik der reinen Vernunft von Kant. Er kauft sich das Buch und trennt Seiten heraus, die er in sein Geschichtsbuch legt, um darin während der langweiligen Unterrichtsstunden zu lesen. An der Geometrie lernt er erstmals etwas vom Glück und sieht sie als „Rechtfertigung der geistigen Welt“. Schon als Kind beherrscht er das Telegrafieren, und wenn er an einer Spinnereifabrik vorbeikommt, möchte er am liebsten hineinschauen. Doch das ist verboten. „Da waren die Grenzen der Erkenntnis.“ Und die sollte er später immer wieder überschreiten. Sein umfassendes Wissen ist vornehmlich autodidaktisch, im Selbststudium angeeignet: Als Schüler liest er über Religion, Mythologie, Psychologie, Versicherungswesen, Wirtschaft, Mathematik oder Chemie, auch streng fachwissenschaftliche Literatur. Durch seinen Vater, der als Bahnangestellter im damaligen Ungarn und Österreich arbeitet, bekommt er Zugang zu den Welten des k. u. k.-Reiches, zur technischen Modernisierung und nach Wien hin, also zu einem kulturellen Zentrum Europas. Diese Welt wird im Buch reichhaltig dokumentiert. Etwa in Bildern vom Wiener Volkstheater, von den Fabriken und Dorfstraßen des Reiches. Wiens Kultur und Politik, die Freunde und Helfer: der Siebenbürger Jude Moritz Zitter, der ihn zeitlebens finanziell unterstützen wird, der Förderer Karl Julius Schröer, der ihn, den Studenten ohne Abschluss und Publikationen, nach Weimar vermittelt, wo Steiner nun Goethes naturwissenschaftliche Schriften herausgeben soll. Hier lernt er die Schwester des geistig kranken Nietzsche kennen, Elisabeth Förster-Nietzsche, die sich von ihm in der Philosophie unterrichten lassen will. Frustriert gibt er bald auf, schreibt aber ein frühes und substanzielles Buch über Nietzsche, den er selbst noch besuchen kann.

Der immense Arbeitsaufwand wird sein nicht allzu langes Leben charakterisieren: als Lehrer und Pädagoge, als Vorsitzender der Theosophen und später der Anthroposophen, unermüdlich unterwegs und vortragend wie schreibend. Manchmal ist man an Karl Mays Genie erinnert wie auch an dessen Produktivität und an dessen Berichte aus Ländern, in denen er nie gewesen. Rätselhaft, woher solche Energien und imaginativen Kräfte stammen … Und so eignet sich dieses Buch auch als Blick auf ein genialisches Leben wie auf eine Epoche, die solche Figuren hervorbrachte, zu ihrem Nutzen wie zu ihrem Nachteil.

Künstler und Autoren, die sich dem Genie näherten und zumindest zeitweise an dessen Hellsichtigkeit und okkulte Fähigkeiten glaubten, gibt es manche: Franz Kafka, Max Brod, André Belyj. Marina Zwetajewa, die russische Lyrikerin, besuchte 1923 einen Vortrag von Steiner in Prag und er will ihr erscheinen wie der junge Baudelaire. Viele kommen danach zu ihm und wollen ein großes, auf sie zugeschnittenes Wort hören: „Die Angestelltenschlange nach dem Hellseher: ich bin am Schluss. Die Letzte […] Ich nehme mir ein Herz und hole tief Luft: Herr Doktor, sagen Sie mir ein einziges Wort – fürs ganze Leben! Lange Pause, und mit himmlischem Lächeln, mit Nachdruck: Auf Wiedersehn!“

Was auffällt, ist ein wahnsinniger Aktionismus – ein Mann, der sich von seinen Verpflichtungen und Vorträgen geradezu zerreißen lässt. Wenige Monate vor seinem Tod am 30. März 1925 hält er noch im Schnitt fünf Vorträge pro Tag. 1919 gründet er die Waldorfschulen, was neue Arbeit einbringt. Ebenso der Bau des Goetheanum in Dornach bei Basel, das zudem noch abbrennt und ersetzt werden muss. (Am 4.11. 1913 berichtet die Straßburger Post, in Dornach habe sich eine vegetarische Sekte, die von Buddha beherrscht werde, hinter einer klösterlichen Mauer niedergelassen.)

Dazu kommen zahllose Vorträge über biodynamische Landwirtschaft, Mystik, Astrologie, Reinkarnation, Karma, Pädagogik oder anthroposophische Medizin. Er wird angefeindet von Katholiken, die in seiner Glaubenslehre ketzerische Konkurrenz sehen, sowie von Rechtsnationalen, obwohl er selbst Deutschlands Rolle im Ersten Weltkrieg merkwürdig gutheißt. Auch rassische bis rassistische Vorstellungen, die er mit der Theosophie teilt, finden sich bei ihm und werden gerade heute debattiert.

Auf S. 93 findet sich ein damals beliebter Fragebogen – auch Proust hat dergleichen gerne verschickt –, der einen Einblick in das Innenleben dieses Geistes, zumindest in den 1890er Jahren, verschafft.

  • Wer möchtest du sein? Friedrich Nietzsche vor dem Wahnsinn
  • Wann möchtest du gelebt haben? In Zeiten, wo was zu thun ist
  • Dein Hauptcharakterzug? Den weiß ich nicht
  • Lieblingshelden in der Geschichte? Attila – Napoleon I. – Cäsar
  • Lieblingscharakter in der Poesie? Prometheus
  • Welche Fehler würdest Du am ersten entschuldigen? Alle, wenn ich sie begriffen habe
  • Deine unüberwindliche Abneigung? Pedanterie und Ordnungssinn
  • Wovor fürchtest du dich? Vor Pünktlichkeit
  • Lieblingsspeise und Trank? Frankfurter Würste und Cognac. Schwarzen Caffee

Zum Schluss antwortet er auf die Frage nach seinem Temperament: „Wandelbarkeit“.

Die Stärke dieser Biographie liegt neben ihrem Bilderreichtum und den mitgelieferten politischen, sozialen und kulturellen Dokumenten in der Darstellung eines widersprüchlichen Temperaments. Steiners Ausfälle politischer Art werden nicht eingeebnet und zeigen ihn als einen von der eigenen Zeit und den eigenen Visionen Getriebenen – ähnlich wie Nietzsche: 20 Prozent Genie, 80 Prozent Zeitgeist.

Es ist also auch ein Buch über Gläubige, über den Guru und die von ihm Hypnotisierten wie Erleuchteten, Abhängige wie Inspirierte. Zugleich über die wahnsinnige Zeit von Krieg und Nachkriegszeit, in der die sogenannten Inflationsheiligen auftreten, ein Messias nach dem anderen herbeischillert, Links und Rechts sich aufs Messer bekämpfen, während der Nationalsozialismus sich breitmacht. In jedem Fall erhalten wir ein differenziertes Bild, das zeigt, wie man mit einem Menschen umgehen kann, dem so viel Gutes (Heiler und Helfer, Inspirator, Menschenfreund ) wie Schlechtes nachgesagt wird (Rassismus, Antisemitismus, verschwurbelte Sprache). Man schaue sich dieses Bild sehr genau an, finde sich selbst wieder und urteile erst danach. Diese Biografie ist dafür ein ausgezeichneter Spiegel.

Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel


Literaturhinweis:

David Marc Hoffmann, Albert Vinzens, Nana Badenberg, Stephan Widmer: Rudolf Steiner 1861-1925. Eine Bildbiographie. Basel: Rudolf Steiner Verlag 2021, gebunden, Großformat mit zahlreichen Abbildungen, 496 Seiten.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

2 Antworten auf „Der Wandelbare. Rezension zu einer neuen Biographie von Rudolf Steiner“

  1. Meine jahrzehnte lange Erfahrung mit der Anthrophospie begründete sich sehr einfach …. durch Gartenerfahrung.
    Durch Zufall stießen wir bei einer Radtour auf einen Demeter Hof ,
    Es war Tag der offenen Tür …Alles erschien mir mystisch was ich hörte…ein vergrabenes Kuhhorn mit …ich weiß nicht mit welchen Kräutern oder Kuhmist,was nach dem Winter wieder ausgegraben wird und eine winzige Menge aus dem Kuhhorn mit einem Eimer Wasser stundenlang gerührt von Menschenhand sollte Dünger sein.
    Das konnte ich nicht glauben .Kaufte dennoch eine kleine Menge um es selbst zu testen.Unser Rasen war in einem schlechten Zustand …dieser Rasen wurde mein Versuchsobjekt. Das heißt
    eine Hälfte wurde mit dem Präperat ca1/2 Kaffeelöffel auf ca 7-8 Gießkannen Wasser gewässert ,die andere Hälfte bekam die gleiche Menge mit normalem Wasser. Nach etwa 4-5 Wochen
    war die Präperateseite grüner und merklich kräftiger .Das hat mein Interesse an Steiner geweckt , so gibt es noch einge Beispiele,die ich erzählen könnte….Ja und diese ewigen Bandwurmsätze sind gewühnungsbedürftig .Man hat mir erklärt das bei seinen Vorträgen immer mitgeschrieben wurde und sie deshalb wohl so merkwürdig klingen.
    die andere wurde normal gegossen

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