Ein postkolonialer Museumsbesuch

Am Freitag dem 17. März 2023 begab sich der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie auf Exkursion ins ferne Berlin, um durch die ethnologische Sammlung des Humboldt Forums Einblicke in noch ferner liegende Kulturregionen zu bekommen. Wie sich jedoch herausstellen sollte, war dabei das eigentlich Hauptausstellungsstück der Besucher selbst.

Die Ausstellungsführung beginnt mit einem Rätsel. Die Gruppe, welche der Ausstellungsführerin folgt, steht ratlos vor schweren, dunklen Glaskästen in welchen jeder freie Zentimeter mit diversen Kleinteilen bedeckt ist. Man sieht Tabakpfeifen, Holzfiguren, Schmuck und Waffen. Dazu keine Texte, keine Sprache, nur ein Ozean von Gegenständen, die in keinem sichtbaren Bezug zueinander stehen. Eine Wand visueller Eindrücke, ein expressionistisches Ganzes. Der Verlust von Information hat dabei etwas Erschreckendes. Ist es der Einbruch von Chaos und Unordnung in den Ort, an welchem man es am wenigsten vermuten würde, dem Museum als Hochburg des zur Schau gestellten Wissens?  Der Wunsch die Welt zu verstehen, Erwartungen erfüllt zu bekommen und damit auch ein Maß an Kontrolle über diese Welt zu erlangen, fühlt sich irritiert. Tief unten nagt etwas an den Wurzeln des Weltenbaumes und verunsichert den Primaten, der in dessen Ästen schwingt.

 Eine junge Frau schließt sich der Gruppe an und richtet ihre Empörung an die Museumsführerin. „Ein Armutszeugnis ist das, ein Armutszeugnis, für so etwas geht man doch nicht ins Museum.“ Die Führerin reagiert bemüht und gefasst, es ist unwahrscheinlich, dass sie diese Klage zum ersten Mal vernimmt. Im Gegensatz zur desorientierten Besucherin fühlt sich ihre Erwartungshaltung erfüllt, sie hat gelernt mit solchen Worten umzugehen. Sie bestätigt das Gefühl der jungen Frau, erzählt, dass es über 4000 Jahre Arbeit benötigt, um diese Objekte neu zu sortieren. Ja, was hier passiert, hat etwas Traumatisches, und jeder und jede geht damit auf seine Weise um.

Kernpunkt der Neurepräsentation der ethnologischen Sammlung ist nämlich die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Europas. Wie viel von unserem Textbuchwissen ist falsch? Wie viel der Forschungslage basiert auf Projektion, also auf der Verzerrung der Wirklichkeit, durch das Anwenden von Deutungsmustern über deren Grenzen hinaus? Die frühere ethnologische Forschung wird als Monolog dargestellt, und als ein entwürdigender, arroganter dazu. Heute bemüht man sich um den Dialog. Das heißt, dass die Neuklassifizierung der Objekte in enger Zusammenarbeit mit lokalen Experten und Expertinnen geschehen soll. Ebenso muss über Restitution nachgedacht werden. Hinter dem Fachwort, welches das Wort „Reparation“ mit anklingen lässt, verbirgt sich die Rückerstattung von jenen Kulturgütern unserer Museen, welche nicht freiwillig ihren Besitzer gewechselt haben. Dem Konsens nach handelt sich bei vielen von unseren Museumsexponaten um kulturelles Eigentum, welches ihren ursprünglichen Besitzern geraubt wurde, um eine falsche Geschichte aus der Perspektive der „Diebe“ zu erzählen.

Das Thema Kolonialismus begleitet die gesamte einstündige Führung. Vermutungen darüber, welchen Kulturstand und welche Technologien die aus kolonialer Perspektive „Rückständigen“ heute hätten entwickelt haben können, hätte sich der weiße Mann nicht eingemischt, werden geäußert. Ganz offensichtlich scheint das Projekt des industriellen Kapitalismus gescheitert. Mit der globalen ökologischen Katastrophe direkt vor unserer Nase haben wir uns das eigene Boot in Brand gesetzt, die Rettungsboote versenkt, und die Hälfte der Mannschaft argumentiert mit der anderen Hälfte, ob der Sternenhimmel, nach dem man sonst navigierte, überhaupt real ist. In der „unberührten“ Vergangenheit Afrikas hingegen bahnt sich die Fantasie einer besseren Welt an. Mehr in Einklang mit der Natur, nachhaltig, respektvoll. Doch dann der Sündenfall, die Einmischung Europas, das Paradies verloren. Moment, mehr im Einklang mit der Natur? Werden hier nicht schon wieder rassistische Stereotype geäußert, diesmal mit umgekehrten Vorzeichen? Der edle Wilde, der noch nicht von der Rousseauschen Zivilisationskrankheit befallen wurde, birgt das Wissen für unsere Rettung vor dem selbstgemachten Untergang? Es scheint fast so, dass die Projektion von Idealen, Engeln und Teufeln kein Ende nimmt, wie sehr man sich auch bemüht, das Richtige zu tun. Im nächsten Raum lichtet sich die Atmosphäre, die Exponate (darunter ein meterlanges Fischerboot) sind nun beschriftet, klassifiziert, der innere Primat atmet auf. Wir lernen auch die Geschichte eines kostbaren, muschelbesetzten Throns kennen, der dem Museum von einem damaligen Stammesoberhaupt geschenkt wurde. Heute wird diese Geste bereut, der Nachfolger verlangt den Thron zurück. Es ist schwierig.

Die Ausstellung hat noch viel mehr zu bieten, eine Stunde reicht kaum aus, um über die ersten zwei Räume hinauszugehen. Doch die Stunde vergeht, und der Rest der Ausstellung entzieht sich meinem Blick.  Sicherlich ist es kein klassischer Museumsbesuch gewesen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist eine aktuelle Aufgabe, der sich zahlreiche ethnologische Museen gegenübersehen. Es ist keine leichte Aufgabe. Sich mit den Leichen der Vergangenheit zu beschäftigen, erfordert Mut, und der schwierige Spagat des Museums, zwischen Kunst und Wissenschaft einen Paradigmenwechsel massentauglich zu kommunizieren, muss anerkannt werden. Jedoch fehlt mir in all dem etwas. Oder etwas ist zu viel. Der Besuch hinterlässt viele bildliche Eindrücke, und Emotionen­ – so gut wie kein Faktenwissen. Die Macht der Bilder spricht immer deutlicher zu den Affekten, beschwört sie. Auch die Sprache schafft dies, doch hat diese auch noch eine andere Heimat – die des Denkens. Ich sehne mich nach einem Austausch von beidem.

Ein Beitrag von Sebastian Helm



© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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