Der MYTHO-Blog liest wieder 3.0

„Natürlich waren die anderen, nun ja … teils viel sympathischere Menschen.“

Menschen!“ Garin zückte vielsagend den blackjack.

„Eben“, sagte sie. „Menschen. Aber es ist unsere Pflicht.“


Es war einmal … in einer weit, aber nicht allzu weit entfernten Zukunft, irgendwo in Mittelasien, zwischen den (Un-)Tiefen des Altai-Gebirges. Krieg der … Hmm, ja, es gibt durchaus so einiges an kämpferischen Auseinandersetzungen und Konfliktparteien im 2023 erschienen Roman „Doktor Garin“ des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin. Diverse Parallelen zur Gegenwart inbegriffen. Nur anders. In diesem Buch fallen Atom- und andere Bomben, es stürzen Flugzeuge von Präsidenten ab, und dann gibt es ja schließlich auch noch die Menschen verschleppenden Zottelorks, eine neue Spezies dank missglückter Genexperimente, welche ihre Opfer für eine skurril anmutende Zwangsarbeit einfangen: der Herstellung (oder besser dem Schnitzen) von hölzernen Smartphones. Werden die unfreiwilligen Helfer am Ende überleben, und wenn ja, wer? Und wozu all die funktionslosen Kopien von mobilen Endgeräten?

Diese und weitere Fragen beantwortet (oder beantwortet nicht) die Fortsetzung von Sorokins „Der Schneesturm“ (erschienen 2014). „Doktor Garin“ spielt zehn Jahre später und der Held aus Teil 1 ist zurück, diesmal allerdings in einer Welt, in welcher kein (oder nur selten) Schnee fällt und der weder die Poesie aus Weiß und Kälte anhaften noch die philosophierende Melancholie zwischen den Zeilen. Dieses Buch ist paranoid überdreht bis ins Mark. Voll verrückter Begegnungen. Wie die Welt eben ist. Schrill. Atemlos. Grotesk. Menschenverachtend. Süchtig nach so ziemlich allem (sei es Sex, digitale Medien, Freiheit etc.). Das mag beim Lesen häufig für Erheiterung sorgen oder stellenweise unerträglich wirken, es lohnt trotzdem, die Lektüre durchzuhalten, auch wenn 589 Seiten kein locker weggeschmökerter Pappenstiel sind.

Im Gegensatz zum Vorgängerroman, der sich im Wesentlichen auf zwei Protagonisten konzentrierte und dabei recht flüssig ihre oft nur scheinbaren Gegensätze ausgelotete, hangelt man sich in „Doktor Garin“ eher im gemächlichen Schritttempo durch die sieben Kapitel mit ihren wechselnden Orten und meist auch wechselnden Figuren. Einzig zusammengehalten durch den Protagonisten Platon Iljitsch Garin – nicht mehr als Landarzt tätig, sondern zum Chefarzt einer Spezialklinik avanciert; mal im weißen Ärztekittel, mal im Anzug, mal durch die Welten wandernd in einem grünen (und heiß geliebten) Frotteebademantel, mal in Einheitsarbeiterkleidung. Doch Garin wäre nicht Garin, wenn er die an ihn gestellten Herausforderungen nicht auf eigene spezielle Weise lösen könnte bzw. ihm Freund Zufall nicht zur Hilfe käme. Schräg. Schräger. Doktor Garin. Kleine Kostprobe gefällig? Diese eröffnet sich bereits im ersten Teil und beginnt eher behäbig. Garin im Verbund mit einigen Ärztekollegen und speziell ausgebildetem Fachpersonal betreut in einer abgelegenen Spezialklinik eine Ansammlung von Spezialpatienten. Diese hören u.a. auf Namen wie Donald, Angela, Wladimir oder Boris. Wer bei den Namen Parallelen zu real existierenden Personen vermutet, vermutet dies zu Recht. Allesamt haben diese Namen die Welt geprägt, und nun sind sie ausgelaugt, depressiv, verstimmt, neurotisch, suhlen sich in dem Gedanken (oder in Einzeltherapiegesprächen), dass die Welt sie nicht mehr braucht, oder haben Angst vor bellenden Menschen. Vom Aussehen hier ähneln die Namen einander – mit kleineren Abweichungen natürlich.

„Der Patient namens Donald war ein großer weißer, stellenweise mit winzigen rötlichen Sommersprossen gesprenkelter Hintern. Am oberen Teil dieses Hinters saßen ein riesiger Mund mit wulstigen Lippen, eine Art flache Nase mit Nasenlöchern und weit auseinanderstehende, durchaus schöne Augen, etwa fünfmal so groß wie normale menschliche Augen. Aus den runden Seiten des Hinterns reckten sich zwei dünne, biegsame Arme mit vierfingrigen Händen. Die Vorderseite des Patienten war unten an der Stelle des Geschlechtsorgans glatt und leer.“

Noch Fragen?

Zartbesaitete Leserinnen und Leser seien gewarnt. In diesem Buch spielt der Sex eine recht prominente Rolle, so prominent, dass Doktor Garin zu seiner Geliebten Mascha angesichts einer recht körperbetonten Zirkusveranstaltung kommentiert: „Schon wieder Sex! … Das ist ja langweilig!“ Wobei eben jener Zirkus der Nacktbarkeiten mit noch etwas anderem aufwartet, wie eine Stimme unter der Zirkuskuppel vollmundig ankündigt:

„‘Meine Damen und Herren! Zum ersten Mal! Nur in unserem Zirkus! Die ehemals mächtigen Herrscher dreier großer Staaten! Schicksalslenker der Menschheit! Staatsmänner! Hartnäckig und eigensinnig! Unberechenbar und gefährlich! Schlaue und gerissene Geopolitiker! In ihrer letzten entscheidenden Schlacht! Donald! Wladimir! Silvio!‘ […] In die Arena traten: Donald mit einem Adlergefieder, Silvio mit einem Löwenfell und Wladimir in einem Bärenfell, alle mit einem großen Knüppel in Form einer ballistischen Rakete in der Hand. […] Das Licht erlosch, und rotgelbe Flashlights schossen über die Bühne, untermalt von der ernsten Musik Prokofjews. Die Schlacht der drei begann. Sie prügelten eifrig mit den Knüppeln aufeinander ein, wichen aus, sprangen hoch, zogen sich zurück, griffen wieder an und murmelten dazu Flüche und Drohungen. Wladimir brüllte nach jedem Schlag sein: ‚Ich war’s nicht!‘ und erzielte damit Lacher beim Publikum. Insgesamt aber reagierte das Publikum, vermutlich infolge des reichhaltigen Essens, eher lustlos auf den Kampf der drei Ex-Geopolitiker.“

Wer etwas grob gewürzten Parodien (und viel schwarzem Humor und der Ernsthaftigkeit seelischer Abgründe) nicht abgeneigt ist und wissen möchte, wie die drei Kampfhintern im Zirkus gelandet sind – und natürlich, wie der Protagonist (nach einem Abstecher bei einer liebestollen Matrjoschka) ins Reich der Zottelorks gelangt, aus dem ihn (vielleicht) nur die Liebe retten kann –, dem sei die Lektüre der Heldenreise von „Doktor Garin“ anempfohlen. Lacher, Kopfschüttler und das ein oder andere Staunen garantiert.

Ein Beitrag von Constance Timm


Literaturhinweis:Vladimir Sorokin. Doktor Garin. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Kiepenheuer & Witsch 2023. 26 EUR.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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