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Der Meister und Margarita – Kultklassiker mit Wendungen

Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow ist, wie schon vor zwei Generationen, ein hochaktuelles Meister(und Margarita)-werk. Das bestätigt das starke Andrängen russischer Kinobesucher in russische Kinosäle, um die seit Anfang des Jahres laufende Verfilmung des Buches zu sehen. Die Gesellschaft nimmt die vertraute Linderungen für alte Krankheiten dankbar auf. Denn in großen Teilen, und das muss zuallererst gesagt werden, ist Der Meister und Margarita ein Aufruf gegen den Totalitarismus. Handlungszentrum ist Moskau der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, also mitten in den Beklemmungen des stalinistischen Terrors – Ausflüge in andere Dimensionen und in das antike Yershalaim kommen dazu. 

Mit einem fantastischen Blick auf die kleinen Dinge des Lebens, humorvoll und für Zeitzeugen (und Informierte) nur kaum verschleiert, setzt sich Bulgakow mit dem Leben der Menschen des Kunstbetriebes unter der Kontrolle der repressiven Staatsmacht auseinander. Vor allem zieht er dabei das Individuum in Rechenschaft. Leichtfüßig und unbestechlich witzig legt er den Finger auf die Charakterwunden seiner Zeitgenossen: Feigheit, Gier, Opportunismus und Selbstbezogenheit des Einzelnen, der so in die Masse eingearbeitet, erst die eigentliche Basis für das Walten kruder Ideologien bildet, sind zentrales Thema. Eine Botschaft, die uns auch im fernen Deutschland nahe gehen kann. 

Für mich hielt das Buch jedoch zunächst mehrere Überraschungen bereit. Als ich die englische Paperback-Ausgabe im Buchladen in den Händen hielt- auf der Suche nach „irgendwas Gutem“ – wusste ich darüber nur, dass es sich um einen Kultklassiker handelt. Mir gefiel der Klappentext, der nach Urban-Mystery klang und mich mit Versprechungen von Magie, einer schwarzen Katze und einer Hexe, die nach ihrem Meister sucht, lockte. Beim Lesen stellte sich heraus: magisch war es, aber nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Gleich zu Beginn trifft ein junger Dichter, gennant Homeless, auf einen Mann, der einst mit Kant gefrühstückt hat und bei Pontius Pilatus auf dem Balkon saß und der unmissverständlich der Teufel höchstpersönlich ist. Kurz nach einer philosophisch interessanten Schilderung des ersten Zusammentreffens von Pilatus mit Yeshua Ha-Nozri (Jesus) nimmt das Sterben und Verschwinden der Moskowiter seinen Anfang. 

So äußert sich die Magie zunächst: als dunkle Macht, welche Existenzen aus den Aktenbüchern des Lebens streicht und in die Seelen der Menschen eindringt „wie die Tentakel eines Oktopusses“. Die ominöse Präsenz dieser Macht hält sich nicht an die eigenen Spielregeln, straft bei deren Übertreten jedoch drakonisch und perfide. Sie agiert jenseits von Gut und Böse “aus der 5. Dimension” heraus, weil sie von Moment zu Moment die Definitionspfähle ausgräbt und neu versetzt- was heute gilt, gilt morgen nicht mehr. Oder doch nicht? Wie gesagt, die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus liegt nicht hinter großem Interpretationsaufwand verborgen. 

Dabei trifft es vor allem die Mitglieder des Kunstbetriebes, Künstler und Administrative. Also Bürger jener Klasse, die im propagandageplagten Russland an den Stellschrauben der Konstruktion der Wirklichkeit sitzen. Die Wirkung dieser Eingriffe ist beeindruckend, man fühlt, wie den Betroffenen der Boden unter den Füßen wegbricht, wie das Schlechteste in ihren Herzen Nahrung findet, um dadurch zum Ausbruch zu kommen. Wie sie versuchen mit normalen Mitteln eine unnormale Situation zu bewältigen. Wie Denunziation, auch im Kleinen, die Welt aus den Fugen reißt. 

Russische Rubel regnen in einer Varieté Darbietung des teuflischen Fremden aus dem Nichts über dem Publikum herab, verwandeln sich, nachdem die Verführten sie in den Geldkreislauf eingebracht haben, in wertloses Papier oder Fremdwährungen und dann auch mal wieder in Rubel zurück. Chaos resultiert. Geld wird erschaffen und wieder vernichtet, Luxusgüter lösen sich in Luft auf. Nothing is real, everything is possible. 

Doch das Böse bei Bulgakow hat Methode, und hier erlebte ich meine zweite Überraschung. Mittlerweile hatte ich mich kurz in den historischen Kontext eingelesen und wusste damit um die kritische Stoßrichtung. Doch der Roman riss mich just an dieser Stelle aus meinem neugewonnen Denkschema und offenbarte seine zweite Lebensader: denn die stalinistische Lebenswelt, die im ersten Teil des Buches aufgebaut wurde, bildete zunehmend bloß den Rahmen für eine Untersuchung einer ganz bestimmten Idee des Bösen selbst. Dieses Böse wiederum kann nicht mit dem Staat identifiziert werden, denn es ist vielschichtig, uneindeutig und, ganz mephistophelisch, irgendwie letztlich doch dem Guten verpflichtet. Und es ist eng mit dem Schicksal der Titelfiguren verwoben, welche verhältnismäßig spät auftreten.

Der Meister, selbst Autor eines Werkes über das Leben des Pontius Pilatus, begegnet uns gegen Ende des ersten Teils. Von Plattheit und Mitläufertum der Literaturkritiker gebrochen, befürchtet er den Verstand zu verlieren und lässt sich selbst in eine Irrenanstalt einweisen. Margarita, deren Begegnung ich zu Beginn noch hinter jeder zweiten Seite vermutet hätte, gibt dem Roman im zweiten Teil die entscheidende Wendung. Denn eigentlich ist Der Meister und Margarita eine Liebesgeschichte. Oder vielmehr ist die Geschichte einer Heldin, deren Reise durch Liebe motiviert ist. Manchmal scheint es dabei direkt, als ob der düstere erste Teil nur dazu dient, dem Licht der Liebe zwischen Margarita und ihrem Meister als Hintergrund zu dienen. Wie eine einzelne Laterne in der Weite der Nacht. Um den Meister, so nennt Margarita den sonst namenlos Bleibenden aus Hochachtung für sein literarisches Werk, zu retten, lässt sich Margarita letztlich mit eben jener finsteren Macht ein, die Moskau heimsucht, mit Satan höchstpersönlich. Dabei erkennt sie das zweite Gesicht dieses Fremden und seiner dämonischen Bande. 

Ein Besenflug über Moskau, ein fliegender Keiler, nackte Hexen. Ein Ball mit toten Edelleuten und Größen der Weltgeschichte, welche letztlich nichts drängender begehren, als die Aufmerksamkeit ihrer Ballkönigin. Musizierenden Tiere, gerechte Bosheit. Das wundervoll mondäne Geplänkel der Posse des Teufels, welches zeitlich vor Tarantinos berühmter Burger-Szene niedergeschrieben wurde, aber deutliche Parallelen aufzeigt. Ein Roman im Roman, der eine Botschaft enthält, die ich immer noch nicht ganz verstanden habe. Und mehr sei an dieser Stelle nicht gesagt. Der Meister und Margarita ist intellektuell stimulierend, ikonisch in seinen Bildern und hat sicherlich die ein oder anderen literarischen Tropen des Fantasy-Genres nicht nur verarbeitet, sondern auch geprägt. Assoziationen zu Carolls Alice in Wonderland kamen auf, zu Dante und Tolkien und Rowling. Es ist ein Buch, das man gelesen haben sollte, wegen den Gefühlen, die es webt und den Ideen dahinter, die dadurch zum Leben erwachen. Wegen Bulgakows Sprache, die auch in Übersetzung ein Hochgenuss ist. Man sollte es lesen, weil es den Blick auf eine Welt öffnet, die einmal gewesen ist, und die wieder sein kann und auf eine Welt die niemals war, aber ewig ist. 

Ein Beitrag von Sebastian Helm


Literaturhinweis:

Bulgakov, Michail. The Master and Margarita. 50th Anniversary Penguin Classics Deluxe Edition. Penguin, 2016.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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