Der wahnsinnige Wissenschaftler und das Scheusal: Zweihundert Jahre „Frankenstein“

Zwei Gestalten der populären Imagination sind 2018 zweihundert Jahre alt geworden: Frankenstein und sein Monster. Jeder kennt sie, weil jeder mindestens einen Film über sie gesehen hat, und Boris Karloff als Monster in der Verfilmung von 1931 ist geradezu eine Ikone geworden. Immer wieder variieren Drehbuchautor und Regisseure die Geschichte vom besessenen Wissenschaftler, der aus Leichenteilen einen Menschen zusammenbaut, ihn belebt – meist per Galvanismus – und dann vor seiner monströs geratenen Schöpfung Reißaus nimmt und damit eine Kette katastrophaler Ereignisse in Gang setzt. All diese Versionen gehen letztlich auf einen Roman zurück, der 1818 – zunächst anonym – in London erschien: „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ von Mary Wollstonecraft Shelley. Seine Vielschichtigkeit erreichen sie allerdings selten oder vielleicht nie. Denn um puren Horror geht es darin nicht, auch wenn die Grundidee tatsächlich eine Gruselgeschichte war: Mitte Juni 1816 saßen die englischen Dichter Lord Byron und Percy Bysshe Shelley, Shelleys damals 18jährige Lebensgefährtin und spätere Ehefrau Mary und Byrons Leibarzt und Reisebegleiter John William Polidori in einer Villa am Genfer See, während es tagelang in Strömen regnete. Die Protagonisten der literarischen Romantik unterhielten sich über neueste naturwissenschaftliche Experimente, über die Möglichkeit, künstliches Leben zu schaffen, lasen einander Gespenstergeschichten vor, die aus dem Deutschen ins Französische übersetzt worden waren, und beschlossen dann, selber welche zu erfinden. Bloß Mary wollte lange keine einfallen. Aber dann hatte sie einen Alptraum und ihre Geschichte – und in den folgenden beiden Jahren machte sie ihren ersten Roman daraus.

Ein Forschungsreisender auf dem Weg zum Nordpol berichtet seiner Schwester in Briefen von seiner Begegnung mit einem gewissen Viktor Frankenstein und dem von diesem geschaffenen Wesen, das mit seiner Größe von acht Fuß (etwa 2,40 Meter), seiner Körperkraft, Gewandtheit und Kälteunempfindlichkeit menschliche Maßstäbe weit überragt – und das von abstoßender Hässlichkeit ist. Vor uns, den Lesern, entfaltet sich in den Berichten des Briefschreibers sowie in den darin wörtlich wiedergegebenen Erzählungen Frankensteins und des Monsters ein mehrfach gespiegeltes, komplexes Geschehen. Frankenstein will das Geheimnis des Lebens enträtseln und eine neue, bessere, schönere Menschenrasse erschaffen, aber das Ergebnis seiner besessenen zweijährigen Arbeit fällt ganz anders aus: Er ergreift die Flucht vor seinem Geschöpf, diesem „dämonischen Leichnam“, den er belebt hat. Das auf sich allein gestellte Geschöpf aber überlebt in einer Umwelt, in der es sich erst mühsam zurechtfinden muss. Es verfügt offenbar über beträchtliche intellektuelle Gaben, denn es ist in der Lage, allein durch Zuhören und Beobachten Sprechen und sogar Lesen zu lernen und anhand zufällig gefundener Bücher eine gewisse Bildung zu erwerben. Aber seine sich entwickelnde Menschenliebe wird von jedem Menschen, dem es begegnet, mit brutaler Zurückweisung und sogar mit potenziell tödlicher Gewalt vergolten – sein Aussehen stempelt es zum Außenseiter, und der Gehasste wird zum Hassenden, verfolgt seinen Schöpfer, der ihn verstoßen hat. Das Monster mordet, um Frankenstein Leid zuzufügen, und das wirkt fast wie die Kehrseite eines verzweifelten Kampfes um Anerkennung durch seinen Erzeuger. Dieser wiederum ist bei all seiner Kultiviertheit und Intellektualität der Empathie mit seinem Geschöpf bis auf geringe Anflüge von Mitleid bemerkenswert unfähig – durch mehrfache erzähltechnische Spiegelung legt der Roman das verdrängte Andere unserer Zivilisation frei. Es entwickelt sich eine katastrophale Dialektik, bei der der Verfolger zum Verfolgten wird und die ihr zumindest für Frankenstein tödliches Ende im ewigen Eis der Arktis an Bord des Forschungsschiffes findet.

In diesem Roman steckt vieles. Romantisches Lebens- und Naturgefühl, psychologische Einsichten in das Umschlagen von Zuneigung in mörderischen Hass durch allseitige Zurückweisung, wie sie knapp hundert Jahre später erst die Psychoanalyse formuliert hat, ebenso wie die gerade heute hochaktuelle Problematik künstlich erzeugten oder genetisch manipulierten menschlichen Lebens, das sich anders entwickelt als von den Erzeugern geplant, und dies mit unabsehbaren Folgen. Der Prometheus der griechischen Mythologie, auf den der Untertitel des Romans Bezug nimmt und der antiker Überlieferung zufolge die Menschen aus Ton schafft – explizit erst im ersten Buch der „Metamorphosen“ (1,82) des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. bis 17 / 18 n. Chr.), aber wahrscheinlich ist die Tradition deutlich älter, wobei auch Athene eine Rolle spielt (vgl. Reinhardt, Mythos, 241) – ist immerhin ein Gott. Der berühmte Satiriker Lukian (um 120 n. Chr. bis Ende des 2. Jhd. n. Chr.) lässt ihn in seinem Prosadialog „Prometheus“ seine Schöpfung damit rechtfertigen, dass er die Menschen geschaffen habe, damit sie die Götter verehren und damit die Götter ihre Überlegenheit den Sterblichen gegenüber so recht genießen können. Frankenstein aber ist kein Gott und auch kein „Vorausdenkender“ (das bedeutet der Name „Prometheus“) – er verfolgt das utopische Projekt einer neuen Rasse künstlich optimierter Menschen, ebenso wie heutige Wissenschafts(alp)träume das tun, ohne die Folgen absehen zu könen …

Der Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V. hat dem zweihundertjährigen Jubiläum Frankensteins eine Veranstaltung gewidmet. Im Rahmen des Wave Gotik Treffens 2018 in Leipzig machten am 18. und 19. Mai die Historikerin Dr. Constance Timm und die Anglistin Pia Stöger, moderiert von dem namhaften Leipziger Anglistik-Professor und Vorstandsmitglied des Arbeitskreises, Elmar Schenkel, ein zahlreiches Publikum mit Erfolg neugierig. Die Lektüre des Romans lohnt sich in der Tat. Unter den verfügbaren deutschen Übersetzungen ist die 2017 im Manesse Verlag erschienene, von Alexander Pechmann übersetzte und mit einem Nachwort des Schriftstellers Georg Klein versehene Ausgabe, die auf der Urfassung von 1818 beruht, die wohl empfehlenswerteste.

Ein Beitrag von Christoph Sorger

Literaturhinweise:

Mary Shelley. Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Zürich 2017.

Udo Reinhardt. Der antike Mythos. Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2011.

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