„Hic sunt dracones“ – Der Drache als ein schlangenartiges Mischwesen in ausgewählten slawischen Kulturen und Literaturen

Vorbemerkungen

Der Drache als das wohl bekanntesten Fabelwesen wird in der Mythologie zumeist als ein schlangenartiges Mischwesen angesehen, das Merkmale von Reptilien, Greifvögeln und Raubtieren in unterschiedlicher Gestalt in sich vereint. Eine deutliche Abgrenzung der Drachen zu anderen mythischen Fabelwesen ist dabei nicht immer erkennbar. Schlangenmythen weisen häufig Gemeinsamkeiten mit Drachenerzählungen auf. Zuweilen zeigt sich der Drache auch als eine groteske, phantastisch übertriebene Vergrößerung einer Schlange. Ähnliches, die enge Verbindung der die Luft beherrschenden, Furcht und Angst einflößenden Feuerschlange mit dem irdischen, in Höhlen lebenden Drachen, kann in der slawischen Mythologie wie auch in den Kulturen der baltischen Völker festgestellt werden. Zahlreichen Überlieferungen, Sagen und Legenden zufolge fordert der Drache häufig Menschenopfer, zumeist in Gestalt ansehnlicher Jungfrauen und Königstöchter. Dem Sieger im Kampf gegen den Drachen werden dann häufig die Königstochter und ein Königreich noch dazu versprochen.[1]

Eine eigenständige Entsprechung für den „Lindwurm“ gibt es übrigens in den slawischen Sprachen nicht. Allerdings soll auf der Insel Lindwerder (Wyspa Bagienna – Sumpfinsel) im Dratzigsee (Jezioro Drawsko) in Westpommern einst ein grausamer Lindwurm (im Polnischen żmij bzw. smoko-podobny lindwurm, also ein drachenähnlicher Lindwurm) gelebt haben, der eine wunderschöne Prinzessin in seiner Gewalt hielt. Die Knochen der zur Befreiung der Jungfrau herbeigeeilten und vom Lindwurm getöteten Ritter sollen sich bis heute auf dem Grund des Sees befinden. Anders als seine Vorgänger, die das Ungeheuer mit Waffen zu besiegen versuchten, lullte ein kühner Jüngling mit seinem betörenden Gesang die Bestie ein und hieb ihr anschließend mit seinem Schwert den Kopf ab. Allerdings verschmähte die schöne Prinzessin ihren Lebensretter, denn sie hatte ein Gelübde abgelegt, dass sie ihr Leben Gott allein widmen würde, und ging somit ins Kloster. Hier haben wir es mit einem sich häufig in verschiedenen Variationen wiederholenden Erzählmuster bzw. einem Wandermotiv zu tun, das als solches nicht nur in den slawischen Kulturen und Literaturen auftritt. Das eigenständige Bild eines geflügelten, Feuer speienden Drachen setzte sich erst relativ spät durch (vermutlich in der Karolingerzeit), u. a. auch als Verkörperung des Leibhaftigen sowie in bildlichen Darstellungen von Dämonen und Teufeln, zumeist in Gestalt von Drachen. Herausgestellt wurden dabei immer wieder der gefährliche, bösartige Charakter der Drachenwesen und ihre enorme Kraft und Willkür sowie der Schrecken, den sie verbreiteten.

Drachen und Schlangen bei den Slawen

In den slawischen Märchen, Sagen, Mythen und Legenden tritt der Drache ebenfalls zumeist in Gestalt eines Mischwesens auf, und zwar nicht nur in Gestalt einer Schlange bzw. eines feuerspeienden Drachen, sondern auch als ein halbmenschliches Wesen. So ist der mit ritterlichen Waffen kämpfende, um schöne Frauen buhlende Reiter nur noch an seinen Flügeln als ein Drachenwesen zu erkennen. Spätestens seit dem Hochmittelalter waren im Zusammenhang mit der Christianisierung drachenartige Wesen in allen slawischen Kulturen zu einem zentralen Motiv des Kampfes gegen das Böse wie auch gegen die Erbsünde geworden. Auch hier waren es tapfere, fast immer ritterliche Drachentöter, zu denen u.a. der Heilige Georg[2] ebenso wie der Erzengel Michael[3] gehörten. Häufig sind sie auf Wappen abgebildet, so z.B. Georg, der Drachentöter auf dem Moskauer Wappen.[4]

Hinzu kamen des Weiteren Helden aus dem einfachen Volk – schlaue Schneider, Schuster oder listige Bäuerlein, denen es gelang, das Ungeheuer zu besiegen. Auf diese Weise ist der Drache zu einem nicht mehr wegzudenkenden Thema in Märchen, Legenden und Heldensagen aller Slawen geworden. Von seiner Existenz berichten neben mündlichen Überlieferungen auch Dokumente und Chroniken wie u.a. die des polnischen Chronisten und Bischofs von Krakau, Wincenty Kadłubek (ca. 1150-1223). Kadłubek berichtet u.a. auch über Krak, Herzog des westslawischen Volkes der Wiślane sowie legendärer Gründer Krakaus und seinen Kampf mit dem Waweldrachen. Eine besondere Form, gleichsam Widerpart zur fliegenden Feuerschlange, stellt der Eisdrache dar, der seine Feinde mit seinem eisigen Atem einzufrieren vermag. Er tritt in der Mythologie zwar relativ selten, dafür sehr häufig in der Fantasy-Literatur auf. Zu den bekanntesten Eisdrachen auf dem Gebiet der Germania Slavica östlich von Elbe und Saale gehört der Dresdner Eiswurm, der im Plauenschen Grunde bei Dresden in tief eingeschnittenen Felsenhöhlen gehaust haben soll. „Das schrecklichste der Schrecken, das war der Wurm, er tat am Eise lecken.“[5] In besagten kühlen Felshöhlen und Gewölben wurde später das Bier der Dresdner Felsenkellerbrauerei gelagert. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde die Sage vom Eiswurm aus ganz zweckmäßigen Gründen erfunden und der Drache zum Markenzeichen besagter Brauerei gemacht.[6] Allerdings gibt es glaubwürdige Hinweise darauf, dass die Berichte von in den Tälern der Elbe und ihren in Nebenflüssen hausenden Geistern, Schlangen und Drachen auf die Elbtal-Sorben zurückzuführen sind. Dazu gehört auch die Sage vom einst im Meixgrund (Friedrichsgrund) in der Nähe von Pillnitz bei Dresden hausenden Drachen Meix, der alljährlich von den Elbbauern Fleisch und Wein wie auch Jungfrauen begehrte und schließlich von einem Müllerburschen getötet wurde. Bis heute soll die 1903 errichtete Drachenburg, in deren Nähe sich einst eine alte slawische Fluchtburg befand, an die Drachensage erinnern.[7]

Drachen in der slawische Mythologie

Das slawische semantische Feld weist unterschiedliche Namen bzw. Bezeichnungen auf, die sowohl für „Schlange“ als auch „Drache“ – oder aber auch für beides – stehen können. Übergreifend kann von der altkirchenslawischen Bezeichnung für Schlange „zmij“ (žmij(a), auch smei bzw. zmei ausgegangen werden. In der altslawischen Mythologie gab es zwei unterschiedliche Bezeichnungen für den die Luft beherrschenden und feuerspeienden männlichen Drachen (zmij) und den die Wasserwelt kontrollierenden weiblichen Drachen (zmija, zmijica). Beide Drachen mussten im Interesse eines gedeihlichen und einträchtigen Lebens auf Erden miteinander auskommen.

Zweifelsohne gibt es bei den slawischen Drachen und Schlangen auch einen Bezug zu den Herrschafts- und Schreckensbildern vorchristlicher Götter. Das trifft in erster Linie auf Svarožić (bzw. auch auf Dažbog und Radegast) zu, ebenso wie auch auf Perun, den slawischen Sonnen-, Sturm- und Feuergott. Dieser wohnte ganz oben im Weltenbaum und hatte, vergleichbar mit Prometheus, den Menschen das Feuer gebracht. Unter dem Wurzelgeflecht des Weltenbaums herrscht wiederum Veles (Weles), der Widerpart Peruns, Gott der Wasserwelt und des Totenreichs, der zugleich auch als Beschützer der Hirten und des Viehs galt. Dabei wechselt Veles oft sein Aussehen, so vermag er auch in Gestalt eines Drachens oder einer Schlange sein Unwesen zu treiben. Mit dem weiblichen Drachen (žmija) kann ein Bezug zur slawischen Göttin Mokoscha – Beherrscherin der Unter- und Wasserwelt – hergestellt werden, welche die Quellen, Flüsse, Teiche und Seen bewacht.

Das geläufige Bild des in Höhlen hausenden und häufig Schätze bewachenden, feierspeienden Drachen wird u.a. auch als ein Versuch gedeutet, die scheinbare Gegensätzlichkeit des die Luft beherrschenden männlichen und des mit der Unterwelt eng verbundenen, weiblichen Drachen zu überbrücken. So zeigt das Wappen der niederschlesischen Stadt Żmigród (in wörtlicher Übersetzung Drachenburg, der deutsche Namen der Stadt lautet Trachenberg), einen sich um einen Turm windenden Drachen, der auch im Stadtwappen zu finden ist.[8] Eigentlich ist es eher eine riesige Schlange, die in der Nähe des Wasserturmes der Stadt ihr Nest hatte.[9]

Gutwillige slawische Drachen

Es ist wichtig, neben den bösen, nach Blut, Besitz, Macht und Jungfrauen verlangenden Monster-Drachen der slawischen Mythologie auch auf deren positive Konnotationen und Darstellungen, zumeist abhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit, zu verweisen. So werden männliche Drachen in der bulgarischen Mythologie als Beschützer der Fruchtbarkeit, der Feldfrüchte verehrt, weibliche Drachen werden dagegen häufig als blutrünstige Ungeheuer angesehen. So vermag der starke, kluge, feuerspeiende Drache Zmaj, in Slowenien auch „Pozoj“ genannt, ähnlich wie der erwähnte Gott Veles, verschiedene menschliche Gestalten anzunehmen und auch körperliche Beziehungen zu jungen, hübschen Mädchen einzugehen.

Zmaj ist vor allem in der südslawischen Mythologie positiv konnotiert. So beschützt der Laibacher Drachen (Ljubljanski Zmaj) die slowenische Hauptstadt und ist im Wappen der Stadt abgebildet.[10] Vier geflügelte Drachen schützen die bekannte Drachenbrücke (Zmajski most) Ljubljanas.[11] Zmaj schützt die Menschen auch vor Wetter- und Naturkatastrophen und vor dem schlangen- zuweilen auch menschenähnlichen weiblichen Dämon bzw. Drachen Ala (Hala) bzw. Aždaja (auch Aždaha)[12], der auch in der bosnischen Mythologie verbreitet ist und evtl. aus dieser entlehnt wurde. Seit der zum Mythos gewordenen Schlacht auf dem Amselfeld (1389), in welcher der serbische Zar Lazar gegen den ottomanischen Sultan Murad I. kämpfte, der die Unterjochung der Balkanvölker anstrebte, gilt Zmaj als Symbol des patriotischen Kampfes der Serben gegen fremde Eroberer. Des Weiteren gilt Zmaj aber auch als Stammvater eines großen serbischen, mit drachenartigen Kräften ausgestatteten Geschlechts, das auf den gottgleichen Drachen von Jastrebac zurückgeführt wird. Zu ihnen zählt u.a. Stefan Lazarecić, Mitglied des Drachenordens und der feurige Wolfsdrache (Zmaj Ognjeni Vuk) Vuk Grgurević. Aždaja, einst den Menschen wohlgesonnen, wurde zu einer gefährlichen Bestie und steht in der serbischen Mythologie u.a. auch symbolisch für die das Land bedrohenden osmanischen Feinde.[13]

Drachen in der ostslawischen Mythologie

Im ostslawischen Bereich haben wir es vor allem mit einem zumeist grünen, dreiköpfigen, sich auf zwei Hinterbeinen (die Vorderbeine sind verkürzt) bewegenden, feierspeienden Drachen, „Smei/Zmij Gorynytch“ (Bergschlange)[14] zu tun, der u.a. Kiew bedrohte und eine junge Prinzessin entführte. Der Recke, Bogatyr Dobrynja Nikitsch, war nicht nur ein hervorragender Krieger, sondern auch ein geschickter Diplomat; ihm gelang es, das Monster zu töten.[15] Die Erzählung vom Heiligen Georg bzw. vom Erzengel Gabriel spielt unverkennbar auch hier eine wichtige Rolle. Ein weiterer russischer Drache ist Tugarin Smejewitsch, der bereits in seiner Eigenbezeichnung Smejewitch das Wort Drache (Drachensohn) aufweist und zugleich einen aus den Turksprachen stammenden Namen Tugarin (Tugar Khan?) trägt. Wahrscheinlich im Bezug zu den Mongoleneinfällen stehend, könnte er türkisch-tatarischer Herkunft sein.[16]

Der Drache Tugarin tritt auch als ein legendärer, drachenartiger Recke (Bogatyr) auf und wird im Zug der Christianisierung als ein Symbol des zu bekämpfenden Heidentums angesehen. So wird Tugarin auch als ein Gegner von Wladimir I. Swjatoslawitsch, Großfürst von Kiew, dargestellt, unter dessen Herrschaft (978/980-1015) die Christianisierung der Kiewer Rus ihren Anfang nahm. Tugarin galt zugleich als ein der Gattin Wladimirs treu ergebener Freund. Es war der Recke Aljoscha Popowitsch (Popovič, Sohn des Popen!), der Tugarin Smejewitsch in einem erbitterten Zweikampf am Flusse Safat besiegte. Dabei soll der Körper Tugarins gänzlich mit feuerspeienden Schlangen bedeckt gewesen sein; es könnte hier also auch ein Zusammenhang zum slawischen Gott des Feuers vermutet werden. Nach seinem Sieg zerstückelte der Recke den Körper Tugarins in einzelne Teile und verstreut sie über das Kampffeld. Interessanterweise gibt es auch einen möglichen Bezug zur irdischen Göttin des Wassers, die wichtigste Gegenspielerin des slawischen Feuergottes. So werden die papierähnlichen Flügel Tugarins durch den niedergehenden Regen unbrauchbar und tragen zu dessen Niederlage bei. All diese Legenden, die weitgehend der damaligen Kiewer Weltsicht entsprachen, wurden in den mittelalterlichen russischen Heldenliedern bzw. Volkserzählungen (Bylinen) festgehalten. Zu den bekanntesten Recken/ Bogatyrs gehört auch der von der russischen orthodoxen Kirche heiliggesprochene Ilja Murometz, der das riesige Monster Idolischtsche tötete, ein Symbol der heidnischen Kräfte, welche die Kiewer Rus bedrohten.[17]

Drachen bei den Sorben und anderen Westslawen

Weniger patriotisch-heroisch, dafür weitaus volkstümlicher zeigen sich die Drachen in der sorbischen Mythologie und Sagenwelt. Hier bringt der wohlwollende Hausgeist „Zmij“ (Drache) seinen Besitzern Getreide, Milch und Geld. Dabei wird zwischen einem Getreidedrachen (žitny zmij), einem Milchdrachen (mlokowy zmij) und einem Gelddrachen (pjenježny zmij) unterschieden. Bis heute hat sich die obersorbische Redewendung erhalten „einen Drachen“ haben“ (zmija měć), was bedeutet, auf zumeist unerklärliche Weise zu Reichtum gelangt zu sein. So wird im Film Zmij – Der Drache vom Leben der Sorben zur Zeit des Nationalsozialismus erzählt; der Drache Zmij dient dabei als Metapher. Ähnliche, vergleichbare Vorstellungen gibt es auch bei den Niedersorben.

So reicht der Spreewälder Drache, „plón“ genannt, in seinem Ursprung und in seiner Bedeutung weit in die vorchristliche Zeit zurück. Als „Gelddrache“ bringt er unverhofften Reichtum, vorausgesetzt, man füttert ihn immer wieder mit Hirsebrei, Keksen und anderen Leckerein. Wollte man allerdings einen solchen Hausdrachen wieder loswerden, dann verschwand mit ihm alles, was er zuvor dem Haus beschert hatte. So wird berichtet, dass in der Gemeinde Drachhausen (sorbisch Hochoza), ein auch im Wappen festgehaltener Drache einst einem Bauern regelmäßig viel Gold gebracht hatte. Als allerdings die Frau den für den Drachen bestimmten Hirsebrei anbrennen ließ, wurde dieser wütend und griff den Hof des Bauern ebenso wie die Kirche des Ortes an. Auf dem Dorfanger befindet sich ein anlässlich der Wendischen Festtage 1998 aus Beton gegossene Drache, der bis heute als Beschützer der Gemeinde gilt. Der sorbische Schriftsteller Jurij Koch, der einen modernen, energiespendenden Drachen auf seinem Dach weiß, erinnert sich dabei gern an den sagenhaften Plon der Altvorderen, der den Überlieferungen zufolge als eine funkensprühende Feuerschlange von Dach zu Dach flog, um den Hungrigen und Bedürftigen die Suppenschüsseln reichlich zu füllen.[18]

Im elften Teil des Spreewald-Krimis Tödliche Heimkehr tritt der elegant dahinfliegende Plon als sorbischer Glücksbringer auf, der viel Gutes beschert, wenn man ihn nur gut behandelt. Zmij – Der Drache (2016) ist auch ein Kurzfilm von Angela Schuster, der im Jahre 1938 in der Lausitz, in der Nähe von Hoyerswerda spielt.[19] Ein kleines Mädchen wünscht sich einen Drachen, der das traurige Schicksal ihrer Familie zum Besseren wenden möge. Vorstellungen vom sorbisch-wendischen „Golddrachen“ waren weit über das heutige sorbische Gebiet in der Ober- und Niederlausitz hinaus verbreitet und reichten bis an die Elbe und Saale – Flüsse, welche die einst sorbischen von den germanisch-deutschen Siedlungsgebiete trennten. So wird berichtet, dass im Jahre 1617 eine der Hexerei beschuldigte Frau in Bernburg an der Saale, Barbara Meyhe (Gattin des Bürgermeisters der Stadt, Christoph Meyhe) in einem Hexenprozess (vom 24. April 1617 bis zum 13. April 1619) hochpeinlich befragt wurde, ob sie einen Gelddrachen besäße, der im Garten auf einem Birnbaum sitzend, Geld speien würde. Des Weiteren wurde der Angeklagten vorgeworfen, dazu auch noch einen Getreidedrachen zu besitzen, der ihr regelmäßig von den Feldern anderer Leute Getreide bringen würde. Neben anderen Zeugen bestätigte auch ein Stadtknecht den Besuch des Drachen bei der inzwischen der Hexerei Beschuldigten: „… es möchte wohl der böse Feind [der Teufel] bei ihr gewesen sein“, denn der „Lichtschein sei durch ein Spundloch in der Tür zu sehen gewesen“. Einem Gnadenakt folgend verließ Barbara Meyhe, körperlich und geistig zerrüttet, am 13. April 1619 die Stadt. Am 19. Dezember 2015 wurde eine an die Opfer der Hexenverfolgung in Bernburg erinnernde Gedenktafel am ehemaligen Pfarrhaus der Kirche Sankt Marien enthüllt.  

Der (polnische) Waweldrache

In Polen hauste das bekannteste Drachenwesen, der dreiköpfige Waweldrache (smok wawelski) in einer Höhle (smocza jama) unterhalb des Wawelhügels, auf dem sich das polnische Königschloss und die Kathedrale befinden. Das Ungeheuer terrorisierte immer wieder die Menschen, fraß ihre Tiere und brannte ihre Häuser nieder. Um ihn zu beschwichtigen, opferte man ihm täglich ein Schaf, doch er verlangte mit Vorliebe nach Jungfrauen, darunter auch nach der Tochter des Königs. Allerdings konnte der Drache nicht besiegt werden, alle edlen Drachentöter scheiterten. Daraufhin meldete sich ein junger Schusterlehrling namens Dratewka beim Herrscher Krak. Ihm gelang es, das Monster mit einer List zu besiegten. Er füllte ein ausgeweidetes Schaf mit Schwefel, ungelöschtem Kalk und Salz, das der Waweldrache sofort verschlang. Augenblicklich verspürte er quälenden Durst, den er mit Weichselwasser zu stillen versuchte. Er trank fast den ganzen Weichselfluss aus und platzte schließlich mit einem lauten Knall. Krak (Gründer der nach ihm benannten Stadt Krak-au) hielt sein Wort und gab dem Schusterjungen seine Tochter zur Frau. 1972 wurde am Ausgang der Drachenhöhle eine bronzene, Feuer speiende Statue des Waweldrachen aufgestellt.[20]

Am Eingang der Wawelkathedrale befinden sich drei angeblich vom Drachen stammende Knochen (ein Schädel, ein Oberschenkel und eine Rippe). „Wawel-Drache“ (Smok wawelski) ist auch die Bezeichnung für einen in Süd-West-Polen gefundenen Archosaurier, der 2012 erstmalig wissenschaftliche beschrieben und nach dem Krakauer Drachen benannt wurde. Eine vergleichbare Geschichte gibt es übrigens auch über den Brünner Drachen, dessen Abbildung sich am Durchgang zum Innenhof des Rathauses von Brünn (Brno) befindet. Der Legende nach versetzte der Drache die Bewohner der Stadt in Angst und Schrecken. Letztendlich wurde auch er durch eine List besiegt. So wurde eine mit ungelöschtem Kalk gefüllte Kuhhaut als Köder ausgelegt, und die Geschichte endete ganz ähnlich wie die Legende vom Waweldrachen.

Interessant ist die literarische Auseinandersetzung mit slawischen Drachen in der zeitgenössischen Literatur. Als ein Beispiel dafür dienen mag der Verfasser polnischer Fantasy-Literatur, Andrzej Sapkowi, der sich in seinem Werken bevorzugt auf slawische Märchen und Legenden stützt. Inspiriert von der polnischen Legende vom Schuster Dratewka und dem Wawel-Drachen begann er, überlieferte Narrative auf eine neue, moderne Art und Weise zu interpretieren. In einer von Drachen, Teufeln und anderen Monstern geplagten Welt sollen „Spezialisten“ wie Geralt von Riva (der „weiße Wolf“), Hauptfigur von Andrzej Sapkowskis populärer Hexer-Saga, die Ungeheuer unterschiedlicher Herkunft auf professionelle Art und Weise beseitigen.[21] In ihrem Debüt, Das dunkle Herz des Waldes[22], einem bildgewaltigen Fantasy-Roman, beschreibt die 1973 in New York geborene und mit polnischen Märchen, Legenden und Mythen aufgewachsene Naomi Novik das idyllische Dorf Dvernik im Königreich Polnya. Hier wächst die Protagonistin Agnieszka auf. Doch auf der anderen Seite des silbernen Flusses lauert im Dunklen eines unheimlichen Waldes eine böse Macht, die nur durch einen „Drachen“ im Zaum gehalten werden kann. Als Tribut fordert dieser aller zehn Jahre ein Mädchen, das ihm zu Diensten stehen muss. In der russischen Literatur folgt Jewgeni Schwartz’ legendärem, parabelhaften Märchenstück Der Drache[23]eine reiche Fantasy- bzw. Science-Fiction-Literatur. Dazu gehört u.a. Pavel Shumilovs Karawane der Toten.[24]

Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf den Roman von Irina Zinenko und Natalia Listvinskaya Das persönliche Leben der Drachen und nicht nur wie auch auf zahlreiche Fantasy-Filme.[25] Zu den bekanntesten und erfolgreichsten russischen Science-Fiction- wie Fantasy-Autoren gehört Sergej Lukianenko. Mit seinem phantastischen Roman Drachenpfade[26] nimmt uns der Autor mit in eine andere, eine magische Welt, in der Elfen und Gnome zusammen mit den Menschen leben, die sich alle vor der Ankunft des „Großen Drachen“ fürchten und ihre Hoffnungen auf einen mutigen Drachentöter setzen, der sich diesem mutig entgegenstellt.

Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte


[1] Verwiesen sei im Zusammenhang mit den Drachen auch auf den „Lindwurm“, vom Altnordischen „linnr“ bzw. „linri“ für Schlange abgeleitet; also ein schlangen- bzw. drachenartiges, fluguntaugliches Fabelwesen.

[2] Der Heilige Georg als Drachentöter (russische Ikone)

https://i.pinimg.com/originals/61/bf/34/61bf34e8bb485af92ccc07e9e338676d.jpg [19.07.2021].

[3] Der Erzengel Michael als Töter des höllischen Drachen https://i.pinimg.com/originals/61/bf/34/61bf34e8bb485af92ccc07e9e338676d.jpg [19.07.2021].

[4] Der Heilige Georg, der Drachentöter im Wappen von Moskau

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/bb/Coat_of_Arms_of_Moscow.svg [19.07.2021].

[5] Spruch am großen Ölgemälde, das 1887 von der Brauerei in Auftrag gegeben wurde und das sich bis heute in der Dresdner Felsenkeller Brauerei befindet.

[6] Der Eiswurm als Logo der Dresdner Felsenkeller Brauerei. Die Postanschrift der heute an diesem Ort nicht mehr brauenden AG lautete: Am Eiswurmlager 1 https://drachen.fandom.com/de/wiki/Dresdner_Eiswurm?file=Eiswurm.jpg [19.07.2021].

[7] Die Drachenburg im Friedrichs- bzw. Meixgrund bei Pillnitz. https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrichsgrund#/media/Datei:Drachenburg_Meixm%C3%BChle.jpg [19.07.2021].

Erwähnt werden sollte des Weiteren auch der Drache in der Drachenschlucht von Trachenberge wie auch der Lindwurm im Nesselgrund von Klotzsche bei Dresden, die auf Überlieferungen der Elbsorben zurückgeführt werden können.

[8] Stadtwappen von Żmigród (Trachenberg) https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/4/41/POL_%C5%BBmigr%C3%B3d_COA.svg/1200px-POL_%C5%BBmigr%C3%B3d_COA.svg.png [19.07.2021].

[9] An den Drachen erinnern bis heute zahlreiche kleine, über die Stadt verstreute Drachenfiguren aus Metall – ähnlich wie die bekannten Zwerge in Breslau.

[10] Stadtwappen von Ljubljana/Laibach https://de.wikipedia.org/wiki/Lindwurm#/media/Datei:Blason_ville_si_Ljubljana_(Slov%C3%A9nie).svg [19.07.2021].

[11] Die Drachenbrücke in Ljubljana/Laibach https://de.wikipedia.org/wiki/Drachenbr%C3%BCcke_%28Ljubljana%29#/media/Datei:Dragons_Bridge,_Ljubljana_2.jpg [19.07.2021].

[12] Ivan Ramada drehte einen Film über den Drachen  https://drachen.fandom.com/de/wiki/A%C5%BEdaja?file=The_Legend_of_A%25C5%25BEdaja_Ivan_Ramadan.jpg https://www.youtube.com/watch?v=nm3_X6UTsJM [19.07.2021].

[13] Vgl. dazu: Zmaj and the Dragon Lore of Slavic Mythology https://www.ancient-origins.net/myths-legends-europe/zmaj-and-dragon-lore-slavic-mythology-002984 [19.07.2021].

[14] Darstellung des Drache Zmij Gorynytch: https://vignette.wikia.nocookie.net/drachen/images/3/38/Ivan_Bilibin_065.jpg/revision/latest?cb=20131102170144&path-prefix=de [19.07.2021].

[15] Zmei Gorinich (die Schreibweisen des Namens sind wegen der Transkription aus der kyrillischen Schrift sehr verschieden) https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2c/Zmei_Gorinich_%28colour_fixed%29.jpg

[16] Tugarin Zmeyevich https://static.wikia.nocookie.net/drachen/images/2/2c/Tugarin_Zmeyevich.jpg/revision/latest?cb=20170925125211&path-prefix=de [19.07.2021].

[17] Ilja Muromez https://de.wikipedia.org/wiki/Ilja_Muromez#/media/Datei:Vastnetsov_1914.jpg [19.07.2021].

[18] Jurij Koch: Und auf dem Dach der Drache Plon. In: Lausitzer Rundschau online, 15. Juli 2005 https://www.lr-online.de/nachrichten/kultur/und-auf-dem-dach-der-drache-plon-33945346.html [19.07.2021].

[19] Zmij – der Drache http://luzyca-film.de/smij-der-drache/  https://programm.ard.de/TV/mdrfernsehen/zmij—der-drache-/eid_282293313648982 https://kurzsuechtig.de/film/zmij/ [19.07.2021].

[20] Der  Waweldrache als bronzene Statue in Krakau http://2.bp.blogspot.com/-dvCDMkjU9eo/Tbp4j28yX0I/AAAAAAAAANg/ORAD_l9PCC8/s1600/100_4456.JPG [19.07.2021].

[21] Andrzej Sapkowski: Wiedźmin (Der Hexer) Warszawa 1990, enthalten in der deutschen Ausgabe von Der letzte Wunsch, München 2007. Großer Beliebtheit erfreuen sich auch Sapkowskis Video-Spiele, die „Witcher“-Games.

[22] Naomi Novik: Uprooted, New York 2015, deutsche Ausgabe: Das dunkle Herz des Waldes, München 2016.

[23] Jewgeni Schwartz, Stücke, Berlin 1970.

[24] Auf der Grundlage von J. Schwartz’s Stück schrieben Paul Dessau und Heiner Müller die 1969 erstmalig aufgeführte Oper Lanzelot.

[25] Dragon – Love Is a Scary Tale gehört zu den russischen romantischen 3D-Fantasy-Abenteuerfilmen. Der Film wurde auch unter dem Titel He’s a Dragon veröffentlich. Der 3D-Animationsfilm Clara und der magische Drache (2019), das Filmdebut des ukrainischen Filmemachers Oleksandr Klymenko, ist eher für ein junges Publikum bestimmt.

[26] Sergej Lukanienko, Drachenpfade, München 2009.


Literaturhinweise:

Brönnle, Stefan: Der Drache als Kulturbringer. 2020https://www.inana.info/blog/2020/07/02/drache-als-kulturbringer.html [19.07.2021].

McCarthy, Dennis: Here be Dragons – How the study of animal and plant distributions revolutionized our views of life and Earth, Oxford 2019.

Jegorov, Boris: Helden der Folklore: Wie sah die slawische „Justice League“ aus? https://de.rbth.com/geschichte/79742-helden-russischer-folklore [19.07.2021].

Dixon-Kennedy, Mike: Encyclopedia of Russian and Slavic Myth and Legends, Santa Barbara 1998.  

Die Legende vom “Smok Wawelski” (dem Waweldrachen) und der Drache in der Literatur im Allgemeinen. https://ostblog.eu/die-legende-vom-smok-wawelski-dem-waweldrachen-und-der-drache-in-der-literatur-im-allgemeinen/ [19.07.2021].

Eilenstein, Harry: Symbolik: Schlangen und Drachen. Norderstedt 2017.

Eilenstein, Harry: Drachenfeuer: über Drachen, Schlangen und die Kundalini. Norderstedt 2015.

Kmietowicz, Frank A.: Slavic Mythical Beliefs, Windsor 1982.

Lukanienko, Sergej: Drachenpfade, München 2009.

Novik, Naomi: Uprooted, New York 2015; deutsche Ausgabe: Das dunkle Herz des Waldes, München 2016.

Paál, Gábor: Warum ähneln die Drachen in der Mythologie den Dinosauriern? 2020. https://www.swr.de/wissen/1000-antworten/warum-aehneln-die-drachen-in-der-mythologie-den-dinosauriern-100.html [19.07.2021].

Popova, Assia: La naissance des dragons, Bruxelles 1987.

Sapkowski, Andrzej: Wiedźmin (Der Hexer) Warszawa 1990. Die deutschsprachige Version ist in der Ausgabe von Der letzte Wunsch, München 2007 enthalten.

Sherman, Josepha: Storytelling: An Encyklopedia of Mythology and Folklore, London 2008.

Wolfschwerdt: Der Ursprung des Drachen. GeschiMag 2009. https://geschimagazin.wordpress.com/2009/08/06/der-ursprung-des-drachen-8399/ [19.07.2021].


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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