Wie wir Menschen aus Riesen gemacht wurden

In der nordischen Mythologie gibt es im Bereich der Entstehung und dem Vergehen der Welt einige Motive, die sich durch die Brille der modernen Kosmologie wunderbar interpretieren lassen und von denen ihrer drei in diesem Beitrag dargestellt werden sollen. Das heißt jetzt keineswegs, dass heutige wissenschaftliche Erkenntnisse in den Mythen vorweggenommen wären oder dass die Altvorderen hier tiefere oder prophetische Einblicke in die Natur gehabt hätten, bevor neuartige Beobachtungsmöglichkeiten eine Empirie in dem Sektor überhaupt erst möglich gemacht haben. Wir lesen im Folgenden nichts aus den Mythen heraus, sondern hinein. Das ist aber gerade in der Interpretation von Mythen nichts Ehrenrühriges, sondern im Gegenteil etwas, was den zeitlosen Charakter eines Mythos unterstreicht, kann man doch durch die Applikation heutiger Erkenntnisse an die jahrhundertealte Bilderwelt eben diese Bilder unbeschadet in die heutige Zeit transferieren und so an die Bilder geknüpfte Lehren, gesellschaftlicher oder spiritueller Natur, in die Neuzeit tragen, gar nutzbar machen. Man darf dabei nur nicht vergessen, dass diese Interpretation keinesfalls mit der Vorstellungswelt derjenigen übereinstimmt, die mit diesen Bildern Geschichten erzählt oder sie verschriftlicht hatten, sondern nur unseren eigenen Blickwinkel darstellen. Ein erquickliches Vergnügen ist es dennoch oder auch gerade deshalb.

Motiv #1: Die gähnende Leere

In der Gylfaginning, Gylfis Verblendung, aus der Prosa-Edda wird mit dem Verweis auf die ältere Völuspa berichtet, wie aus der feurigen Welt Muspelheim und der eisigen Welt Niflheim der Kosmos entsteht, indem die Glut Muspelheims das Eis Nilfheims schmilzt, welche in dem gähnenden Abgrund, dem Ginnungagap, der die beiden Welten trennte und nebenbei dem griechischen Chaos entspricht, aufeinandertreffen. Aus Feuer und Eis entstehen die ersten Wesen, der Riese Ymir und die Kuh Audhumbla.

© Andreas Mang

Dieses Geschehen kann man in der sehr frühen Phase des Universums wiederfinden. Nach dem Urknall ist es in einem relativ winzigen Raum so heiß, dass jedwede Materie sofort wieder vergeht und der gesamte Kosmos im Wesentlichen aus Strahlung in einem thermodynamischen Gleichgewicht besteht, weshalb man von der sog. strahlungsdominierten Ära spricht. Durch die Ausdehnung des Universums kühlt selbiges stark ab, und von einer gewissen Temperatur abwärts kann die Materie bestehen bleiben. Diese heiße Ära dauerte gerade mal grob 3 Minuten an [1], ein recht kurzer Zeitraum verglichen mit der darauffolgenden materiedominierten Ära, die es mittlerweile auf 13,8 Mrd. Jahre bringt. Dieser Wechsel von der Strahlungs- zur Materiedominanz ist ein einschneidender Schritt in der Entwicklung des Kosmos, denn erst ab selbigen kann sich das Licht frei ausbreiten und wir somit zum ersten Male etwas von der Geschichte des Universums sehen. Was wir in der Tat mit der Hintergrundstrahlung auch tun, welche aber heute schon so kalt geworden ist, dass man eine Radioantenne statt der Augen zum Schauen benötigt.

Zugegeben, eigentlich findet man in den frühen Minuten des Universums, um in der Bilderwelt zu bleiben, „nur“ ein sich aufblähendes Muspelheim, das durch das Anwachsen seiner selbst immer kälter wird, quasi zu Niflheim wird und dabei erst den Abgrund (zwischen den jetzt entstehenden Materieansammlungen, den späteren Galaxien) bildet. Aber die Aspekte, die die mythischen Bilder bilden, sind alle da: Zu Anfang das Nichts (=> Ginnungagap), dann das spontane Auftreten von etwas (Urknall => Muspel- und Niflheim, die ja auch im Mythos plötzlich und ohne weitere Erklärung existent sind), schließlich die Ausdehnung (=> wiederum Ginnungagap), welche mittels Abkühlung (=> Niflheim) aus heißer Strahlung (=> Muspelheim) Materie (=> die Urwesen) bildet.

Aus Ymir und Audhumbla entsteht das Geschlecht der Riesen und aus jenen wiederum die Götter. In diese Genealogie des nordischen Pantheons lässt sich die weitere Entwicklung des Universums hineininterpretieren, in welchem auch zunächst Sterne, Galaxien und Haufen entstehen, bevor der Mensch die Bühne betritt.

Motiv #2: Der Urriese und die Welt der Menschen

Im Mythos töten Odin und seine beiden Brüder Wili und We den Riesen Ymir und formen aus seinen Überresten die Welt der Menschen. Das Ganze ist ein recht blutiges Geschehen, zumal nicht nur –aus Ymirs Blut das Meer gemacht wird, sondern auch fast alle Riesen dabei in selbigem ertrinken, und würde man es heutzutage verfilmen, dürfte man getrost von einem „Splatter“ reden. Unsere Welt und somit auch wir selbst bestehen aus Leichenteilen einer vorhergegangen Generation an Riesen.

Dies hat durchaus eine kosmologische Entsprechung, wenn wir Ymir mit der Urmaterie und seine Nachkommen sowie ihn selbst mit den daraus entstandenen Sternen identifizieren. In den ersten paar Minuten des Kosmos, der sog. primordialen Nukleosynthese, entstanden zunächst nur die leichtesten Elemente, im wesentlichen Wasserstoff und Helium im Verhältnis 3:1 und vernachlässigbare Mengen an Lithium und Beryllium. Alle schwereren Elemente wurden später in stellaren Fusionsprozessen erzeugt, d.h. die allermeisten Elemente (qualitativ nicht quantitativ gesehen), von denen wir in unserer Welt umgeben sind, entstanden erst in den Leibern der Sterne.

Hinzu kommt, dass es in dieser stellaren Nukleosynthese ebenso eine natürliche Schranke wie bei der primordialen gibt, bis zu der Elemente gebildet werden. In der primordialen ist es das Helium, in der stellaren das Eisen. Alle Elemente, die schwerer als Eisen sind, werden nicht in Sternen wie unserer Sonne gebildet, sondern benötigen gewichtigere Verhältnisse. Dies kann einerseits in einem gewissen Maße in Fusionsprozessen in Riesensternen, hauptsächlich aber bei einer Supernova geschehen, in der ein Stern in einer gewaltigen Explosion vernichtet wird.

Schauen wir kurz auf die Elemente, aus denen der Mensch besteht:

ElementGew.-%Atom-%SpurenelementVorkommen
Sauerstoff56,125,5EisenBlutfarbstoff
Kohlenstoff28,09,5IodProteine, Hormone
Wasserstoff9,363,0FluorZahnschmelz
Stickstoff2,01,4ZinkEnzyme
Kalzium1,50,31KupferEnzyme
Chlor1,0ManganEnzyme
Phosphor1,0ChromEnzyme
Kalium0,250,06MolybdänEnzyme
Schwefel0,20,05CobaltVitamin B12
Natrium0,03SelenEnzyme
Magnesium0,01

Hiervon entstand gerade mal der Wasserstoff in der frühen Nukleosynthese, alles andere benötigte den vollständigen Lebenszyklus mindestens eines Sternes. Das bedeutet, unsere Welt und auch wir selbst können nur existieren, weil eine ganze Generation an riesenhaften Sternen gestorben ist. Oder von den Göttern, so wir sie als mythologische Abbilder der Naturgesetze, als anthropomorphen Logos sehen, getötet wurde.

Motiv #3: Surt und der Weltenbrand

Auch unsere Sonne unterliegt einem Lebenszyklus, der mit ihrem „Tod“ enden wird. Zuvor aber wird sie zu einem Roten Riesen anwachsen, und ihre Oberfläche wird dabei der Erdumlaufbahn sehr nahe kommen oder sie vielleicht sogar erreichen. So oder so, auf der Erde werden dann dermaßen hohe Temperaturen herrschen, dass kein Leben in unserem Sinne mehr möglich sein wird. Das Ende der Wert wird in einem Weltenbrand vonstattengehen, so wie es auch die nordische Mythologie erzählt, wenn Surt, der Herrscher Muspelheims, sich aufmachen wird, mit seinem Flammenschwert die Regenbogenbrücke zu durchtrennen und die Welten sowie alles darin zu verbrennen.

Nun bedeutet Surt zwar eigentlich „der Schwarze“ statt „der Rote“, und dass die Sonne zu einem flammenden Roten Riesen wird, dürfte eher dem Umstand geschuldet sein, dass das Adjektiv „riesig“ nun einmal einfach etwas sehr Großes umschreibt, als dass diese Namensgebung aus einer mythologischen Rückbesinnung der Astronomen entstammte, sodass es purer Zufall ist, dass in realiter und zu Ragnarök ein Riese die Welt zerstört. Dennoch, ein hübscher Zufall für diesen Beitrag.

Ein Beitrag von Andreas Mang


Andreas Mang studierte Physik in Dortmund, diplomierte 1994 in nicht-linearer Spektroskopie an Halbleitern und arbeitet jetzt in der freien Wirtschaft mit Computern. Er ist privat im Schützenwesen und der Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung sowie noch ein paar Vereinen aktiv. Autor von „Aufgeklärtes Heidentum – Philosophien, Konzepte, Vorstellungen“ (2012).


Literaturhinweise:

[1] Steven Weinberg; Die ersten drei Minuten; dtv 1980 [nicht mehr ganz aktuell, da viele neuere Erkenntnisse wie die inflationäre Expansion noch nicht betrachtet werden (können), aber äußerst lesenswert; n.b. der nordische Schöpfungsmythos wird dort gleich im ersten Satz des ersten Kapitels erwähnt; wer tiefer einsteigen will: https://spektroskopie.vdsastro.de/files/pdfs/boer2004.pdf


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie

2 Antworten auf „Wie wir Menschen aus Riesen gemacht wurden“

  1. Sehr interessanter Artikel. Ich staune aber immer wieder, wie diese Vorgänge von den Altvorderen – auch in anderen Gegenden der Welt – auf ihre Weise bildhaft wiedergegeben wurden. Wir werden es wohl nicht wirklich nachvollziehen können, aber es erstaunt schon, das bestimmte Entwicklungsprozesse aus den Beobachtungen der Natur zurückgeschlossen wurden.

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