Daphnes Dilemma: Pflanzenmetamorphosen in der griechischen Mythologie

Vor dem Lorbeer stehen und Daphne verehren. Ehre oder Hohn? Der Nymphe mit dem wilden Haar gedenken, die nicht sein durfte, ohne verbraucht zu werden – „Dir verbietet deine Schönheit, das zu sein, was du sein möchtest, und deine Erscheinung widersetzt sich deinem Wunsch“[i]. Erst als Rinde ihre Brust verhüllt, die Füße in der Erde verwurzeln und das Haar sich zu Laub auswächst, ist Daphnes Widerwille gebrochen. Erst als Daphne von Götterhand in eine Pflanze verwandelt ist, gelingt es dem von Liebe und Gier gebeutelten Apollon, sich ihrer zu bemächtigen und das Objekt der Begierde zu verwerten. Die Leier soll sie ihm verzieren und seinen Gesang bezeugen, zum Kranz soll sie werden, um sein Haupt zu bedecken. Zum Symbol verkürzt bleibt nicht mehr viel von Daphnes Wut. Vielmehr rechtfertigt ihre neue Form nun die fortwährende Missachtung ihres einstigen Willens, auf dass sie Apollon und seinen menschlichen Ebenbildern nun für immer dienen mag, Widerspruch fortan unmöglich. Vor dem Lorbeer stehen und Daphne gedenken, Ehre oder Hohn?

Daphne

Daphnes Dilemma steht sinnbildlich für das Schicksal der Pflanze in der modernen westlichen Kulturgeschichte. Man verformte ihre Vielfalt im Sinne der Dienstbarkeit, unterteilte sie in Nutzpflanze und Zierpflanze, Gift, Heilkraut und Wildwuchs. Die Pflanze durfte nähren und schmücken, passiv und schön als ewige Sehnsuchtsmetapher den Bilderrahmen der menschlichen Lebenskunst umranken, war dabei stets gebunden an eine fremde, nicht-pflanzliche Lebensrealität, die ihr als Maßstab jedoch nicht gerecht wird. Von Philosophen der griechischen Antike etabliert, mit Charles de Bovelles „Pyramide der Lebenden Dinge“ in der Renaissance legitimiert und von Aufklärung und Naturwissenschaftlicher Revolution wider Erwarten weitestgehend unangetastet geblieben, wurde die Idee einer hierarchischen Lebensordnung, die in der unangefochtenen Vollkommenheit des Menschen kulminiert, alsbald zum intellektuellen Status Quo.

Anthropozentrismus, ein Denkmuster, das ánthrōpos, den Menschen, in das Zentrum eines Netzwerkes des Lebens auf der Erde stellt, bildet noch heute die Grundlage zahlreicher Diskussionsprozesse, welche den begrenzten Raum der Erde organisieren. Diese Debatte, um eine post-anthropozentrische Perspektive zu erweitern – eine Perspektive die den Menschen weder als Krone der Schöpfung noch als deren unvermeidbares, apokalyptisches Ende begreift – bedarf einer interdisziplinären Kooperation, sowie der Bereitwilligkeit, die eigene Wahrnehmung, um die Perspektive des anders-Sehenden zu ergänzen, ohne den Anspruch zu erheben diese je völlig durchdringen zu können.

Neue Konzepte von Interspezies-Kooperationsgemeinschaften gewinnen im Angesicht der Klimakrise an Relevanz. Wie also soll Verständigung zwischen den Spezies stattfinden, ohne eine gemeinsame Sprache? Wie können wir das umsetzen, was die Ökofeministin Val Plumwood einst als Kernaufgabe der sich im Wandel befindenden Welt bezeichnete: den Menschen als ökologisches Wesen begreifbar zu machen und gleichsam ethische Kategorien für das Nichtmenschliche[ii] zu öffnen?

Die Basis für dieses Unterfangen sollten Geschichten bilden, jene Geschichten aus denen die moderne westliche Welt, wie wir sie heute kennen, geboren wurde. Was verraten diese Kosmogonien über das Selbstverständnis, sowie über das Naturverständnis unserer Ahnen und wie beeinflussen sie noch immer unser Denken? Lassen sich in den überlieferten Erzählungen der griechischen Mythologie Anhaltspunkte für eine Kontinuität zwischen pflanzlichem und menschlichem Leben verorten? Welche Implikationen hätte dies schließlich für die Aktualisierung unseres zeitgemäßen Verständnisses von pflanzlichem Leben im Sinne des Post-Anthropozentrismus; welche Rolle spielen Erkenntnisse aus der ökofeministischen und posthumanistischen Philosophie dabei? Diese Fragen beginnt das vorliegende Essay zu ergründen.

Ich ist ein Anderes

Während wegweisende Philosophen der griechischen Antike wie Platon und Aristoteles die Grundsteine legten für eine bis zum heutigen Tage andauernde hierarchische Dichotomisierung von Kultur und Natur, Körper und Geist, menschlichem und nicht-menschlichem Leben[iii], finden sich in den mythologischen Überlieferungen ihrer Vorväter in der Tat zahlreiche Beispiele für eine Kontinuität zwischen Mensch und Pflanze. Natürlich sind auch diese nicht frei von Anthropozentrismus, denn wie schon Friedrich Nietzsche bemerkte: „die ‘vulgäre Perspektive‘ unseres eigenen Tierkörpers ist reflektiert in fast allem, welchem wir Wert zuschreiben“[iv]. Dennoch erweisen sich zum Beispiel Ovids „Metamorphosen“ als reichhaltiges Quellmaterial für anthropologische Investigationen, die dokumentieren, wie wir uns im Umgang mit dem „Anderen“ selbst offenbaren.

Wo Verwandlungen von Mensch zu Pflanze stattfinden und dem Menschen auch in Pflanzengestalt das Vermögen, seine Sensibilität zum Ausdruck zu bringen, zugeschrieben wird, lässt sich eine ontologische Verbindung beider annehmen. Deshalb sind die Mythen um Myrrha, Baummutter des Adonis, und die Harztränen weinenden Töchter des Helios, genannt Heliaden, relevant für den posthumanistischen Diskurs. Sie dokumentieren die hier schon präsente Annahme, dass bestimmte Lebensmechanismen nicht allein dem Menschen vorbehalten sind. Es wird impliziert, dass sich lediglich die Ausdrucksmittel unterscheiden, nicht aber die Fähigkeit und das Bedürfnis Welterfahrung zu kommunizieren, per se.

Myrrha verführt in einem Akt der Täuschung ihren Vater und empfängt infolgedessen den gemeinsamen Sohn Adonis. Um sie vor der Rache des Vaters zu bewahren, verwandelt Aphrodite Myrrha in einen Myrrhenbaum. Das Kind wächst jedoch weiter im metamorphosierten Bauch der Mutter heran und wird nach neun Monaten, von Schmerzensschreien begleitet, aus ihrem Stamm geboren. Adonis, der Baumgeborene, wird zum lebendigen Zeugnis dessen, was heute im Sinne des Posthumanismus als „Natur-Kultur-Kontinuum“[v] bezeichnet wird, dem Konzept eines fließenden Übergangs von Lebenstechniken und Lebensrealitäten zwischen den Spezies, der eine saubere Spaltung in „Gegebenes“ (Natur) und „Geschaffenes“ (Kultur) verunmöglicht. Myrrha fungiert als ökologisches Bindeglied. Sie verkörpert den „Baum des Lebens“, einen gemeinsamen organischen Ursprung unterschiedlicher Arten des Lebens, die sich durch autopoietische (selbst-organisierende) Kraft von ihm ablösen, jedoch genealogisch mit ihm in Verbindung stehen. Yggdrasil, der Weltenbaum der nordischen Mythologie, ist nur eines von vielen weiteren archaischen Beispielen der Imagination dieser Verknüpfung.

Die weinenden Pappeldamen

Auch die Geschichte der Heliaden verweist auf eine ontologische Verbundenheit zwischen Mensch und Pflanze, weil Charakteristika wie Leidensfähigkeit und Sentimentalität hier einer pflanzlichen Existenz zugeschrieben werden. Die Töchter des Helios bezeugen den tragischen Tod ihres Halbbruders Phaeton, der mit dem Sonnenwagen seines Vaters vom Himmel stürzt. Die Tiefe ihrer Trauer kann keinen Ausdruck finden in göttlichen Tränen ­– so metamorphosieren die Schwestern zu Bäumen. Als Pappeln beweinen sie ihn auf ewig, mit Tränen aus Harz. Erst dieser Ausdruck des Leidens offenbart das Ausmaß der Tortur, die den Heliaden bestimmt ist. Ihre Tränen werden nicht versiegen, keinen Trost werden sie finden, denn das Pflanzendasein endet nicht mit dem Tod, es ist geprägt von kollektiver Kontinuität. Pflanzenneurobiologe Stefano Mancuso vergleicht dieses Prinzip mit dem einer „Schwarmintelligenz“, wie sie in Ameisenkolonien oder Vogelscharen zu beobachten ist. Pflanzen agierten demnach in der Gemeinschaft, nicht als Individuen.[vi] Selbst nach dem „Tod“ eines einzelnen Baumes bleiben dessen Wurzeln durch Pilzwurzeln, mykorrhiza, mit dem gesamten System in Verbindung und werden mit Nährstoffen versorgt. Wenn also die Heliaden noch als Pflanzen in der Lage sind zu leiden, gar auf dieses Leid reduziert sind (scheinbar wird es eben nicht von neuen Erfahrungen überschrieben, denn die Tränen fließen weiter), so setzt ihre Metamorphose dem Phaeton ein fragwürdiges Denkmal – eines welches den eigenen Schmerz auf ewig zu ertragen verdammt ist.

Narcissus im Spiegelkabinett des Anthropozentrismus

Es kann also festgehalten werden, dass auch pflanzengewordene Menschen und Nymphen in der griechischen Mythologie noch über Charakteristika wie seelische Integrität und Selbstbestimmtheit verfügen, welche die antike griechische Philosophie bereits exklusiv dem Menschen zuordnete. Und wie steht es um das Selbstverständnis der Protagonisten?

Der Mythos des Narcissus kann als Warnung davor gelesen werden, die eigene Wahrnehmung zum Generalschlüssel für eine Welt zu erklären, welche von der Gesamtheit des Lebens, zoe[vii], geteilt wird. Narcissus zeigt sich unfähig, das eigene Spiegelbild als Bezeugung seiner Vitalität, seiner Existenz zu verstehen und kann sich nicht mehr von dem abwenden, was er als eine von ihm abgetrennte Entität erlebt. Er missversteht die gebrochene Stimme der Nymphe Echo, die ihn begehrt, als sein Echo, verkennt die spiegelnde Oberfläche des Wassers als bedeutungslosen Schleier, hinter dem ihn vermeintlich jene Perfektion verführt, die er in sich selbst sieht. Wäre Narcissus in der Lage gewesen, die Subjektivität seiner Wahrnehmung anzuerkennen, hätte der Jüngling die Chance gehabt, dem „Anderen“, dem Fremden, zu begegnen und die reale Welt hätte Form angenommen. Das Unvermögen, den Blick von sich selbst abzuwenden, jedoch, nimmt Narcissus die Chance auf eine Zukunft.

Wie endet also die Geschichte des Unglücklichen, wie wird der Narcissus zur Narzisse? Anders als Daphne, Myrrha, und den Heliaden, wird Narcissus der Tod nicht verwehrt. In Ovids Version des Mythos erblüht die Blume erst nachdem ihm die letzte Lebenskraft entschwunden ist. Es handelt sich also weniger um eine Metamorphose (altgriechisch: metamórphōsis, Um- Gestaltung) als um eine Ehrerbietung. Die Idee des jungen Mannes lebt weiter in der Narzisse, nicht aber seine Seele.

Auch im Falle des Hyakinthos lässt sich dies beobachten. Apollons Liebhaber mag durch Zephyrus Eifersucht zu Tode gekommen sein, weil der Gott des Westwindes den von Apollon geworfenen Diskus beschleunigte. Das Erwachsen der Hyazinthe aus seinem Blut, jedoch, markiert das Ende des spartanischen Prinzen. Es scheint fast so, als verbiete sich der Gedanke, dass der dahingeschiedene Mann berührbar bliebe. Dies steht in scharfem Kontrast zu den überlieferten Verwandlungen von Frauen in der griechischen Mythologie. Ganz gleich, ob Gottestochter (die Heliaden), Königstochter (Myrrha) oder Nymphe (Daphne, Minthe und Leuke), den weiblichen Protagonisten von Pflanzenmetamorphosen ist ein augenscheinlich komplizierteres Schicksal vorbehalten.

Der Mythos der bezähmbaren Frau

Schon der bereits erwähnten Geschichte der Myrrha ist eine moralische Komplexität inhärent. Sie mag durch die Gnade der Götter mit ihrer Verwandlung in einen Baum vor dem Tod bewahrt worden sein, der immense Schmerz des Gebärens bleibt Myrrha jedoch nicht erspart. Ihre Rettung ist Strafe zugleich, sie ist verdammt zu leiden, ihrem Leid allerdings keinen angemessenen Ausdruck mehr verleihen zu können. Weiterhin stellt Myrrhe-Myrrha, die sich über den Willen des eigenen Vaters hinweggesetzt hat, als Pflanze keine Gefahr mehr dar für die Integrität der patriarchalischen Machtstruktur des Königshauses, welchem sie entstammt. Hier dient die Pflanzenmetamorphose also, anders als bei Hyakinthos und Narcissus, nicht als Ehrerweisung, sondern als Problemlösung. Myrrha wird als Antagonistin des Guten und Ordnungsgemäßen zum Problem. Die Lösung ist ihre „Renaturierung“ – die Rückbildung der hochmütigen Frau in den Archetypen der nährenden, flexiblen Mutter.

Auch die Nymphen Minthe und Leuke erhalten von Persephone, der Herrin der Unterwelt, eine Lektion in Demut. Beide laufen Gefahr, durch ihre liebliche Erscheinung deren Gatten Hades zu verführen. Persephone weiß dies zu verhindern, indem sie Minthe in die duftende Minze und Leuke in eine Silber-Pappel verwandelt. Die beiden werden jedoch nicht bestraft für etwas, das sie wirklich taten, sondern für etwas, das sie hätten tun können. Das Potenzial der Frau zu verführen, kann also in der griechischen Mythologie ausreichen, um den Zorn der Götter auf sich zu ziehen. „[D]ir verbietet deine Schönheit, das zu sein, was du sein möchtest, und deine Erscheinung widersetzt sich deinem Wunsch“ – für Frau und Pflanze bewahrheitet sich dies hier gleichermaßen. Im Fall der Daphne wird es gar auf die Spitze getrieben. Daphne möchte als jungfräuliche Jägerin der Artemis nacheifern und körperlicher Liebe abschwören, doch Apollon hat andere Pläne und macht die Jägerin zur Gejagten. Daphnes Flussgott-Vater erbarmt sich ihrer schließlich und verwandelt sie in einen Lorbeerbusch, um Apollons Avancen zu vereiteln. Dennoch bleibt sie berührbar.

Handelt es sich um eine Errettung oder wird Daphne für ihre Prüderie bestraft? Die Rezeption des Daphne-Mythos verrät ebenso viel über den Lesenden wie über den Autor und seinen Zeitkontext selbst. Werden Frau und Pflanze als vornehmlich schützenswert, mystisch und ätherisch verstanden, so ist der Akt der Verwandlung für Daphne tatsächlich eine Art Rettung. Sie wird schlicht abstrahiert, ihre körperliche Versehrbarkeit minimiert, da der modulare Körperbau der Pflanze eine nicht-fatale, teilweise Dekonstruktion erlaubt. Wenn die Kompromittierung der Unantastbarkeit des Weiblichen dessen Wertigkeit mindert, so ist die Umwandlung der unantastbaren Frau zur ultimativ antastbaren Pflanze, die über die Fähigkeit der kontinuierlichen Regeneration verfügt, ein Akt der Barmherzigkeit. Wird Daphne jedoch als Individuum gelesen, mit Wünschen, Bedürfnissen, Vorlieben und Handlungsmacht, so schränkt die unfreiwillige Ortsgebundenheit der neuen Pflanzengestalt ihre Möglichkeiten der Selbstverwirklichung potenziell ein. Lorbeer-Daphnes Kommunikationsversuche werden im Mythos selbst nicht weiter dokumentiert, sie verbleibt also vermeintlich in stummer Isolation, kann ihre Wünsche nicht mehr kommunizieren, wohl aber weiterhin materiell angezapft werden.

Hier lässt sich eine Brücke schlagen, sowohl zum Naturverständnis der antiken Griechen als auch zu unserem aktuellen Umgang mit ebendieser. Erkennen wir ihr aktives, kommunikatives und kreatives Vermögen an, so ist die Instrumentalisierung der natürlichen Welt durch den Menschen kaum zu rechtfertigen und der Kooperationsgedanke tritt stattdessen in den Vordergrund. Natürliche Ressourcen und Räume könnten weiterhin für den Menschen nutzbar bleiben, aber bekämen im Gegenzug Zeit sich zu regenerieren (man denke auch an Demeter, die sich mit ihrer Tochter Persephone die Hälfte des Jahres erholt und dabei das Leben auf der Erde gedeihen lässt). Verkürzen wir die Natur allerdings zum Symbol, so bleibt sie passiv und fremdbestimmt; wir können uns ihrer ohne Skrupel bedienen und sie aus unseren moralischen Debatten weitestgehend ausklammern. Dieses Schicksal wird auch Daphne zuteil.

Apollon kann sich an der Lorbeer-Daphne zwar nicht mehr sexuell vergehen, wohl aber über sie bestimmen. Durch das Inkorporieren ihrer Pflanzengestalt in seine Erscheinung (stets geschmückt von einem Lorbeerkranz) und sein Wirken (die mit Lorbeer geschmückte Apollonische Leier verlieh dem Gott besondere Fähigkeiten) überschattet er ihren einstigen Subjektstatus und schreibt sich in ihre Geschichte hinein. Die Figur der Daphne kann nicht mehr gelesen werden, ohne in Bezug zu Apollon zu stehen. Der Lorbeerkranz ist schließlich in erster Linie ein Symbol für ihn und nicht für sie, man gedenkt damit dem Gott in seinem Tempel, nicht aber der jungen Nymphe, der man den Zweig entriss. Der Errettung der Daphne ist somit ein bitterer Beigeschmack inhärent.

Picknick unter dem Weltenbaum

Die Imagination von Pflanzenmetamorphosen im Rahmen der griechischen Mythologie verweist auf ein Weltbild, welches sehr wohl den gemeinsamen Ursprung des Lebens reflektierte, auch wenn es dessen Ausformungen anschließend hierarchisierte. Ganz gleich ob alles „erfüllt von Göttern“[viii] war, wie der vorsokratische Begründer der griechischen Naturphilosophie Thales vermutete, oder den „vier Wurzeln“[ix] des Empedokles entsprang – die Interkonnektivität des Lebens ist schon in den poetischen Erzeugnissen des archaischen Griechenlands dokumentiert.

Mythen, wie die des Baum-geborenen Adonis oder der weinenden Pappel-Heliaden, lassen Rückschlüsse auf die Reflexion einer gewissen Kontinuität zwischen Mensch und Pflanze zu. Dennoch verrät der Kontext von Pflanzenmetamorphosen, insbesondere der weiblichen Protagonistinnen, hier ebenso viel über eine tief verwurzelte patriarchale Angst vor der Kompromittierung des Machtgefüges durch die Selbstbestimmung der Frau. Myrrha verstößt mit ihrer Ablehnung sexueller Konventionen gegen das Tabu des Inzest, was bei den Göttern selbst weniger problematisch zu sein schien, bedenkt man, dass der Olymp von einem inzestuösen Geschwisterpaar, Zeus und Hera, regiert wurde. Daphne verweigert dem umtriebigen Apollon die Romanze, obwohl ihre ebenmäßige Erscheinung ihm etwas zu versprechen schien, was ihre Worte entschieden ablehnten. So nahm man sie ihr schlichtweg. Minthes und Leukes einziges Vergehen war es, im Glanze der Jugend Hades Weg zu kreuzen. So nahm man ihnen auch diesen.

Das Bedürfnis nach Bestimmungshoheit über die Natur, ebenso wie über das Weibliche, verkennt das schöpferische, kreative und subversive Potenzial ebendieser. Wenn Pflanzen und Frauen zu einem Nährboden für das Florieren des handlungsfähigen, unantastbaren Mannes verkürzt werden, fehlen ihre Stimmen in der Debatte um die Rekalibrierung einer sich im Wandel befinden Welt. Die Hierarchisierung des Lebens, welche schon in den analysierten Mythen anklingt, spiegelt unzureichend die Realität wider. Wie neue Erkenntnisse, u.a. im Bereich der Pflanzenintelligenz[x] (PI) und des Posthumanismus[xi] zeigen, ist das Netzwerk des Lebens vielmehr symbiotisch organisiert und auf unzählige Arten an den spezifischen Bedürfniskontext der jeweiligen Akteure angepasst. Viel spannender als die Suche nach immer neuen Modi von Dominanz und Unterwerfung wäre also die Frage, wie neue Konzepte von Kontinuität und Interspezies-Kooperation für aktuelle Debatten um Klimakrise, Globalisierung und Geschlechtergerechtigkeit nutzbar gemacht werden könnten.

Ein Ansatz des Ökofeminismus ist die Analyse der in der Gesellschaft vorherrschenden Machtstrukturen und die Identifikation jener, die von der Ausgrenzung und Ausnutzung des „Anderen“ profitieren, sowie der Mittel, welcher sie sich zu diesem Zweck bedienen[xii]. Mit dem „Anderen“ ist sowohl das „andere Geschlecht“ im Sinne Simone de Beauvoirs – also das Weibliche – als auch das andere, nicht-menschliche Leben gemeint. Auch auf andere marginalisierte Gruppen wie z.B. nicht-weiße Personen, Menschen mit Behinderung, und im archaischen griechischen Kontext auch Sklaven, kann dies allerdings zutreffen. Deshalb sollten in der Debatte um die Dekonstruktion reduktiver Konzepte des nicht-menschlichen, nicht-männlichen Daseins die Erkenntnisse der feministischen Theorie berücksichtigt werden.

Daphne zu ehren, heißt auch, sich in ihr zu erkennen, als singuläre Entität und als Teil eines symbiotischen Ganzen zugleich. So können neue Entwürfe ökologischer Gemeinschaften entstehen, die den Herausforderungen unserer Zeit kreativ, subversiv und nachhaltig zu begegnen vermögen. Dafür muss ánthrōpos sich nur noch etwas in Bescheidenheit üben.

Ein Beitrag von Juliane Rohrwacher


Bilder von Friederike Jäger http://www.friederikejaeger.com/


Juliane Rohrwacher studierte Anglistik und Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Seit 2020 arbeitet sie an ihrer Dissertation zur Inszenierung der Natur in den Künsten. Sie ist in Leipzig geboren und lebt heute in Berlin, wo sie als freie Autorin tätig ist und Theater- und Musikangebote für Neuköllner Kinder und Jugendliche entwickelt.


Literaturhinweise:

Braidotti, Rosi. The Posthuman. Cambridge [u.a.]: Polity Press, 2013. Print.

Braidotti, Rosi. Posthuman Knowledge. Cambridge: Polity Press, 2019. Print.

Hall, Matthew. Plants as Persons: A Philosophical Botany. Albany: Suny Press, 2011. Print.

Mancuso, Stefano; Viola, Alessandra. Brilliant Green: The Suprising History and Science of Plant Intelligence. Washington, D.C.: Island Press, 2015. iBooks.

Mancuso, Stefano. The Revolutionary Genius of Plants: A New Understanding of Plant Intelligence and Behavior. New York: Simon & Schuster, 2018. Print.

Merchant, Carolyn. Reinventing Eden: The Fate of Nature in Western Culture. New York: Routledge, 2003.

Miller, Elaine P. The Vegetative Soul. New York: State University of New York Press, 2002. Print.

Ov. Met. I, 485-490.

Plumwood, Val. Feminism and the Mastery of Nature. London: Routledge, 1993. Print.

Plumwood, Val. “Animals and Ecology. Towards a better integration.”, in: The Eye of the Crocodile. Canberra: ANU Press, 2012. Print.


Anmerkungen:

[i] Ovid, Metamorphosen Buch eins, Verse 485-490.

[ii] “The theory I advocate aims to disrupt this deep historical dualism by resituating humans in ecological terms at the same time as it resituates non-humans in ethical and cultural terms. It affirms an ecological universe of mutual use, and sees humans and animals as mutually available for respectful use in conditions of equality.” Plumwood (2012), S. 78.

[iii] Vgl. Plumwood (1993), S. 81: „Platonic philosophy is organised around the hierarchical dualism of the sphere of reason over the sphere of nature, creating a fault line which runs through virtually every topic discussed, love, beauty, knowledge, art, education, ontology…. In each of these cases the lower side is that associated with nature, the body and the realm of becoming, as well as of the feminine, and the higher with the realm of reason.”

[iv] Vgl. Elaine P. Miller (2002), S. 3, übersetzt von J.R.

[v] Vgl. Braidotti (2013), S. 2-3: “What does this nature–culture continuum amount to? It marks a scientific paradigm that takes its distance from the social constructivist approach, which has enjoyed widespread consensus. This approach posits a categorical distinction between the given (nature) and the constructed (culture). […] [It] rejects dualism, especially the opposition nature–culture and stresses instead the self-organizing (or auto-poietic) force of living matter.”

[vi] Vgl. Mancuso (2015), S. 4-5: “ [Plants] manifest a kind of swarm intelligence that enables them to behave not as individuals but as a multitude–the same behavior seen in an ant colony, a shoal of fish, or a flock of birds.”

[vii]Zoe as the dynamic, self- organizing structure of life itself […] stands for generative vitality. It is the transversal force that cuts across and reconnects previously segregated species, categories and domains.“ Rosi Braidotti (2013), S.60.

[viii] Vgl. Matthew Hall (2011), S. 17.

[ix] „All things are fitted together and constructed out of these [four roots, earth, fire, water, earth], and by means of them they think and feel pleasure and pain.” Empedokles, zitiert nach Hall (2011), S. 18.

[x] Vgl. Stefano Mancuso: “The Revolutionary Genius of Plants. A New Understanding of Plant Intelligence and Behavior.” (2015).

[xi] Vgl. Rosi Braidotti: „Posthuman Knowledge“ (2019).

[xii] Eine umfassende Analyse des Dualismus der Beherrschung findet sich in Val Plumwoods „Feminism and the Mastery of Nature“ (1993). Auch Carolyn Merchants „Reinventing Eden: The Fate of Nature in Western Culture” (2003) ist diesbezüglich informative Lektüre.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

2 Antworten auf „Daphnes Dilemma: Pflanzenmetamorphosen in der griechischen Mythologie“

  1. Tatsächlich stellt sich die Frage, wie diese Mythen zu deuten sind. Die Metamorphosen des Ovid sind weltberühmt. Was exakt ist mit diesen Verwandlungen gemeint? Ich selber schreibe über diese Mythen, diese zu interpretieren, ist extrem schwierig. Sicher ist, dass der Umfang der Mythen viel zu groß ist, um zu behaupten, dass es keine Bedeutung hat.

    https://mythologie.forumieren.de/t263-daphne-mythologie-es-handelt-sich-um-eine-baumnymphe-das-wort-daphne-wird-mit-lorbeer-in-die-deutsche-sprache-ubersetzt

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