Die Magie der blauen Blume: Novalis – Ein Essay Teil 1

Friedrich von Hardenberg war ein zwanzigjähriger liebeshungriger Student, als der greise Giacomo Casanova auf Schloss Dux seine Memoiren schrieb. Novalis nannte er sich erst in dem Jahr, in dem der legendäre Liebhaber starb. Der Dichter Novalis war zwar noch jung, aber kaum noch von dieser Welt, als er ein großer Liebhaber wurde. Sein Werk eröffnet eine Kunstrichtung, die bald den Namen Romantik auf sich zieht und in Abwandlungen fast ein Jahrhundert lang in der Literatur, der Malerei und der Musik weiterwirkt. Novalis galt Hermann Hesse und anderen als der eigentliche Romantiker. Seine „blaue Blume“ ist ein Treibhausgewächs der Kunst und wurde zu einem vielzitierten, wenig verstandenen, oberflächlich bis schwärmerisch missdeuteten Symbol.

© Dr. Volker Ebersbach

Wer das Romantische des Pathologischen verdächtigt, beruft sich gern auf Goethe. Der Weimarer „Dichterfürst“ blies die vielbemühte Aburteilung einer Dichtergeneration auf einer Kutschfahrt nach Berka am 24. September 1827 Eckermann ins Ohr: „Die Poeten schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazarett. Alle sprechen sie von dem Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jenseits.“ Ein seltsamer Besuch hatte ihn verstimmt. Wilhelm Müller, dessen Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“ Franz Schuberts Vertonungen vor dem Vergessen bewahrt haben, hatte wirklich als Kranker am Frauenplan vorgesprochen, reiste in seine Geburtsstadt Dessau, legte sich ins Bett und starb innerhalb weniger Tage mit dreiunddreißig Jahren. Viele Romantiker waren schon in jungen Jahren wirklich todkrank. Das gibt den Worten Goethes einen ungewollt zynischen Klang. Doch drei Jahrzehnte zuvor waren die ersten Jenaer Romantiker, unter denen Novalis die besten Gaben hatte, seines eigenen Geistes trotzige Kinder gewesen. Blieb ihm das verborgen oder ärgerte es ihn? Hatte er vergessen, wie er, noch nicht zwanzig, nach einem Blutsturz jäh sein Studium abbrechen und Leipzig verlassen musste?

 Die Tuberkulose gab es, wie Skelettfunde gezeigt haben, schon in der Jungsteinzeit. Der griechische Arzt Hippokrates kannte sie. Mitunter verheilt sie: Sie kapselt sich ab und „verkalkt“. Goethes Blutsturz kann andere Ursachen gehabt haben. Doch bevor  Robert Koch 1882 mit der Entdeckung des Tuberkelbazillus auch die vielen Möglichkeiten einer Ansteckung erkannte, lauerte die Krankheit buchstäblich jedem schon im Kindesalter auf. Sie sog die Armen aus und trieb die Wohlhabenden auf einen „Zauberberg“, wie Thomas Mann ihn in seinem gleichnamigen Roman beschrieben hat. Bis zur Entwicklung des nach seinen Züchtern benannten „Bacterium Calmette-Guérin“, des BCG-Tests und der darauf basierenden Schutzimpfung blieb TBC eine „Volksseuche“. Ihre „Tuberkeln“ oder auch „Knötchen“, die Entzündungsherde um Kolonien giftabsondernder Bakterien, die durch die Atemwege oder den Darm in den Körper gelangen und über die Blutbahn fast jedes Organ befallen können, besonders die Lunge, aber auch Bauchfell, Darm und Leber, Hirn und Knochen, machten tatsächlich ganze Schichten der Gesellschaft zu einem „Lazarett“. Schwäche, Nachtschweiß und Appetitlosigkeit kündigten die Erkrankung an. Das fahle Gespenst der „Schwindsucht“ verwandelte abmagernde und hohlwangige Kranke in sein Ebenbild. Es röchelte in den Kavernen, den Abszesshöhlen der Lungen, bis hellrotes und schaumiges Blut den Zerfall der Lungenblutgefäße, den „Mottenfraß“ verriet. Es stand am Bett manches „Frühvollendeten“. Es schrieb Biographien und ganze Familiengeschichten und mit fieberwarmer Hand auch Liebesgeschichten.

Mit dem Dichternamen „Novalis“ nennt sich Friedrich von Hardenberg im Februar 1798, drei Jahre vor seinem Tod, einen, der neugerodetes Land beackert. In einem Brief an Friedrich Schlegel, in dem er dem Freund seine reifsten Arbeiten für den Abdruck in der Zeitschrift „Athenäum“ anbietet, benutzt er ihn zum ersten Mal. Noch kaum ein Jahr liegt der Tod seiner Verlobten zurück. Ein anderes Verlöbnis kommt noch am Ende des Jahres zustande. Friedrich von Hardenberg hat, bevor er Sophie von Kühn verlor, seine Liebe in anakreontischer Manier noch weltzugewandt und irdisch verstanden: „Nein, Süßers als die Liebe / Empfand kein Sterblicher…“ Und der Reiz weißer Mädchenhaut unter einem Ahornbaum war der, dass „der Schatten sich mit Alabaster gattet.“

Der Verlust der Geliebten setzt in seinem Denken und Fühlen eine allmähliche und immer feinere Sublimation der Liebe in Gang. 1798 sieht er noch in körperlicher Lust ihren Ausgangsort: „Es gibt nur einen Tempel in der Welt, und das ist der menschliche Körper. Nichts ist heiliger als diese hohe Gestalt.“ Die Wortwahl allerdings versucht der Liebe eine Brücke ins Transzendentale zu bauen. Die Krankheit, die anfangs wie ein physiologisches Stimulans der Liebe wirkt, führt nun zu ihrer religiös gefärbten Entsinnlichung. Aus dem dichtenden, für schöne Mädchen und Frauen leicht entflammbaren Jüngling Friedrich von Hardenberg wird der überweltliche Erotiker Novalis, der in der Dresdner Galerie vor der Sixtinischen Madonna von Raffael enthusiastisch  ausruft: „Die Liebe ist der Endzweck der Weltgeschichte – das Amen des Universums.“

Brautnacht, Ehe und Nachkommenschaft

Hermann Hesse schrieb über den Dichter Novalis dies: „Es gibt gewisse stille Kinder mit großen, vergeistigten Augen, deren Blick schwer zu ertragen ist. Man prophezeit ihnen kein langes Leben und betrachtet sie wie vornehme Fremdlinge mit ebensoviel Ehrfurcht als Mitleid.“ Auf dieses schöne Bild hat das Wissen um den frühen Tod des Dichters und die Kenntnis seiner letzten Werke einen vergeistigenden, idealisierenden Schleier gelegt. Das einzige Porträt des Lebenden, von Franz Gareis vermutlich, zeigt einen Jüngling mit breiter, lichter Stirn, langem dunkelblonden Haar, vollen sinnlichen Lippen und braunen mandelförmigen Mädchenaugen. Sie scheinen so respektvoll wie andersmeinend vor dem Vater zurückzuweichen: Heinrich Ulrich Erasmus von Hardenberg. Ihn hat Anton Graff als vitalen, sanguinischen Glatzkopf mit vollem Gesicht und abschätzigem Blick gemalt. Die Hand scheint selbstgerecht etwas anzuordnen, wogegen er keine Widerrede duldet. Der Sohn erlebt ihn, der ihm mehr „Freund als strenger Vater zu sein“ versprochen hat, nur mit „Schüchternheit und Zurückhaltung“. Sein Adelsdünkel macht ihn zu einem von denen, gegen die das Volk von Paris Recht haben könnte, wenn es die Bastille stürmt und die Menschenrechte verkündet. Aber nur wenig später scheinen die Revolutionsgräuel und die Guillotine alle Vorurteile dieses adelsstolzen Vaters zu bestätigen.

An ihn wendet sich am 9. Februar 1793 der in Wittenberg Jura studierende Sohn mit dem Wunsch, als Soldat in eine der Interventionsarmeen einzutreten. Der Grund ist, wie er beichtet, seine heiße Liebe zu einem nicht standesgemäßen Mädchen: „Die erste Zeit ging noch alles recht gut; aber diese Leidenschaft wuchs so schnell empor, daß sie in kurzer Zeit sich meiner ganz bemächtigt hatte. Mich verließ die Kraft zu widerstehen. Ich gab mich ganz hin. Überdem wars die erste Leidenschaft meines Lebens.“ Er gesteht seinem Vater „Pausen gänzlicher Kopfabwesenheit“ und hofft auf das Verständnis eines Mannes, dessen ihm verwandtes, „äußerst empfindliches und heftiges Temperament“ er gut kennt. „Vierzehn Tage habe ich fast nicht ordentlich geschlafen, und selbst diesen kurzen Schlaf machten mir die lebhaftesten Träume peinlich.“ Mit so großer Offenheit wendet er sich an einen Menschen, dessen Urteil über Liebesaffären er schon als Student in Leipzig hat fürchten lernen müssen. In masochistisch-ironisch überzogenem Gehorsam erwartet der Zwanzigjährige von der Kaserne das, womit der Vater so wenig Erfolg hatte: „Ich muss noch erzogen werden.“

Angefangen hat es in einem Häuschen mit Erker, das er mit einem anderen Adligen besucht. Er zeichnet es als eine Vignette zum Text eines vertraulichen Briefes an Erasmus, seinen jüngeren Bruder: „In diesem Häuschen eine Treppe hoch in dem Erker wohnen ein paar Schwestern. Das Schicksal hat gewollt, daß wir zum Glück uns jeder in eine andere verliebt haben. So kommen wir einander nicht ins Gehege und bestehen brüderlich alle Affenteuer.“ Die beiden Kommilitonen gehen jeden Abend dorthin und bleiben an die drei Stunden bei diesen Damen. „Sie haben nur eine alte Mutter – eine herzensgute Frau.“ Natürlich sind sie „hübsch, wunderschön“, aber sie sind auch „nichts als blanke, bare Bürgermädchen“. Es ist für die jungen „Freiherren“ eine eigentlich unschickliche „Fahrt in die Bürgerwelt“. Die Standesschranken, in Frankreich fallen sie schon, erscheinen ihm sinnlos: Die beiden Schönen haben „hundertmal mehr Verstand als die Vornehmsten“.

Aber die jungen adligen Liebhaber wussten, wie wenig das bei ernsteren Absichten helfen konnte. Ein Jahr zuvor hatte der frischgewonnene Studienfreund Friedrich Schlegel in Leipzig mit ihm ein ähnliches Quartett angebahnt: Eine gewisse Leonore Limburger, Tochter eines Kaufmanns und Textilfabrikanten, erhörte, wiewohl älter als er und sogar verheiratet, den jungen Schlegel und ließ sich Laura nennen. Ihrer erst siebzehnjährigen Schwester Juliane, auch Julie oder Julchen genannt, gefielen die Werbungen des adligen Kommilitonen Friedrich von Hardenberg. Die Sache wurde so ernst, dass die Eltern davon erfuhren. Sie machten ihm klar, dass eine Bürgerliche für ihn nicht in Frage käme. Trotzig hielt der Student dennoch um Julianes Hand an. Der Vater erschien. Der Sohn erbte von ihm Rang und Titel eines „Freiherrn“. Man mag sich eine Szene denken wie den Auftritt des „Präsidenten“ in Schillers „Kabale und Liebe“. Ein Aufbegehren war zwecklos, denn die Umworbene fiel ihrem Liebhaber in den Rücken: Sie hatte für das Aussichtslose dieser Affäre ein feineres Gefühl, beantwortete sein Werben mit Nein und zog sich zurück. Wie weit man miteinander gegangen war, welche „Affenteuer“ es noch gab, ist nur zu ahnen. Friedrich Schlegel erwähnt in einem Brief an seinen Bruder August Wilhelm aus diesen Tagen „eine gewisse Keuschheit“ seines Freundes, „die ihren Grund in der Seele hat, nicht in Unerfahrenheit“.

Aus dem Soldatenleben wird nichts. Der Bruder Erasmus, dem Friedrich so heftig davon abgeraten hat, dient bereits unter der Fahne des Herzogs von Sachsen-Weimar, und eine zweite standesgemäße Ausrüstung als Fahnenjunker würde für die Familie zu teuer. Während der Frühjahrsferien unternimmt der Jurastudent eine Wanderung zu Fuß durch die anhaltischen Fürstentümer in den Harz. Er hat, wie sein Tagebuch verrät, noch immer beinahe neidische Blicke für „schlanke, gut dressierte und auf preußischem Fuß sehr nett montierte Soldaten“. Aber auch die holde Weiblichkeit nimmt er in Augenschein, und auf dem Markt in Bernburg fallen ihm „unter dem jungen Frauenzimmer“, dem er begegnet, „viele edle Profile auf“. Nach seiner Rückkehr vertieft er sich nochmals in das „Studium kursächsischer Gesetze“ und beteuert dem Vater seine Sparsamkeit: „Abends eß ich Butter und Brot und früh eß ich Obst.“ Das juristische Staatsexamen legt er wenig später „mit der ersten Zensur“ ab.

Seiner Natur nach ist er weder zum Juristen noch zum Soldaten geschaffen. Denn er dichtet. Den Vorbildern Horaz und Anakreon folgend, wählt er zum Gegenstand seiner Verse vorzugsweise die Liebe: „Die beste Muse in Cythere.“ Die Liebesgöttin Aphrodite steht mit ihrem Beinamen seinen tändelnden Strophen zur Seite. „Seitdem sie mir Luisen schenkte, / Entschlüpft mein Reim so süß und leicht, / Wie von der Rose, die ich pflückte, / Ein Schmetterling entfleucht.“ In den Wellen der Saale nahe Weißenfels schwimmend, vermutet er lüstern: „Vielleicht daß sich hier auch ein Mädchen gekühlt.“ Philosophische Systeme bedeuten ihm wenig: „Ein Kuß“ überzeugt ihn mehr „von einer besten Welt“ als Leibniz. Während seines ersten Studienjahres in Jena 1790/91 fand er ein schwärmerisch bewunderndes Verhältnis zu Friedrich Schiller. Er zögerte nicht, dem großen Vorbild in der harschen Kritik an Gottfried August Bürger beizupflichten, obwohl er als Schüler auch ihn verehrt hatte. Auf die Nachricht hin, der Dichter, dem er in Versen huldigte, wolle in dem nur eine Meile von Weißenfels entfernten Langendorf seine Schwester besuchen, bat er ihn brieflich um eine Gelegenheit, ihm dort seine Aufwartung machen zu dürfen. Er sucht, vielleicht ohne es selbst zu wissen, einen Ersatzvater. Auch ein Brief an den Jenaer Professor Reinhold scheint das zu verraten: Schiller, den er mit panegyrischen Worten feiert, biete ihm „vom himmlischen Port der Vaterwelt die Hände, um die gesunkene Psyche heraufzuheben“. Sein Wunsch, einer echten Autorität zu folgen, prophezeit – durchaus nicht unzutreffend -, Schiller werde „der Erzieher des künftigen Jahrhunderts“.

Ein dunkler Unterton schleicht früh in seine Anakreontik. Dieses Genre ist ohnehin aus der Mode gekommen. Auf dem Schloss Goseck, wo er, vom Besitzer eingeladen, im Oktober 1791, vor dem Semesterbeginn in Leipzig, ein paar Tage verbringt, schreibt der Student Hardenberg an Schiller über sein ihm selbst merkwürdiges Faible für den Herbst: „Ich freue mich mit dem letzten Lächeln des scheidenden Lebens der Natur und mit dem milden Sonnenblick des erkaltenden Himmels. Die fruchtbare Reife beginnt in Verwesung überzugehen, und mir ist der Anblick der langsam hinsterbenden Natur beinah reicher und größer als ihr Aufblühen und Lebendigwerden im Frühling.“

Es ist der Unterton der Klostermauern und Ritterburgen. Das Gut Oberwiederstedt an der Wipper nahe Hettstedt, in dem Georg Friedrich Philipp von Hardenberg am 2. Mai 1772 geboren wurde, war der säkularisierte Grundbesitz eines Klosters der Klarissinnen, und das Stadthaus Am Kloster Nr. 94 in Weißenfels, in das der Vater 1785, berufen zum kursächsischen Direktor der Salinen Artern, Dürrenberg und Kösen, mit seiner Frau und sechs Kindern zog, war aus einem Kloster desselben Ordens hervorgegangen. Bis zum Wiener Kongress 1815, auf dem Sachsen, das „Königreich“ von Napoleons Gnaden, große Teile seines Gebietes an Preußen abtreten musste, gehörten die Grafschaft Mansfeld, in der das Gut Oberwiederstedt liegt, auch Weißenfels und Eisleben, wo Hardenberg das Luthergymnasium besuchte, und Wittenberg, wo er sein Studium beendete, wie Leipzig zum Kurfürstentum Sachsen. Gottlieb Friedrich von Hardenberg, ein Onkel des Dichters, des Vaters älterer Bruder, gehörte zwar zu den genießerisch lebensvollen Rokokonaturen, aber mit einem ehrwürdigen Rittersaal machte das Schloss Lucklum bei Helmstedt, das der Landkomtur des Deutschritterordens bewohnte, auf den Ferienjungen 1783 großen Eindruck. Die Ruine der Burg Hardenberg bei Göttingen gab ihm 1796 eine Vorstellung von dem Alter dieses niedersächsischen Adelsgeschlechts, dem auch der preußische Staatsminister Karl August Fürst von Hardenberg entstammte, der späterhin durch seine Reformbestrebungen berühmt wurde. Das Familiengut Schlöben war dem Studenten von Jena aus zu Fuß erreichbar. Als der älteste Sohn sollte er diesen Besitz, auf dem einige seiner Geschwister geboren worden waren, als Erbteil erhalten, und er hoffte, dort einst auch mit Frau und Kindern zu leben.

Doch Standesrücksichten engten die Aussichten dafür in der Wahl seiner Braut von vornherein ein. Auch die Erfahrungen des jungen Liebhabers, der an Bürgermädchen sein Herz verliert, mit diesem erotischen Verzicht gehören zu dem dunklen Unterton in seinen frühen Äußerungen. Es ist der bedrohliche Schatten eines Vaters, der zum „Poltern“ neigt. An der Schwelle zur Selbständigkeit bescheinigt ihm der Sohn: „Du hast ein Mißtrauen gegen Deine Kinder, das sie nicht ganz verdienen.“ Das lange Warten auf eine passende Anstellung genießt der Absolvent Friedrich dennoch in der Art der jugendlichen Adligen: Er geht zum Tanz, zum Billard, zum Wein. „Fritzchen Flatterer“ muss er sich von seinem Bruder Erasmus bespötteln lassen; Carl, der andere jüngere Bruder, berichtet jemandem in einem Brief: „Wir spielen die Herren von Weißenfels und sind alle beide in ein Mädchen verliebt, und, o Wunder! vertragen uns dabei sehr gut.“ Es ist kein Wunder, denn es kann nichts Ernstes daraus werden, denn die „jungen Rehe, die daselbst unter Rosen weiden“, sind wieder nicht standesgemäß, und keiner von beiden braucht sich festzulegen. Man tanzt miteinander den Walzer, der den Philistern der Kleinstadt wegen der ständigen Nähe der herumwirbelnden, in keinen „Figuren“ wechselnden Paare noch als allzu intim gilt. „Drückt fester das Mädchen ans klopfende Herz“, fordert ein Vers des dichtenden Jünglings, nicht ohne die resignierende Einschränkung: „… so lange es noch geht.“ Die irdische Vergänglichkeit und die väterlich-ständische Einschränkung erotischer Wünsche laufen ineinander.

Unauffällig bleibt noch die mildere Mutter Auguste Bernhardine, geborene von Bölzig. Ihre Stimme ist es, die später in dem Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ den Träumenden aus einem süßen Staunen über das Mädchengesicht im Kelch der blauen Blume reißt, ihre Umarmung hilft ihm in den Morgen der „elterlichen Stube“, und es ist bezeichnenderweise der Vater, der ihm gleich darauf mit nüchternen Vorhaltungen alles Träumen verweist. Friedrich hat seiner Mutter, die ihm als die zweite Frau des frühzeitig verwitweten Vaters im Alter viel näher steht, schon in einem Brief aus der Studienzeit in Wittenberg liebevoll beteuert, dass er ein guter Ehemann und Familienvater werden will. Den Charakter seiner künftigen Ehefrau beschreibt er leichthin unter dem Schein eines anakreontischen Spiels in einem der frühesten Gedichte: Verstand solle sie haben, Witz und Herzensgüte, „froh und heiter“ sein wie ein Morgentraum im Mai“, kein „Püppchen“ mit den „Grillen“ der „Mode“ im Kopf, sondern kinderlieb und häuslich. Dass dem Bild eine „Laura“ bereits entspreche, ist so unernst wie der erfundene Name gemeint. Er will sein Herz auf gar keinen Fall nur von den profanen erotischen Gelüsten einfangen lassen. „Mit der zarten Blüte meiner Neigung ist es vorbei, sobald ich gemeine Gunstbezeigungen erhalte“, wird Erasmus bald schon den Bruder mit verhaltener Mahnung zitieren, um ihn an die eigenen Vorsätze zu erinnern. „Die Liebe zur sittlichen Grazie, zur moralischen Schönheit“, hat er selbst als Neunzehnjähriger seinen Ersatzvater Schiller wissen lassen, „gibt unsern Empfindungen, unsern Gefühlen einen Schwung, dessen Schnellkraft auch gegen verdoppelte Hindernisse und die dicke Atmosphäre der Sinnlichkeit aushält.“

Zwischen Studium und Amt erlebt der jugendliche Liebhaber in Weißenfels trotz der flatterhaften Liebeleien ein Vorgefühl, das er „Tage des Brautstandes“ nennt. Friedrich Schlegel erfährt in einem Brief vom 1. August 1794: „Ich sehne mich nach Brautnacht, Ehe und Nachkommenschaft.“ Dass dies durchaus auch in übertragenem Sinn gemeint sei, als ein geistiges Schwanken zwischen dem „alten aristokratischen Glauben“ und der „Mode der Demokratie“, verrät eine Vermengung des emotionalen Geständnisses mit politischem Vokabular. Die Vermittlungsversuche des einflussreichen preußischen Verwandten in den preußischen Staatsdienst haben sich zu lange hingezogen. Der Absolvent muss mit dem „Thüringer Kreis“ Kursachsens vorliebnehmen. „In der alten räuchrigen Amtsstube“ zu Tennstedt aber, wohin es ihn im November 1794 verschlagen hat, erscheint dem Aktuarius Friedrich von Hardenberg „ein wahres Pandämonium …, in welchem ihn unaufhörlich der Wollustteufel schikaniert und mit voluptuösen Bildern vor ihm her auf dem Papier tanzt.“ Hinter allen vergeistigenden Camouflagen ist die Sehnsucht nach der „Brautnacht“ eine ganz natürliche, geschlechtliche.

Eine Viertelstunde …

In diese irdischen und sinnlichen Hoffnungen des jungen Freiherrn auf eine erfüllte Liebe mischt sich, seit er kein Studentenleben mehr führt, immer nachdrücklicher die Rücksicht auf  Standesschranken. „Mir gefällts doch hier unter dieser Sonne“, hat er im März 1793 aus Weißenfels noch in der Laune des Ungebundenen an Friedrich Schlegel geschrieben. In den „ohngefähr drei Stunden des Tages“, die er als Gerichtsangestellter in Tennstedt frei hat, versucht er Wissenslücken zu schließen und sein klares Denken zu üben, und am Anfang der Beschäftigungen , die er dem Bruder Erasmus aufzählt, stehen Zukunftspläne und „dringende Einleitungsstudien, auf mein ganzes künftiges Leben“. Er lebt also voller Erwartungen.

Am 17. November begleitet er seinen Dienstherrn, den Kreisamtmann Coelestin August Just, auf einem seiner Routinebesuche zum Gutsschloss Grüningen. Da tritt ihm im Kreis ihrer Geschwister mit großen Augen Sophie von Kühn entgegen. Sie ist blutjung. Genau vor acht Monaten, am 17. März 1794, ist sie zwölf Jahre alt geworden. „Söphchen“ oder „Söphe“ ist die Tochter einer verwitweten Landadligen, die sich in zweiter Ehe mit dem kursächsischen Leutnant und schwarzburg-rudolstädtischen Hauptmann Johann Rudolf von Rockenthien verheiratet hat. Das Mädchen ist eine besonders früh entwickelte, aufgeweckte Schönheit, und das Herz des zweiundzwanzigjährigen Freiherrn ist schon seit einiger Zeit entflammbar wie Zunder. Im ländlichen Einerlei dieses Spätherbstes wirkt seine Erscheinung anziehend, und ein Funke, der in den naiv koketten Augen des zarten Edelfräuleins aufflackert, weckt darin auf der Stelle eine hell auflodernde Flamme. Eine Viertelstunde habe sein Leben entschieden, schreibt er seinem Bruder Erasmus. Es wird in seiner Erinnerung eine Viertelstunde berückender Verheißung: Er ist die erste Liebe einer der schönsten Frauen, die er je gesehen hat. Und sie ist standesgemäß! Er weiß: Das ist die Sternstunde, auf die er hingelebt hat.

Der Reiz Sophie von Kühns ist durchaus keine Projektion des bräutlich gestimmten jungen Mannes. Vielleicht hat die unerkannt aufglimmende Krankheit ihre so sonderbar frühe erotische Ausstrahlung schon verstärkt. Sie lag vor allem in ihrem Blick. Erasmus erstaunt zunächst, dass sich sein Bruder so überstürzt und so fest binden möchte. „Wie kannst du in einer Viertelstunde ein Mädchen durchschauen?“ fragt er in dem Brief, mit dem er die Eröffnung beantwortet. Er appelliert an des Bruders „Kenntnis des weiblichen Herzens“, und er warnt vor der Unbeständigkeit gerade der Schönen. Doch nach einer ersten Begegnung mit dem Mädchen behält er einen „unvergleichlichen, guten, großen, lieben Blick“ in seiner Erinnerung, und das „himmlische Geschöpf mit dem großen, alles anziehenden, alle Welt in sich fassenden Blicke“ macht ihm verständlich, dass Friedrich in Grüningen „Anfang und Ende der Welt“ beisammen sah. Auch Bruder Carl hofft, auf dem Schloss Grüningen von einer unglücklichen Liebe erlöst zu werden und träumt davon, mit Sophies Schwestern könnten sich gleich „drei Paare“ finden.

„Sie sieht so fromm, so still aus“, fand die Mutter der Brüder dann, „als wäre sie nicht auf dieser Welt an ihrem Platze.“ Das Bildnis, mit dem Hermann Hesse einen Essay beginnt, passt noch besser auf Sophie. Der Glanz ihrer Augen, ihre Grazie und ihre Anmut müssen bald schon das „überirdische Wesen“ verraten haben, von dem der Dichterfreund Ludwig Tieck nach dem Tod des romantischen Liebespaares spricht.

Noch ist Sophie ein munteres, lebenslustiges Kind, das die Besuche dieses frühen Verehrers als schmeichelhafte Abwechslung genießt. Der Stiefvater von Rockenthien schreibt ihm: „Söphgen tanzt, springt und singt, fährt nach Greussen zum Jahrmarkt, frißt wie ein Holzhauer, schläft wie ein Ratz, geht gerade wie eine Tanne, ist munter, lustig und vergnügt.“ In einer mundartlich willkürlichen Orthographie berichtet Sophies wortkarges Tagebuch: „Heute war Hartenberch bey uns es viel wieder gar nichts vor.“ Es verzeichnet, dass, auch wenn sie beide allein waren, nichts vorfiel; es bricht aber bald ab. Außer großen Augen zeigt ihr Miniaturprofil, das den Verlobungsring zieren wird, auch eine recht kecke Nasenspitze.

Man siezt einander, wie es sich unter Adligen gehört, aber die kühle Anrede ist nur eine Formsache. Die Stimmen sprechen eine andere Sprache, in den Augen liegt Wärme. Dass es Liebe ist, eine Liebe wie keine andere zuvor, weiß der Besucher seit jener ersten, alles entscheidenden Viertelstunde. Wird sie erwidert? Es besteht wohl kein Zweifel. Die Vorstellung, seine Frau zu werden und mit ihm einmal Kinder zu haben, scheint ihr nicht schwer zu fallen. „Wo Kinder sind, da ist ein goldenes Zeitalter“, schreibt Novalis in der Aphorismensammlung „Blütenstaub“. Vielleicht liegt auf beiden Seiten noch ein wenig kindliche Spielerei darin, wenn sie am 15. März 1795, zwei Tage vor ihrem dreizehnten Geburtstag, ein heimliches Verlöbnis eingehen. Auch der verliebte Aktuarius wird, sobald sie ein paar Stunden beieinander sind, wieder zum Kind. „Jeder geliebte Gegenstand ist der Mittelpunkt eines Paradieses.“ So erinnert er sich im „Blütenstaub“ an diese selige Zeit. In dem „Lied beim Punsch“ sieht er sich bereits als gehorsamen Ehegatten: „Leicht fällt dein Pantoffel / Bald, Söphchen, auf den Mann.“ Auch Schillers „Ode an die Freude“ klingt ihm in den Ohren, wenn er „Zu Söphchens Geburtstag“ dichtet: „Wer ein holdes Weib errungen, / Stimme seinen Jubel ein. / Mir ist dieser Wurf gelungen, / Töne, Jubel, – die ist mein.“ Doch wenn sich „Erdenliebe / Schon in Himmelslust verklärt“, horcht auf, wer den dunklen, die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge beschwörenden Unterton in Hardenbergs frühesten Gedichten kennt. Auch in seinem unbeschwerten Jubel über die veränderte Gemütslage kann er sie nicht vergessen: „Und die Geißel meiner Stunden, / Zweifelsucht und Leichtsinn, wich.“ Bruder Erasmus hat genau das gemeint, als er den Überschwang einer so frühen Bindung nur argwöhnisch zur Kenntnis nahm: „Du bist mir so tragisch, Freund.“

Es gibt solche ahnungsvollen Naturen, die scheinbar unbedacht oder sich selbst kaum bewusst, aber vielleicht aus einem tiefen und dennoch klaren Unterbewusstsein, Düsteres voraussagen, als redeten sie das drohende Unheil herbei. In der vorurteilslosen, scharfblickenden Charakterstudie, die Hardenberg über die Geliebte verfasst, nachdem sie erkrankt ist, nennt er sie, als sähe er sie schon unter den Nonnen, zwischen deren Mauern er herangewachsen ist, „Klarisse“. Er apostrophiert ihre „Frühreife“, ihren Wunsch, „allen zu gefallen“, ihren „Steifsinn“ wie ihre „Schmiegsamkeit“, sobald sie jemanden „schätzt“ oder „fürchtet“, ihre „Launen“. Neben der „Religiosität“ und dem „Hang zu weiblichen Arbeiten“ irritiert ihn das eine besonders: „Freier Lebensgenuß“. Sie raucht Tabak und isst gern „Kräutersuppe – Rindfleisch mit Bohnen – Aal. Sie trinkt gern Wein. Sieht gern etwas, liebt die Komödie.“ Außer solchen Tugenden wie „Wohltätigkeit“, „Beobachtungsgeist“, Kinderliebe“, „Ordnungsgeist“, „Sorgfalt und Passion für das Schickliche“, die denen gleichkommen, die er in seinem frühen Gedicht beschworen hat, findet er „Herrschsucht“ und „Schreck für der Ehe“. Das Verlöbnis war also von ihrer Seite mehr Kinderspiel als Eheversprechen. Zu „Zoten“ zieht sie ein „Gesicht“. Was für eins? Und wer erzählt sie ihr? „Sie läßt sich nicht duzen.“ Auch nicht unter vier Augen? Sophie hat ihn über die „Weiber“ belehrt: „Sie sind vollendeter als wir.“ Und er bekennt, dass er sie heftiger liebt als sie ihn: „Meine Liebe drückt sie oft.“

Die Minderjährigkeit des „schönen unschuldigen Mädchens“ steht ihm aber für die Reinheit ihrer Liebe. Es scheint, dass er als Liebhaber nach einem Jahr etwas stürmischer geworden ist. Vermutlich bedrängen ihn die erotischen Erfahrungen seiner Studentenzeit. Ende Oktober 1795 schreibt er aus Schloss Grüningen an Caroline Just, die Nichte seines Vorgesetzten, die sich in Tennstedt haushälterisch um beide kümmert: „Vielleicht lehrt mir Ihr Umgang Mittel, eine gar zu heftige Reizbarkeit meiner Phantasie abzuschleifen.“ Schikaniert ihn doch wieder der „Wollustteufel“? Was für Erfahrungen stecken dahinter, wenn ihm in Grüningen „der schmutzige Revers“ der „Leute“ sichtbar geworden ist, die er liebt? Die Sprache des Briefes an Erasmus vom 11./13. November hat etwas Verstörtes, Zerfahrenes. Enttäuschung und Scham und der Vorsatz, sich das Verhältnis dennoch zu bewahren, lassen keinen rechten Anlass erkennen. In welcher Art und Weise hat sich die „mißglückte Besitznehmung einer Sophie“ zugetragen? Vielleicht bewahrheitet sich die Warnung seines Bruders: „Laßt einmal eine zärtliche Stunde kommen, und Ihr küßt Euch und herzt Euch, was das Zeug hält, und wenn es vorbei ist, denkst Du, es ist ein Mädchen wie alle andern Mädchen!“ Vielleicht war mehr daraus geworden. Der Liebhaber fürchtet kaum, die verstimmte Braut ganz zu verlieren. Er beurteilt das Ziel seiner Wünsche nur etwas nüchterner: „Ich vermute, daß es sich wie die meisten natürlichen Romane in einer Kinderstube schließen, und der Vorhang über einem Brautbette zufallen wird.“

Da änderte eine sogleich als gefährlich erkannte Erkrankung Sophies mit einem Schlag alles. Scherzhaft hatte der heimliche Bräutigam am 25. März 1795 den Ereignissen drei Jahre vorgegriffen und Caroline Just unter dem 25. März 1798 bekanntgegeben, am 19. März habe seine Hochzeit mit Sophie und die Gründung eines eigenen Hausstandes auf seinem Gut Schlöben bei Jena stattgefunden. Eine magische Ironie des Zufalls wollte es, dass Sophie an einem 19. März starb und Novalis an einem 25. März.

Fortsetzung folgt …


Ein Beitrag von Dr. Volker Ebersbach

Volker Ebersbach studierte Klassische Philologie und Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo er auch promovierte. Er ist seit 1976 freier Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber von Erzählungen und Romanen, Kurzprosa, Gedichte, Essays, Kinderbücher, Biographien und Anekdoten. Einzelne Werke wurden ins Slowenische und Kroatische übertragen. 1985 erhielt er den Lion-Feuchtwanger-Preis. Von ihm erschienen sind u.a. “Heinrich Mann. Leben, Werk, Wirken” (Reclams Universalbibliothek, 754. Leipzig 1978); “Rom und seine unbehausten Dichter” (Essays, Mitteldeutscher Verlag 1985/87); “Nietzsches tragische Anthropologie. 2 Bde.” (Leipziger Universitätsverlag 2002/2006); “Die letzte Fahrt der Württemberg. Erzählungen, Erinnerungen” (VentVerlag 2012); “Ich liebe also bin ich – Stendhal, ein biografischer Essay” (Shaker Media 2017).


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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