Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen

Mythologen horcht auf, hier wird unsere Profession angesprochen! Was machen wir mit Mythen, was aber machen vor allem sie mit uns? Das ist die Frage, die sich hier das Autorenteam auf vielen Seiten stellt. Ausgangspunkt ist die Heldenreise, wie sie Joseph Campbell weltweit gefunden hat. Nach ihr ist auch das Buch komponiert. Die Kapitel rekapitulieren die Stationen des Helden oder der Heldin – man denke etwa an Frodo in Herr der Ringe oder an Märchenabenteuer: die gewohnte Welt, der Ruf des Abenteuers, die Weigerung, der Mentor, die erste Schwelle, die Proben und Feinde, das Vordringen, die entscheidende Prüfung, der befreiende Schlag, die Rückkehr und Auferstehung, das gewonnene Elixier. Klar, in diesem Buch wird auch nachgewiesen, dass diese Heldenreise maßgeblich auf den Mann geschneidert ist, trotz vieler Wonder Women und anderer Heldinnen. Dagegen bieten die Autorin und der Autor (El Ouassil ist Podcasterin, Kolumnistin und Germanistin, Karig ist Journalist und Schriftsteller) Modelle weiblichen Heldentums an: es sei weniger individualistisch und mehr auf soziales Handeln angelegt.

Der erste Teil des umfangreichen Bandes liest sich gut und flüssig. Hier werden die Grundlagen aus der Erzähl- und Medienforschung gelegt für die Tatsache, dass unser Leben durch Erzählungen anderer und Eigenerzählungen geprägt ist. „Ich“ ist immer ein erzähltes, was nicht unbedingt Fiktion heißt. Denn auch die Wissenschaften erzählen, wenn sie „Fakten“ darstellen. Ich würde eher von Erzählung als einer unendlichen Annäherung an das Wirkliche reden.

Wenn diese Erschaffung der Person so vom Erzählen lebt, muss der Einfluss von Erzähl-Techniken und -Inhalten, die in unsere Primatenwelt zurückreicht, umso schärfer beobachtet werden. Denn Erzählen kann Sinn stiften, aber der Sinn kann auch ins Böse führen – etwa im Nationalismus, in dem das Individuum seinen Sinn in einem Kollektiv findet, der sich gegen andere Gruppen richtet. Zu erzählen begannen wir, als wir uns zu Gruppen zusammenfügten, jagten und sammelten, Anleitungen und Rezepte weitergaben, als wir zu singen begannen, zu schimpfen oder zu lachen. Das Kochen, Essen und das Erzählen gehören mithin zusammen, ebenso wie die Jagd und das Umherstreunen, fremde Gruppen treffen und Feuer machen: „Wir sind Affen, die durch das Geschichtenerzählen erst zu Menschen wurden.“ (S. 81) Walter Benjamin erklärte das Märchen zum ersten Ratgeber der Menschheit, ebenso tat es ein G.K. Chesterton. Doch die Erwachsenen erzählen sich weiterhin Märchen, und nun hat der Begriff, ebenso wie „Mythos“, nicht mehr nur eine erfreulich-sinnstiftende Bedeutung. Werbung und Medien, vor allem auch politische Parteiungen nutzen die menschliche Empfänglichkeit für Erzählungen – d.h. für „sinnvolle“ Muster, mit denen die Komplexität des Lebens reduziert wird. Erzählungen setzen den Dingen Gesichter auf, und auf solche sind wir seit embryonalen Tagen programmiert – ebenso wie uns Hausfassaden oder die Autofront an menschliche oder tierische Gesichter erinnern. Es schaut wie in den Religionen immer wieder etwas Anthropomorphes heraus, dass uns zu Emotionen auffordert. Und sobald wir etwas vermenschlichen, glauben wir auch es erklären zu können. So könnte die älteste überlieferte Erzählung aus Australien stammen, in der man sich an einen Vulkanausbruch erinnert: „Eine 37 000 Jahre alte Flüsterpost, ausgelöst von einer Naturkatastrophe, die durch die göttliche Erklärung eine Kausalität und einen mehr oder weniger befriedigenden Sinn erhalten hat.“ (S. 74)

Die Stärke des Buches liegt in der zeitübergreifenden Betrachtung ältester Mythen und neuester Medienerzählungen, insbesondere auch aus dem Serien- und Filmbereich. Gerne dienen Beispiele aus der Science Fiction der Untermauerung der These eines Erzählens nach alten mythischen Mustern, wie sie sich auch in den Märchen finden. Dass diese aufzubrechen sind, um neue Blicke auf die Realität zu bekommen, ist eine Grundforderung. Sie kann nur durch ein Bewusstwerden der gewohnheitsmäßigen Muster eingelöst werden. Und dafür ist dieses umfassend Werk bestens geeignet: mit welchen erzählerischen Formeln reden wir etwa über Klima, Nachhaltigkeit und Flüchtlinge?

Die Autoren ziehen ein großes Register an Studien und Experimenten heran, um ihre Thesen zu belegen, die selbst nicht unbedingt neu sind. Störend empfinde ich, wie sie im zweiten Teil versuchen, gute, d.h. woke Narrative als richtige Erzählungen zu deuten und andere abzuwerten. Das ist sicherlich notwendig bei zerstörerischen Mythen, wie solche, die Rassismus und Faschismus ermöglicht haben. Aber wer nun die richtige Klimaerzählung liefert oder mit welcher Narrative man Nachhaltigkeit und Geschlechtergerechtigkeit am besten erreicht, das sollte weiterhin debattierbar bleiben und nicht politisch erwünschten Mustern verfallen. Störend ist neben dem cool sein wollenden Denglisch auch der ständige Genuswechsel von maskulin und feminin, denn oft ist dann unklar, ob alle Menschen gemeint sind oder nur die jetzt markierten. In solchen Diskursen entstehen neue Gottheiten, die Modenarrativen folgen. So wird gegen Schluss vieles erwartbar und verliert an Information und Gehalt. Dagegen gefällt mir die Fußnote auf S. 69, in der von intelligenten Krähen die Rede ist. Sie nutzen die roten Ampelphasen, um ihre Walnüsse vor die bei Grün losfahrenden Autos zu legen. Warum das so ist, interessiert sie nicht, sie sind einfach pragmatisch „und sie erfinden auch keine Ampelgötter.“

Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel


Literaturhinweis:

Samira El Ouassil & Friedemann Karig: Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen. Berlin: Ullstein 2021, 522 S., gebunden, € 25.00 (TB 14.99).


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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