Die Religion treibt die Menschen in die Ferne. Sie wollen einen Glauben weitertragen bis an die Ränder der Erde und stoßen dabei auf anderen Glauben, andere Verehrungen, andere Götter. Die Reisen in die Ferne haben natürlich auch oft einen politischen Hintergrund. Im 13. Jahrhundert will das christliche Europa Kontakt aufnehmen zu den nur vage bekannten Mongolen. Könnten sie dem Abendland nicht beistehen im Kampf gegen den Islam? Aber was heißt „vage bekannt“? Die Mongolen dehnten fortgesetzt ihr Imperium aus, ihre Heere waren bis nach Europa vorgedrungen. Im April 1241 wurde das deutsch-polnische Heer bei Liegnitz /Schlesien geradezu zermalmt. Den Kopf des getöteten Herzogs Heinrich steckten die Mongolen auf eine Lanzenspitze und hielten ihn den Christen als Schreckensbild hin. Zur selben Zeit erlitt ein weiteres christliches Heer in Ungarn eine krachende Niederlage. Und es sah so aus, als wäre dies nur der Anfang einer beispiellosen Zerstörung: der Untergang des Abendlandes insgesamt stand bevor! Doch plötzlich wendeten sich die Asiaten nach Süden Richtung Ungarn und dann zurück nach Südrussland. Niemand wusste, warum.
War ihr Oberhaupt gestorben, hatten sie eine Vision gehabt, war ihnen schlicht die Luft ausgegangen? Tatsächlich lag Ögedei, der Großkhan, ein Sohn von Dschingis Khan, im Sterben. Batu Khan, ein Teilherrscher, hatte inzwischen die westlichen mongolischen Heere übernommen und baute an seinem Wolgareich der Goldenen Horde. Vier Jahre darauf versuchte der Papst Innozenz IV., Delegationen zu den Mongolen zu schicken, ohne sie jedoch bekehren zu können. Die erste verlor sich irgendwo in Persien und in der Geschichte. Die zweite unter Leitung des Franziskaners Carpini stieß bis Karakorum, der Hauptstadt der Mongolen, vor. Der damalige Großkhan Güyük, ein weiterer Enkel des Dschingis Khan, lehnte kalt den Missionierungsversuch ab und verlangte, dass der Papst und das Abendland sich ihm unterwerfe. Dann könne man über eine gemeinsame Strategie gegen den Islam nachdenken. Wie könnte sich auch der „ozeangleiche Khan“, wie er sich nannte, einer beschränkten westlichen Macht unterwerfen? Doch der Westen machte sich weiterhin Hoffnungen. Man hatte doch gehört, dass der Batu sogar Christ sei und es viele christliche Mongolen gäbe. Nein, Batu Khan war kein Christ, aber in den mongolischen Verwaltungen waren tatsächlich viele, meist nestorianische, Christen tätig. Die Fürsten waren zudem oft mit christlichen Frauen verheiratet. Der französische König Ludwig der Heilige (1214-1270), der gerade einige militärische Katastrophen im Orient hinter sich hatte, wollte Kontakt mit diesem Reitervolk aufnehmen und entschied sich für einen flämischen Franziskaner. Wilhelm von Rubruk oder flämisch Ruybroek (ca. 1210 – ca. 1270) hatte Reiseerfahrung und kannte das Heilige Land. Er sollte nun den erstbesten mongolischen Fürsten oder dessen Statthalter besuchen, ihm Geschenke überbringen und über eine Allianz gegen die Muslime verhandeln. Zu seiner Delegation gehörten noch weitere Geistliche, ein gekaufter Sklave und ein Dolmetscher. Nun würde er für ein Buch Briefe an den König schreiben, die erstmals einen tieferen Einblick in die Kulturen Zentralasiens und das Leben der Mongolen ermöglichten – noch vor dem venezianischen Kaufmann Marco Polo (1254-1324).
Die Reise beginnt am 7. Mai 1253 in Konstantinopel, führt über die Krim zu den Tataren und zum Lager Batu Khans im Wolgagebiet. Im Dezember trifft man bei Möngke Khan (hier Mangu Khan geschrieben) in Karakorum ein, einem Enkel von Dschingis Khan. Die Rückreise geht über den Kaukasus und die Türkei nach Zypern und Tripoli.
Um überall freundlich aufgenommen zu werden, belädt sich die Delegation mit Früchten, Wein und Zwieback aus Konstantinopel. Im Schwarzen Meer stoßen sie auf eine Insel, wo dem Märtyrer Clemens gehuldigt wird. Der Tempel dort ist von Engeln gebaut worden. Von Cherson (Ukraine) aus erreichen sie Gebiete, die von Goten bewohnt werden, die „Deutsch“ sprechen. Auf der Krim lebten vor dem Einfall der Tataren die Kumanen. Sie wurden an die Küste gedrängt und fraßen einander wegen des Hungers auf, schreibt er. Wie wohnen die Tataren oder Mongolen, die man oft nicht unterscheidet? Man buchstabierte jene auch lieber als „Tartaren“, um ihre Herkunft aus der griechischen Hölle, dem Tartaros herauszustellen. Sie leben in Hütten aus Weidegeflecht in Jurtenform, gedämmt und geschmückt wird mit Filz, wie Josef Beuys später auch feststellen wird. Der mongolische Khan lebt in einer riesigen Zeltstadt. Batu hat 26 Frauen, jede wohnt in einem eigenen Zelt. Die Trinkrituale um die vergorene Stutenmilch „Kosmos“ oder „Kumis“ sind sehr wichtig, machen sie doch Hierarchien deutlich. Als man dem Franziskaner erstmals solche Milch gibt, schwitzt er vor Ekel, doch allmählich gewöhnt er sich an den Geschmack (62). Ein Mongole fragt ihn, ob er denn Stutenmilch trinken würde, denn die anderen dort lebenden Christen halten das für einen Abfall von ihrem Glauben. Wenn sie einmal tränken, müssten sie erneut in ihre Religion aufgenommen werden. Doch Wilhelm sieht hier keine Probleme für sich; wenn er Durst habe, werde er die Milch trinken. Vielmehr scheint es ihm nötig, die so entfernt lebenden Christen, die ja zum Teil auch als Häretiker gesehen wurden wie etwa die Nestorianer, an bestimmte vergessene Wahrheiten zu erinnern. So kennen sie nicht mehr die Bedeutung des Pfingstfestes und lassen es sich freudig von Wilhelm erklären. Was den christlichen Ritus im Allgemeinen betrifft, kennen sie „weiter nichts als den Namen Christi.“ (65) Ein Muslim, der von Wilhelms Reden über Gottes Wohltaten so beeindruckt ist, will sich taufen lassen. Doch dann erinnert ihn seine Frau daran, dass er keine Stutenmilch mehr trinken darf und er lässt von seiner Absicht ab. Wilhelm bedauert es, ihn nicht von diesem Wahn befreien zu können.
Sänger und Musikanten unterhalten mit teils völlig unbekannten Musikinstrumenten. Männer und Frauen zechen miteinander, manchmal um die Wette, „ohne Maß und Ziel“. Der Alkohol dürfte zum Untergang des mongolischen Reiches beigetragen haben, denn die Nachfolger des Dschingis Khan haben sich bei ihren Treffen oft sinnlos besoffen, geprügelt oder umgebracht. „Man hütet sich pures Wasser zu trinken.“ Dazu kommt ein großer Fleischverzehr. Frisuren sind wichtig: Männer rasieren sich ein Viereck auf dem Kopf heraus und an den Seiten wird geschoren, doch vorne hängt ein Schopf auf die Augen herab. Hinten gerne Zöpfe, die man sich aufknotet. Die Frauen legen Wert auf Kopfschmuck. Wenn Frauen hintereinander reiten, sieht es aus der Ferne aus, als trügen sie Helme. Vielleicht ist das ein Grund, warum die Griechen Amazonen sahen, als sie in diesen Ländern der Skythen unterwegs waren oder von barbarischen Stämmen angegriffen wurden. Die Frauen, so Rubruk, sind plump. Kleine Nasen werden hier als Ideal angesehen. Frauen lenken Wagen, melken Kühe, machen Käse und Butter und nähen Felle. Selten oder nie werden Kleider und Geschirr gewaschen. Wenn man die Wäsche aufhängen würde, wäre das eine Beleidigung für den Donnergott. Wer beim Waschen erwischt wird, wird oftmals geprügelt.
Falsche Gesandte werden getötet, ebenso Zauberer und Hexen. Güyük Khan, der kurz zuvor gestorben war, ging mit konkurrierenden Fürstinnen um wie später die europäischen Hexenverfolger. Seine Strafmethoden waren so grausam, dass sie von den Mongolen selbst als ungewöhnlich angesehen wurden (Weatherford 164).
Wilhelm fühlt sich jedenfalls, als sei er in einer anderen Welt angekommen (59). Was ihn stört, ist die Bettelei, wenn er irgendwo aufschlägt. Außerdem seien die Mongolen undankbar. Sie halten sich seiner Meinung nach für die Herren der Welt, denen man nichts abschlagen darf (61). Am Don trifft er auf Schmutz und hässliche Menschen. Leider kann er ihnen nicht predigen, weil der Dolmetscher nicht übersetzen will. Gerne übersetzt dieser auch mal bewusst falsch und bei komplizierten theologischen Erklärungen bricht er gleich ab.
In der Nähe der Wolga trifft er nun auf den ersten mongolischen Fürsten, den Sartach. Man schenkt ihm, der sich einige Informationen über das Abendland geben lässt, eine Flasche Wein und einen Korb voller Zwieback. Am nächsten Tag müssen sie ihm die mitgebrachten Bücher und die liturgischen Kleidungsstücke erklären. Im vollen Ornat mit der Bibel vor der Brust und weihrauchumhüllt macht Wilhelm einen starken Eindruck. Dann singen sie ein „Salve Regina“. Der Khan beschaut sich ein Kreuz mit dem Gekreuzigten und fragt, ob er Christus darstelle. Die östlichen Christen zeigen nämlich nie den Gekreuzigten, so dass er den Mongolen unbekannt ist. Zudem ist es ein Tabu, einen Toten oder Sterbenden zu zeigen. Selbst die Gräber der Khans werden versteckt, man lässt Pferde über sie dahin trampeln. Möglicherweise hat diese asiatische Sicht auf die Nestorianer und Armenier abgefärbt, die sich schämten, Christus am Kreuz zu sehen (143). Überhaupt beschauen sich die mongolischen Fürsten gerne christliche Dinge, Reliquien, Kreuze und Bibeln. Vielleicht erahnen sie vom Erscheinungsbild her, was sich dahinter verbirgt. Sie lesen die religiösen Artefakte wie die Spuren der Rentiere und Pferde.
Wilhelm ist ein nüchterner Reporter. So lässt er das Gerücht von einem Priesterkönig Johannes platzen, an den das Abendland gerne glaubte, als es mit den Kreuzzügen schlecht lief. Man hoffte auf einen geheimnisvollen christlichen König, der die Muslim von Osten her angreifen würde. Wilhelm notiert knapp, dass er niemand getroffen habe, der von diesem Johannes gehört hätte (81). Er korrigiert auch Isidor von Sevillas Ansicht, das Kaspische Meer sei ein Meerbusen, der zum Ozean gehöre: nein, es ist nur ein riesiger See. Schließlich erreichen sie Bulgar, die Hauptstadt der Wolga-Tataren, unweit vom heutigen Kasan, wo Batu Khan, der Führer der Goldenen Horde regiert. Sarazenen (Muslims) und Russen trifft er an: „Ich möchte nur wissen, welcher Teufel wohl dorthin die Religion Mohammeds gebracht hat.“ (86) Die Stadt ist ein riesiges Zeltlager, das streng hierarchisch aufgebaut ist. Es heißt orda, das vom Turksprachlichen ordu (Lagerplatz) abgeleitet wird. Über das Tatarische gelangte es in die slavischen Sprachen und schließlich nach Westeuropa. Das deutsche Wort Horde ist ein Abkömmling – es erklärt, warum man die Mongolen an der Wolge als Goldene Horde bezeichnet. Auch das Wort für die Sprache Urdu stammt davon ab.
Macht verlangt Ehrfurcht und die sakrale Aura ist zu spüren. Zum Ritual der Audienz bei Batu Khan gehört langes Warten. Der Delegation wird eingeschärft, dass sie nur sprechen dürfen, wenn sie aufgefordert werden. Die Seile an den Zelten dürfen sie nicht berühren. So stehen sie nun da, ohne Kopfbedeckung und barfuß und fühlen sich wie „Schaustücke“ (88). Schließlih werden sie vorgelassen, brauchen sich aber nicht zu verbeugen. Stattdessen müssen sie eine Zeitlang schweigend verharren, während Batu sie in Ruhe mustert. Mit seinem rotfleckigen Gesicht erscheint er Wilhelm wie der Großkämmerer des französischen Königs. Nun darf Wilhelm reden und soll vorher beide Knie beugen. Er beugt nur eines und man verlangt, dass er beide beuge. Er tut es, denn er will über solche Dinge keinen Streit anfangen. Gleich macht der dem Fürsten klar, dass dieser nur die Seligkeit erreicht, wenn er sich zum Christentum bekehrt. Doch der Khan lächelt milde, während seine Landsleute in die Hände klatschen – was soviel bedeutet wie: Spott. Batu schickt ihn weiter gen Osten. Damit kann Wilhelm seinen Vorgänger Carpini überholen, der hier seine Reise abbrechen musste.
Man durchquert den Ural, das heutige Baschkortistan. Unterwegs macht der Mönch immer wieder Sprachstudien. Die slawischen Sprachen scheinen ihm mit der der Vandalen verwandt zu sein. Von Dominikaner weiß er einiges über die Baschkiren und versucht sich ein Bild der Völkerwanderungen und -gemische zu machen. Woher kommen die Ungarn und die Bulgaren? Wer hat wen unterworfen, welche Religionen sind hier anzutreffen? Schön sind die anschaulichen Reisestrecken und Zeiten. Sie fügen sich ein in den religiösen Kalender und übertragen die heimatliche Karte auf die Fremde: „So ritten wir durch das Land der Kangle vom Fest der Kreuzerhöhung bis Allerheiligen (14. September bis 1. November 1253) fast jeden Tag nach meiner Schätzung eine Strecke, die etwa der Entfernung von Paris nach Orléans entspricht.“ (95) Das ständige Wechseln der Pferde ist lästig, oft gibt man ihnen armselige Tiere. Er selbst braucht ein starkes Ross, denn er ist, wie schon Carpini, ein Schwergewicht. Ein mongolischer Reiseführer bringt sie durch die riesigen Ländereien, in denen die vier Söhne von Dschingis Khan regieren. Der Führer verachtet sie zunächst, später bringt er sie zu reichen Mongolen, für die die Christen beten müssen. Man fragt ihn nach dem Papst, von dem sie gehört haben, dass er 500 Jahre alt sei.
Von besonderer Bedeutung sind immer wieder seine Beobachtungen zu den Religionen, auf die er stößt: christliche Sekten, Buddhisten, Schamanen, Muslims, „Götzendiener“. Bei den Uiguren hat er Probleme, sie einer bestimmten Religion zuzuordnen. Sie haben Götzentempel, deren törichter Aberglaube ihn interessiert. Da kommt ein Mann auf ihn zu, der auf seiner Hand ein mit Tinte gezeichnetes Kreuz trägt. Ist er ein Christ? Ja, aber Christus selbst zeigen sie nicht auf dem Kreuz. Dafür findet Wilhelm hinter dem Altar eine Statue mit Flügeln. Ist es der Erzengel Michael? Dann gibt es noch Bilder von segnenden Männern, aber sind es Bischöfe? Die Sarazenen (Muslims) meiden sie. An Festen wird den Götzen vom Volk geopfert: Brot und Früchte. Diese „Götzendiener“ richten ihr Gebet nach Norden, die Tempel sind aber nach Osten ausgerichtet. In Cathai soll es ein Götzenbild geben, das man aus einer Entfernung von zwei Tagesreisen sehen kann (103).
Es handelt sich vermutlich um die gigantischen Buddha-Statuen von Bamiya in Afghanistan, die 2001 von den Taliban in die Luft gesprengt wurden. Die Götzendiener haben Glocken in den Tempeln. Die Priester sind ganz rasiert und tragen safrangelbe Ornate. Sie beten einen Rosenkranz mit hundert oder zweihundert Kügelchen und sprechen dazu dauernd: „Om mani battam.“ (104) Heute würden wir sie also Buddhisten nennen, lamaistisch-tibetische, die ihr „Om mani padme hum“ murmeln, „Oh Juwel im Lotos“ (oder so ähnlich). Dem Franziskaner erklärt man, es heiße: „Gott, du weißt es“, und man erwartet jedes Mal eine Belohnung von Gott. Schade, dass hier wieder Unterschiede aufreißen durch problematische Übersetzungen und Interpretationen. Warum konnte Rubruk noch nicht das „Amen“ im „Om“ hören? Die Priester tragen im Übrigen gelbe Hüte und sehen mit ihren Frisuren aus wie Franken. Sie sind zugleich als Wahrsager tätig und ziehen den Wagenkolonnen voraus „wie die Wolkensäule vor den Kindern Israels.“ (107) Mit Hilfe seines Dolmetschers führt Wilhelm auch ein theologisches Gespräch mit diesen Buddhisten. Er stellt fest, dass sie an einen Gott glauben, der aus Geist besteht. Warum machen sie dann Bilder von ihm? Es seien keine Bilder Gottes, sondern von Verstorbenen. Man befragt sich gegenseitig: Wo ist Gott? Wo ist die Seele? Wie genau solch eine Diskussion verläuft im Hinblick auf die gegenseitigen Vorurteile und das Unwissen, dazu mit einem Dolmetscher, der die Hälfte selbst kaum versteht, kann man sich vorstellen: „Als ich noch mehr mit ihnen diskutieren wollte, hieß mich mein Dolmetscher schweigen, da er müde war und kein Wort mehr herausbrachte.“ (106)
Über andere benachbarte Völker trägt er erstes spärliches Wissen zusammen. Die Tibetaner verzehren ihre eigenen Angehörigen und bieten diesen aus Frömmigkeit ihre eigenen Eingeweide als Grabstätte an (108). Aus den Schädeln ihrer Toten machen sie „hübsche Becher“, die ihnen helfen, sich bei Festen an die Vorfahren zu erinnern. Gold ist überall, man braucht nur zu graben. Die Langa und Solangen sehen aus wie Spanier und tragen Messgewänder und Bischofsmützen. In Groß-China wohnen die Serer mit ihren tollen Seidenstoffen. Sie haben eine Stadt aus silbernen Mauern und goldenem Bollwerk. Beim Sprechen atmen sie durch die Nase (110). Sie haben „enge Augenöffnungen“ und kennen sich in der Kräutermedizin aus. Aus dem Pulsschlag können sie die körperliche Verfassung eines Patienten bestimmen. Aber vom Urin verstehen sie nichts. Über die christlichen Nestorianer hat er nichts Gutes zu berichten. Man findet sie in 15 Städten. Sie nennen sich zwar Christen, sind aber Götzendiener. Einige von ihnen leben als Einsiedler in Wäldern. Insgesamt sind sie ignorant. Sie besitzen die heiligen Schriften, aber verstehen sie nicht mehr. „Vor allem sind sie Wucherer und Trunkenbolde“ (111) und lassen sich ihre geistlichen Dienste wie gute Simonisten bezahlen. Dante hätte sie in einen tiefen Kreis der Hölle geschickt. Wilhelm notiert, dass sie durch ihre Habgier dem Ansehen des Christentums schaden; sie erscheinen ihm viel weniger tugendhaft als die sie umgebenden Mongolen.
Am 27. Dezember trifft die Delegation im Lager des Großkhans Möngke Khan (1209-1259; hier Mangu Khan geschrieben) ein. Der Enkel des Dynastiegründers Dschinghis Khan ist bereit, sie zu empfangen, doch zuvor werden die Europäer einigen Prüfungen unterzogen. Man versteht nicht, dass sie gekommen sind, ohne den Frieden anzubieten. Und das heißt für die Mongolen: Unterwerfung. Rubruk denkt bei sich: wenn er könnte, würde er mit allen Kräften den Krieg gegen sie predigen (119). Sie lernen einen christlichen Einsiedler kennen, der in einer Vision dreimal von Gott aufgefordert worden war, den Herrscher der Mongolen zu bekehren. Mangu Khan habe er gesagt, wenn er Christ würde, würde er die gesamte Welt beherrschen. Das solle Wilhelm dem Khan auch einbleuen. Wilhelm will ihn tatsächlich bekehren, aber eine Unterwerfung der Christen sieht er nicht vor. In diesen Tagen erfrieren ihm die Zehenspitzen und er kann nicht mehr barfuß gehen. Nun die Audienz. Singend gehen sie in das Zelt des Khans. Danach werden sie gründlich untersucht. Haben sie Messer dabei? Mangu wird als plattnäsig beschrieben, seine Tochter, die er mit einer Christin hat, als hässlich. Leider wird der Dolmetscher im Laufe des Gesprächs betrunken. Nach und nach verfällt auch der Khan in einen Rausch. Man will von den Christen wissen, ob es viele Schafe, Pferde und Ochsen in Frankreich gebe. „Da hatte man den Eindruck, als wollten sie bald bei uns einmarschieren.“ (128)
Der Khan erlaubt ihnen, weitere zwei Monate in der Kälteperiode im Lager zu bleiben. Dort treffen sie nun einen Goldschmied aus Paris, Guillaume Boucher (oder Buchier), der ihnen eine wichtige Quelle für Informationen wird. Er hat einen Gesellen, der ihm ein Sohn ist und der als Dolmetscher ausgezeichnete Dienste leisten wird. Guillaume war nach Belgrad gezogen, wurde dort aber von den einfallenden Mongolen nach deren Hauptstadt Karakorum verschleppt. Er erwarb sich jedoch große Verdienste durch seine Kunstfertigkeit. Für den Khan baute er einen Trinkbaum, einen scheinbaren Automaten mit einem trompetenblasenden Engel und Getränken, die zu bestimmten Signalen aus den silbernen Ästen herausflossen. Kublai Khan soll ihn später mit nach China genommen haben. Man erinnert sich an ähnliche Gebilde in Byzanz, wo das Automatenwesen hohe Gipfel erreichte. Der irische Dichter William Butler Yeats widmete dieser Kunst- und Technikkultur ein berühmtes Gedicht, „Sailing to Byzantium“. Er träumt darin, sich vom Fleisch und seinen Zwängen zu befreien, indem er als goldener Vogel in einem goldenen Baum den Damen und Herren von Byzanz von Vergangenem und Zukünftigen singen würde. Der automatische Trinkbaum erinnert ebenso an den schachspielenden Türken, von dem man lange Zeit nicht wusste, ob er eine Maschine war oder von einem versteckten menschlichen Spieler bewegt wurde. Auch im Trinkbaum steckt ein Diener, der die Trompete durch den Engel bläst und damit andere Diener dazu aufruft, Getränke nachzugießen. Auf jeden Fall muss er den Mongolen ihr Paradies vorgespiegelt haben, in der Form ihres Lebensbaums, der ja im Schamanismus eine große Rolle spielt, ähnlich wie bei den Germanen der Yggdrasil. Vor allem aber zeigt er, dass sie große Trinker und Zecher sind. Einmal besäuft sich die Frau des Khans unter dem Gesang und Geheul der Priester, doch niemand macht hier den Berauschten Vorwürfe (144).
In der Ferne lässt es sich auch gut betrügen. Am Hofe hält sich ein Kleriker auf, der behauptet, bei einem Bischof im Dienst gewesen zu sein, der einen von Gott persönlich in Gold geschriebenen Brief erhalten hätte. Rubruk durchschaut diese billige Behauptung und stellt, vielleicht mit einer gewissen Genugtuung, fest: „Betrüger, wie er einer ist, laufen nun mal in der Welt herum. Können die Mongolen einen solchen erwischen, dann bringen sie ihn einfach um.“ (135) Vielleicht hat das Mittelalter mit seinen Betrügereien die Vernunft geschärft? Den Verdacht, das Misstrauen? Jedenfalls kommt der Betrug hier von allen Seiten. Der Khan lässt an Festtagen für sich beten nach einem Ritual: erst die Christen, dann die Sarazenen, schließlich die Götzendiener. Angeblich glaube er aber nur den Christen, doch das sei eine Lüge: „denn in Wirklichkeit glaubt der Khan niemandem.“ (135) Alle umschmeicheln ihn wie die Fliegen den Honig, er bezahlt sie dafür und erhält nur gute Prophezeiungen. Es gibt natürlich ernsthafte Wahrsagerei, und die wird mit der Befragung von verbrannten Knochen durchgeführt. Man untersucht, auf welche Weise das Feuer Spuren hinterlassen hat und zieht darauf Rückschlüsse: soll der Khan in den Kampf ziehen oder andere Pläne verfolgen?
Wilhelm lässt sich in zweifelhafte Unternehmen mit dubiosen Mönchen ein, sofern sie ein gutes Bild vom Christentum nach außen tragen. Einer ist da, der die Gemahlin des Khans, die im Sterben zu liegen scheint, zu heilen verspricht, nachdem die Götzendiener mit ihren Beschwörungen und Ritualen gescheitert sind (145ff.). Er sagt sogar, man solle ihm den Kopf abschneiden, wenn er sie nicht heilen würde. Dann aber jagt das voreilige Versprechen ihm eine riesige Angst ins Gebein. Weinend wendet er sich an seine christliche Brüder und Wilhelm, er fürchtet jetzt um sein Leben. Also bereiten sie zusammen eine wundersame Heilung vor. Der Mönch mischt ein Pulver aus Rhabarber mit Weihwasser – und stellt ein Kreuz hinein. Man betet die ganze Nacht. Am nächsten Morgen lässt man die Fürstin davon trinken, während Wilhelm ihr die Leidensgeschichte des Herrn nach Johannes vorliest. Da hellt sich ihre Miene auf, die Krankheit schwindet und sie verteilt Silber zum Dank. Wilhelm verzichtet, doch der Mönch greift schnell zu. Sie ist tatsächlich wieder gesund. Man geht zum Khan, der alles gehört hat und gerade flüssige Erde isst, zur Stärkung des Kopfes, und zu freundlichen Erlaubnissen bereit ist. Die Christen dürfen ihr Kreuz jetzt an einer Lanze durchs Lager tragen.
Wilhelm gefällt vieles an dem Mönch nicht. Der lässt sich nämlich einen Klappstuhl wie für einen Bischof bauen, trägt eine Kopfbedeckung aus Pfauenfedern mit einem goldenen Kreuz darauf. Das Kreuz gefällt Wilhelm gut, weniger aber die schäbigen Fingernägel, die der Mönch mit Salben bearbeitet. Außerdem macht er bei halbheidnischen Ritualen mit, bei denen Psalmverse als Mantras gesprochen werden. Was für ein Firlefanz! „Der Ehre des Kreuzes wegen hielten wir jedoch zusammen.“ Der Mönch behauptet auch, die Priesterweihe erhalten zu haben. Doch bei seiner Rückreise kommt Wilhelm durch dessen Heimat und erfährt, dass dieser Mann eigentlich ein Tuchweber sei (146). Dieser falsche Mönch sorgt noch für manche Aufregung bei dem anständigen Rubruk. Einmal behauptet er in einem Streitgespräch, der Mensch sei vor dem Paradies erschaffen worden, woraufhin Wilhelm ihm beweist, dass dieses schon am dritten, der Mensch aber erst am sechsten Tag erschaffen wurde. Und dann gibt der Häretiker noch einen drauf, indem er sagt, der Teufel habe den Lehm aus den vier Himmelsgegenden geknetet, in den Gott seinen Hauch eingeblasen hätte. Wilhelm zwingt ihn zu schweigen, da er die Heilige Schrift gar nicht kenne, aber der Mönch lacht ihn aus, er, Wilhelm, könne doch nicht einmal Mongolisch! Interessant an diesem Disput ist, dass sich beide auf verschiedene Traditionen beziehen. Einmal auf die zwei verschiedenen Schöpfungsberichte im Buch Genesis, in dem tatsächlich eine unterschiedliche Reihenfolge stattfindet. Zum anderen gibt es eine jüdische Tradition im Midrasch, die von dem Lehm aus den vier Himmelsrichtungen spricht – allerdings nicht, dass der Teufel seine Finger dabei im Spiel hatte. Hier, mitten in der Steppe, erleben wir die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Zusammentreffen verschiedener biblischer Erzählstränge.
Dann kommt die Fastenzeit und der Mönch gibt vor, nur sonntags etwas zu sich zu nehmen. In Wirklichkeit aber hat er unter seinem Altar Mandeln, Rosinen, Pflaumen und anderes versteckt, von dem er dauernd aß, sobald er sich alleine wähnt.
Auffällig ist, dass die mongolischen Herrscher sich gerne eine Bibel zeigen lassen, die sie sich dann ausgiebig anschauen, als könnten sie durch das Anschauen verstehen, was darin steht. In die Kirche will der Khan nicht gehen, weil er gehört hat, dass dort Tote aufgebahrt werden. Auf Ostern macht sich Wilhelm Gedanken, ob und wie er mit den Nestorianern das Fest feiern will (163). Es ist ein multikultureller Gottesdienst mit Christen, Ungarn, Russen, Armeniern und Georgiern. Er beobachtet, wie sie taufen und eine Salbe benutzen, die angeblich von Maria Magdalena stammt, die damit Christi Füße gesalbt hat. Außerdem besitzen sie Mehl, aus dem das Brot vom letzten Abendmahl gebacken wurde. Der Mönch treibt derweil sein Unwesen mit dem geweihten Rhabarberwasser. In diesem Fall rettet er nicht, sondern bringt einen Patienten (den französischen Kunsthandwerker Guillaume, der den Trinkbaum und viele andere Geräte baute) fast um. Wilhelm stellt ihn zur Rede. Als ein Priester tatsächlich stirbt, nachdem ihm der Mönch wieder das Getränk gereicht hat, behauptet dieser, er habe ihn wegen eines Streits mit Gebeten getötet. Wilhelm hält ihm eine tüchtige Standpauke und verurteilt seine abergläubischen und heidnischen Verhaltensweisen, ja, er droht ihm mit der Exkommunikation.
Der falsche Mönch schlägt sich zudem mit den Sarazenen und beleidigt sie in Disputen. Das dürfte ein Grund sein, warum der Khan eines Tages beschließt, eine Religionskonferenz einzuberufen, sozusagen ein frühes „Weltparlament der Religionen“, wie es dann erst 1893 in Chicago zur Realität wird. Er verkündet Wilhelm:
Ihr seid hier Christen, Sarazenen und Götzenanbeter. Jeder von euch behauptet, seien Religion sei die beste und seine Schriften, also seine heiligen Bücher, enthielten die reinste Wahrheit. (179)
Wer hat recht? Das muss jetzt, am Vorabend vor Pfingsten 1254, geklärt werden. Die Mongolen haben drei Wettkämpfe, die sie bis heute genießen: Reiten, Bogenschießen und Ringkampf. Hier will man sich nun durch einen theologischen Ringkampf unterhalten lassen. Dazu bestimmt der Khan drei Schiedsrichter, einen Christen, einen Buddhisten und einen Muslim. Wer den anderen beleidige und nur streite, werde hingerichtet. Man kann sich die Stille nun vorstellen, die hier einzog. Wilhelm soll zuerst mit den Götzenanbetern, den Buddhisten, debattieren. Die finden die Idee eines Disputs gar nicht gut, noch nie habe ein Khan so etwas verlangt. Der Buddhist schlägt vor, über die Entstehung der Welt und das Leben nach dem Tode zu reden. Wilhelm lehnt ab, zuerst solle man doch über den Urheber des Ganzen, also Gott reden. Es gehe ja um den richtigen Glauben an Gott. Punktgewinn für den Franziskaner (jedenfalls nach seiner Erinnerung). Die Buddhisten, so denkt er, glauben an die Seelenwanderung und die Reinkarnation. Selbst der Fall eines dreijährigen Chinesen wird von Wilhelm notiert, der sich an die Existenz in drei Körpern erinnern konnte und auch Lesen und Schreiben beherrscht. Er zweifelt das weder an, noch bekräftigt er es. Nun geht es um den Manichäismus, dem die Nestorianer verfallen sind wie die Mongolen überhaupt, indem sie an eine Welt glauben, in der eine Hälfte gut, die andere böse ist. Er dagegen glaubt an den einen Gott, an seine Einheit. Der Buddhist (oder Schamane) antwortet: „Nur die Toren sagen, dass es nur einen Gott gibt. Die Weisen hingegen sprechen von mehreren Göttern.“ (184) Ob es denn nicht auch unter den Menschen viele verschiedene Herrscher gebe? „In dem einen Land sind sie so, in dem anderen Land eben anders.“ (185) Wilhelm fragt die Götzendiener, ob sie glauben, dass Gott allmächtig ist. Nach langer Pause antwortet der Schamane: „Kein Gott ist allmächtig“, woraufhin die Muslims in Gelächter ausbrechen. Rubruk gibt zu bedenken, dass die vielen Götter nicht alle in jedem Fall helfen können. Und wie überhaupt könne man so vielen Göttern gleichzeitig dienen? Der Schamane antwortet nicht. Wilhelm will weitere Beweise vorbringen, so auch für die Dreifaltigkeit, aber da unterbrechen ihn die Nestorianer, sie wollen jetzt auch mal etwas sagen. Woraufhin sie anfangen, sich mit den Muslims zu streiten. Diese wiederum bestätigen, dass alles wahr sei, was im christlichen Evangelium stehe und deshalb wollen sie keinen Streit. Einem alten uigurischen Priester, der zwar an einen Gott glaubt, aber doch Götzenbilder verehrt, erklären die Nestorianer das Christentum von A bis Z, vom Antichristen bis zur Dreieinigkeit. „Ohne Widerspruch hörten ihnen alle zu, aber kein Einziger sagte: ‘Ich glaube und will Christ werden.“ Nestorianer und Sarazenen stimmen schließlich einen Gesang an, während die Götzendiener stumm bleiben. Am Ende gibt es ein großes Gelage. So führt ein religiöser Disput endlich einmal nicht zu einem Krieg, sondern zu einer Sauferei. (187)
Bei der letzten Audienz vor der Abreise erklärt Mangu Khan den Christen noch einmal die Glaubensgrundsätze der Mongolen. Sie glauben an einen allmächtigen Gott, aber dieser Gott gab den Menschen verschiedene Wege zur Seligkeit, so wie die Hand fünf Finger hat. „Euch gab Gott die Heilige Schrift, aber ihr Christen richtet euch nicht danach.“ Damit meint er die Streitigkeiten unter den Christen und die Korruption ihrer Vertreter. Wilhelm selbst nimmt er dabei aus. „Euch gibt Gott also die Heilige Schrift, doch ihr haltet sie nicht. Uns aber gab er Weissager. Wir richten uns danach, was sie sagen, und wir leben in Frieden.“ (189)
Wilhelm weiß einiges über diese Wahrsager zu berichten. Alle herrscherlichen Entscheidungen müssen durch sie gefunden oder bestätigt werden. Wenn die Wahrsager nicht dagegen gewesen wären, wären die Mongolen wieder in Ungarn eingefallen. Stirbt jemand, so werden die Habseligkeiten durch Feuer gezogen, um sie zu reinigen. Alles, was zum Hof kommt oder aus ihm herausgeht, muss ebenso auf diese Weise gereinigt werden. Die weißen Stuten der Herden werden auf einem großen Fest im Mai geweiht. Dann müssen auch die christlichen Priester ihren Weihrauch schwingen. Die Wahrsager können allerdings auch mit magischen Praktiken Menschen bestrafen. So berichtet Wilhelm von einer Art Hexenverfolgung. Eine Frau, die Wahrzeiger angezeigt hatte, weil sie bei einer Reinigungszeremonie wertvolle Pelze ihrer Herrin für sich entnommen hatten, beschuldigten sie, Hexerei zu betreiben. Sieben Tage lang wurde sie auf freiem Feld ausgepeitscht, um ihr ein Geständnis abzuzwingen. Die Herrin selbst starb inzwischen, doch die Dienerin gestand nichts. Andere wurden nun beschuldigt und grausamst behandelt. Die Dienerin ließ Mangu Khan jedoch leben. Wilhelm weiß von Wahrsagern, von denen man annimmt, dass sie das Wetter beeinflussen können. Er hört auch die Geschichte von einem Dämon, der auf einer Jurte saß und schrie, dass er sie nicht betreten konnte, weil ein Christ in ihr war. Dem französischen König vermeldet er, dass er auf seiner ganzen Reise sechs Menschen bekehrt habe (204).
Halten wir noch dies über Wilhelms Reisen fest, die ihn bis nach China führen sollten und auf der er insgesamt 16 000 km zurücklegte. Er lernt die Orengai kennen, die auf glatt polierten Knochen Schlittschuh fahren. Dem Papiergeld widmet er einige interessante Absätze – so ist er wohl der erste, der über diese Erfindung ausführlich schreibt, wie später auch Marco Polo (Henke). Als Leser der Wunderberichte des Mittelalters erkundigt er sich nach den Ungeheuern, die zum Beispiel Isidor von Sevilla annahm, doch er trifft niemanden, der so etwas je gesehen hat. Aber von Lebewesen wird ihm immerhin erzählt, die gerade eine Elle lang und völlig behaart sind und sich hüpfend bewegen. Jäger stellen berauschende Getränke an ihre Höhlen. Wenn sich die Wesen heraustrauen und diese trinken, rufen sie „Dschin dschin!“, betrinken sich und schlafen ein. Dann kann man sie einfangen und ihnen Blut abnehmen, das sehr gut für das Färben von Tüchern sein soll. Jenseits von China soll es zudem ein Land geben, in dem man nicht älter wird, sobald man es betritt. Hier haben wir es wohl mit der ersten Erwähnung jener Himalaya-Region zu tun, die in James Hiltons Bestseller Lost Horizon wieder auftaucht: Shangri-la oder Shambhala. Doch Rubruk, dieser Sohn des abergläubischen Mittelalters, schreibt nur: „Aber ich kann diese Dinge nicht glauben.“ (151)
Auf seiner Rückreise wundern sich manche bei einem Wiedersehen, dass er nicht schon längst gestorben ist. Seine an anderen Stationen zurückgelassenen Kameraden hätte man in diesem Fall als Sklaven verkauft. An der Eisernen Pforte, wo Alexander der Große seine schöne Gefangene Roxane als Gattin erwählte, im heutigen Dagestan am Kaspischen Meer, trinken die Europäer erstmals wieder richtigen Wein, nach all den Stutenmilchverkostungen. Sie kommen durch Georgien, durch jüdische Gebiete in Persien und passieren den Berg, auf dem die Arche Noah landete. Lange konnte man den Ararat nicht besteigen, bis eines Tages einem Mönch träumte, ein Engel gebe ihm ein Stück Holz von der Arche. Jetzt sei es nicht mehr nötig, den Berg zu besteigen. Aber es gibt noch eine heidnische Variante: der Berg trägt in der lokalen Sprache denselben Namen wie das weibliche Geschlecht, Massis. Man dürfe, so sagt ein Alter, den Berg nicht besteigen, denn er sei „die Mutter der Erde.“ (217) Am Ende kommt Wilhelm zu dem Schluss, es sei sinnlos, weitere Mönche zu den Tataren zu schicken. Es sei denn, ein Bischof werde in allen Ehren gesandt, der auf alle „ihre Torheiten“ antworten könnte. Der solle aber aufpassen, dass er einen guten Dolmetscher bei sich habe und ordentlich Geld dazu (227).
Wilhelm von Rubruks Bericht ist einzigartig: aufrichtig schreibt er alles auf, auch das, was er ablehnt und ihm fremd erscheint. Seine Abscheu gegen fremde Sitten weiß er zu kontrollieren. Oft erscheinen ihm die Praktiken der Christen in den Tiefen der Steppe weitaus fragwürdiger als die der Mongolen. Die Diaspora wartet mit Überraschungen auf und zwingt ihn zu Kompromissen zur Ehre Gottes und des christlichen Glaubens. Da er nicht die kirchliche Autorität hat, Ketzer zu exkommunizieren, kann er nur über sein Missfallen berichten und zu berichtigen versuchen. Gerade deshalb ist er ein solch faszinierender Reporter.
Die Reise ist also nicht nur eine Expedition zu fremden Völkern, sondern auch eine in das Innere der eigenen Religion, die immer wieder in Frage gestellt wird. Erschüttert hat den Franziskaner dieser Kulturkontakt jedoch nicht; vielmehr bewies er, wie standhaft sein Glauben ist.
Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel
Literaturhinweis:
Jack Weatherford. Genghis Khan and the Quest for God: How the World’s Greatest Conqueror Gave Us Religious Freedom. Penguin Random House, New York 2016.
© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.