Ilja Muromez – ein legendärer slawischer Recke

Einschneidende gesellschaftspolitische Ereignisse wie auch politische und militärische Konflikte können dazu führen, dass sich die Sicht auf weit zurückliegende legendäre Ereignisse fundamental ändert. Das betrifft auch die Wertung von Heldenfiguren, deren Erzählungen weit in die vorchristliche Geschichte bis ins Sagenhaft-Mythische zurückreichen, die urplötzlich neu interpretiert werden, polarisieren und einer nationalen Vereinnahmung unterliegen. Das trifft im osteuropäischen Kontext gerade auf das Erbe und die Tradition der Kiewer Rus zu, die von Russland, der Ukraine und Belarus für sich in Anspruch genommen werden. Zu den in diesem Zusammenhang anzuführenden Beispielen gehört auch die aus vorchristlicher Zeit stammende slawische Heldendichtung, die im ostslawischen Raum etwa seit dem 11. Jahrhundert entstand und fast immer historische Bezüge zu legendären Ereignisse und Helden aufweist. Zu den bekanntesten literarischen Texten gehört zweifelsohne das „Igorlied“ bzw. das „Lied von der Heerfahrt Igors“ über den missglückten Feldzug des gleichnamigen Fürsten von Nowgorod gegen die Polowzer Fürsten. „Wie wäre es, Brüder, wenn wir anfingen, nach den alten Überlieferungen die schwere Geschichte vom Zuge Igors zu erzählen, vom Zuge des Swjatoslawitsch.“[1] Eine immer wieder gern zitierte Textstelle aus dem „Igorlied“ lautet: „Es ist schwierig für den Kopf / ohne Schulter zu sein / Aber es ist genauso ein Unglück / für den Leib ohne Kopf zu sein.“ Außer Zweifel eine wichtige Aussage, die nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt hat.

Zu den großen legendären Heldenfiguren gehört ohne Zweifel der Recke Ilja Ivanovich Muromez aus der altslawischen epischen Dichtung. Muromez gehört zu den bedeutenden Heldenfiguren der Kiewer Tafelrunde, ist zugleich auch der bekannteste der drei Bogatyri, die ostslawische Bezeichnung für Recken, die in der altslawischen Volksdichtung, den sogenannten Bylinen, besungen werden. Byline weisen als Volkserzählung zahlreiche mythologische Elemente auf. Die Bezeichnung, wahrscheinlich aus dem Turko-Mongolischen Ba-atur bzw. Baatar (wörtlich für Held) stammend, wurde vom Ethnografen Iwan Sacharow in den 1840er Jahren für die vermutlich im 11. Jahrhundert entstandenen und von Wandersängern vorgetragenen Heldenlieder geprägt. Der Begriff könnte möglicherweise aber auch eine Zusammensetzung aus dem ostslawischen Wort bog für Gott und dem Namen des nordisch-germanischen Kriegsgotts Tyr sein. Damit wären die Bylinen ein weiteres Beispiel für eine durchaus existierende Parallelität germanischer und slawischer mythologischer Elemente.[2] Vom germanischen Tyr, Gott des Rechtes und des Thing abstammend, würde das Wort Boga-tyr somit Kämpfer, Krieger oder Held bedeuten, die in erster Linie für die Bewachung der Grenzen und den Schutz des Staatswesens sowie großer städtischer Handelsorte verantwortlich waren. Zugleich dienten sie dem persönlichen Schutz der herrschenden Fürsten und ihrer Familien. Einige dieser heldenhaften Krieger waren auch für die Erziehung, für die körperliche und geistige „Ertüchtigung“ der fürstlichen Söhne verantwortlich. Andere waren wiederum auch Landknechte bzw. Karawanenwächter, die weit in der Welt herumkamen und nach ihrer Heimkehr von abenteuerlichen Geschichten und großen Heldentaten zu berichten wussten, die zumeist weit über den ostslawischen Bereich hinaus reichten.

Wahrscheinlich hat es die drei slawischen Muskelprotze Ilja Muromez, Dobrynja Nikitisch und Aljoscha (Alexej) Popowitsch tatsächlich gegeben, allerdings gibt es kaum verlässliche Quellen über sie. Zumeist wurden die Heldengeschichten mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Allein aus diesem Grunde unterschieden sie sich oft merklich voneinander. Sie unterlagen des Weiteren einer reichen Ausschmückung und wurden erst seit 1804 schriftlich festgehalten. So hatte man im 19. Jahrhundert begonnen, Byline systematisch zu sammeln, eingehender zu studieren und zuzuordnen. Je nach dem Hauptort ihrer Handlungen unterschied man dabei einen Altrussischen, einen Nowgoroder und einen Kiewer Zyklus.

Zu den großen archetypischen Helden gehört Dobrynja Nikitsch, Dienstmann am Hofe seines Onkels, des heiliggesprochenen Wladimir des Großen. Ähnlich wie auch der heilige Georg (Georgius) war er ein verwegener, mutiger Drachentöter. Mit seinem Sieg über den bösen Drachen hatte Dobrynja Nikitsch die alte Rus von der Tyrannei erlöst: „Es begann ein Kampf, ein gewaltiger / Und viel Blut verlor der Dobrynjuschka / Er kämpft mit dem Lindwurm drei Tage lang / Und überwältigte den verfluchten Wurm […] Und befreit aus seinen Höhlen / Die Russen aus langer Gefangenschaft.“

Aljoscha Popowitsch, der jüngste der drei Bogatyri, gilt als Sohn des Popen Lewonti aus Rostow. Seine legendäre Gestalt scheint in den Überlieferungen die reale, nachweisbare Figur des Bojaren Alexander Popowitsch zu überlagern, der 1223 in der Schlacht an der Kalka zwischen einem mongolischen Heer unter Führung des Feldherrn Subutai, dem fähigsten General Dschingis Khans, und einer vereinten Streitmacht aus Halytsch, Kiew und zahlreichen weiteren Fürstentümern der Rus ums Leben kam. Die legendäre Figur des Aljoscha Popowitsch verfügt, wie alle Bogatyri, über außergewöhnliche Kräfte, über großen Mut und eine außerordentliche Schlagfertigkeit, die er geschickt im Kampf einzusetzen wusste. Das gilt zuvorderst für den mehr als drei Tage dauernden Zweikampf mit dem Drachensohn Tugarin Zmejewitsch. Mit dem Kampf gegen Tugarin wird u.a. ein Bezug auf die Polowzer Khane, speziell auf Tugar Khan (Chan) hergestellt. Dieser unterscheidet sich deutlich von den Herrschern der Rus. So achtet Tugur Khan die Sitten und Bräuche der Rus nicht, und er betet auch nicht zu Gott, ähnelt in seiner furchteinflößenden, grauslichen Erscheinung eher einem grässlichen Hund als einem menschlichen Wesen. Aljoscha Popowitschs wundertätige „Waffe“ im Kampf gegen Tugarin ist ein geflügeltes Ross, dessen Flügel aus Papiermembranen besteht.[3] Dem listigen Aljoscha Popowitsch gelingt letztendlich es mit Hilfe eines Stoßgebets plötzlich Regen fallen zu lassen: „Dem Herrn Christo war sein Gebet genehm: / Der Herr eine Wolke mit Hagel und Regen gab, / Da wurden Tugarins Papierflügel nass, /Wie ein Hund fiel zur Erde der Drachensohn.“ Die Geschichten von Dobrynja Nikitsch und Aljoscha Popowitsch gleichen einander auffällig. Beide gelten als slawische Brüder, welche heldenhaft die Rus und ihre Bewohner beschützen. Sie gelten auch als überaus gebildet und wortgewandt. So beherrscht Dobrynja zwölf Sprachen und der feinsinnige Aljoscha Popowitsch spielte auf der slawischen Zither – Gusli genannt – auf, besang große Heldentaten. Die erwähnten drei legendären Helden werden auf dem Gemälde „Bogatyri“ des russischen Malers Wiktor Michajlowitsch Wasnezow dargestellt. Dieses Bild prägt bis heute die Vorstellung von den drei legendären Recken; Ilja Murometz befindet sich zwischen den beiden anderen Bogatyri in der Bildmitte.[4]

Der Recke Ilja Muromez ist in den letzten Jahren zu einer überaus umstrittenen und national vereinnahmten Figur geworden, um ihn wird ein regelrechter Informationskrieg geführt. Auch bei Murowez gibt es, vergleichbar mit Popowitsch, eine Überlagerung zweier legendärer Figuren: die eines legendären Recken und die eines Mönchs, die in der altslawischen Heldendichtung zu einer Figur verschmelzen. Im Volksglauben existiert Muromez auch als ein in seinem Streitwagen donnernd und blitzend durch die Lüfte jagender gottgleicher Recke; der Bezug zu Donar und Thor ist durchaus gegeben.

Alldiejenigen, die in der DDR aufgewachsen sind, erinnern sich sicher noch an den sowjetischen Film „Ilja Muromez“ in der Regie von Alexander Ptuschko, der seit 1959 in den DDR-Kinos lief und nachfolgend im DDR-Fernsehen gezeigt wurde. 1960 kam der Film unter dem Titel „Der Kampf um das goldene Tor“ als „schauprächtiger Film nach einer russischen Heldensage, als eine naive Mischung aus Märchen und Monsterschau“ in die Kinos der (alten) Bundesrepublik. Die Handlung des Films basiert auf den alten klassischen Epen über die großen Helden, sie schließt auch zahlreiche Märchenmotive ein. Die Musik basiert wiederum auf Kompositionen aus der Oper „Ilja Muromez“. 1975 folgte ein gleichnamiger sowjetischer Zeichenfilm.

Der ostslawische Recke, nach seinem Heimatort Murom Ilja Muromez genannt, wird u.a. auch als eine slawische Version des griechischen Herkules angesehen. Die erste überlieferte schriftliche Erwähnung befindet sich nachweislich in einem Brief, den der Vorsteher von Orscha (Orsha), Filon Kmita, 1574 an den Verwalter der Burg Trakai schickte. Er ist in der Verkehrssprache des Großfürstentums Litauen abgefasst: „Altweißrussisch“, „Altukrainisch“, „Westrussisch“, je nach heutiger nationaler Interpretation. In diesem Schreiben erwähnt der litauische Woiwode beiläufig „einen tapferen Krieger namens Ilia Murawlenina“.

Nachgewiesen scheint weiterhin, dass dieser mutige Held 1204 bei der Eroberung Kiews durch Fürst Rurik Rostislavich ums Leben kam. Der Heiligsprechung durch die russisch-orthodoxe Kirche folgte die Beisetzung der leiblichen Überreste im berühmten Kiewer Höhlenkloster Kiewskaja Lawra. Eine andere Version geht wiederum davon aus, dass Muromez‘ treues Pferd ihn, den schwer Verletzten, vom Schlachtfeld getragen habe. An den Mauern des Kiewer Klosters angekommen, erlangt er schließlich das Bewusstsein. Um die begangene Sünde seines Großvaters zu sühnen, lässt der Held seine Waffen fallen, schwört bis zum Ende seiner Tage, von nun an keine Waffe mehr anzurühren. So lebt der Mönch gottgefällig im Höhlenkloster bei Kiew. Hier soll er seinem Gelübde treu geblieben sein, Waffen nicht gegen andere zu erheben. So lebte er bis zu seinem Tode durch einen Speer beim Überfall Polowzer Söldnern auf das Kloster durch einen Speer, gottesfürchtig und fromm.

Was wissen wir über den Recken Ilja Muromez? Die Heldendichtung der Byline berichtet, dass vor langer Zeit ein Zwillingsjunge in einem Ort Karacharovo in der Nähe von Murom im Gebiet Wladimir, im heutigen Russland, oder aber im Dorf Murovsk in der Region Tschernihiw, in der heutigen Ukraine, geboren wurde. Beide Orte berufen sich bis heute darauf, dass sie der Geburtsort des großen slawischen Recken sind. Neuere ukrainische Forschungen, die von russischer Seite nicht anerkannt werden, gehen davon aus, dass Muromez in der Region Tschernihiw zur Welt gekommen sei. Eine andere Auslegung geht davon aus, dass der Ilias (Eliah) zum finno-ugrischen Stamme der heldenhaften Muroma gehörte und seinen Namen damit entweder von seinem Geburtsort oder aber von seinem Volksstamm abgeleitet hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach verschmolz im Volksepos die Figur des legendären Recken Ilja Muromez mit der des Mönchs Ilia (Elija) Pechersky (Pecherski). Die früheste schriftliche Erwähnung des Mönchs stammt übrigens aus dem Jahr 1638. Auffallend ist die gut erhaltene rechte Hand der im Kiewer Höhlenkloster aufbewahrten Reliquie. Sie scheint wie zum Gebet gefaltet und weist tatsächlich Verwundungen auf, die durch einen Speer verursacht sein könnten. Bis heute gedenkt die slawische Orthodoxie am 1. Januar jedes Jahres des Heiligen Elija(h). In den letzten Jahren, vor allem im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, hat die kirchliche Verehrung legendärer Helden in Russland und in der Ukraine deutlich zugenommen.

Der altrussischen Heldendichtung zufolge wurde der kleine Ilja mit einem Gendefekt geboren – bis zu seinem 30. Lebensjahr war er nicht imstande, seine Arme und Beine zu benutzen. Erzählt wird, dass die Krankheit auf einen Fluch zurückgehe, der ausgesprochen wurde, als Ilijas Großvater, der sich weigerte, das Christentum anzunehmen, eine Ikone mutwillig mit einer Axt beschädigte. Tatsächlich bestätigten die im Jahre 1988 gemachten Untersuchungen der Reliquie durch die Kommission des Gesundheitsministeriums der Ukrainischen Sowjetrepublik, dass der im Kiewer Höhlenkloster beigesetzte Mann zum Zeitpunkt seines Todes etwa 40-55 Jahre alt war und an einer Verletzung im Herzbereich verstorben war. Die Wissenschaftler stellten des Weiteren fest, dass er in Kindesalter an einer Lähmung der unteren Extremitäten gelitten hat und nicht laufen konnte; Analysen hatten eine Spondylarthrose festgestellt. Der Leichnam wies darüber hinaus einen Bruch des rechten Schlüsselbeins und der Rippen auf, die wahrscheinlich durch den Schlag mit einer Kampfkeule verursacht wurden. Eines Tages kommen fromme Pilger zu Ilijas Haus. Unter ihnen, so die Vermutung, könnte sich auch ein gleichnamiger Mönch befunden haben. Die Pilger bitten den auf einer Ofenbank liegenden Ilja aufzustehen, um ihnen ein Glas Wasser zu reichen: „Ilja Muromez steh auf / gib deinem tapferen Herzen Ruhm / Richte deine Schultern auf / Lass deine Beine nicht mehr ruhn.“ Ilja antwortete ihnen darauf, dass er nicht aufstehen könne, „weil zu seinen Füßen kein Gehen war“. Einem Wunder gleich kann Ilja urplötzlich laufen, ja er beginnt zu rennen, zu hüpfen und zu tanzen. Flugs holt er Wasser, von welchem auch er trinkt. Nach dem dritten Schluck setzt sich die wundersame Heilung fort, plötzlich wachsen ihm übermenschliche Kräfte: „Ich spüre in mir eine Riesenkraft […]. Meine Arme sind wie Eisenhämmer, meine Beine wie stählerne Pfeiler.“ Nach seiner wundertätigen Heilung nimmt Ilja den orthodoxen christlichen Glauben an und beginnt zudem, auch für den von seinem Großvater begangenen Frevel zu büßen. Die Pilger geben Ilja den Ratschlag mit auf den Weg, seine erworbenen Manneskräfte von nun an in den Dienst von Wladimir I., dem Herrscher und Täufer der alten Rus, zu stellen. Auf dem Weg nach Kiew trifft Ilja Murormez auf einen riesigen Stein mit einer Inschrift, die besagt, dass der Stein von seiner Stelle wegbewegt werden muss, um ein Wunder auszulösen. Das gelingt Ilja Muromez augenblicklich. Am Ort des magischen Steins findet er ein streitbares, sprechendes Ross, eine Ritterrüstung und entsprechende Waffen. Entsprechend ausgerüstet reitet Muromez weiter in Richtung Kiew.  

Zu den berühmten Heldentaten von Ilja Muromez gehört der Kampf mit dem Räuber Nachtigall (Solowej-Rasbojnik), der den durch einen dunklen sumpfigen Wald führenden Handelsweg nach Kiew blockiert. Es ist ein Furcht einflößender, grauslicher Wald, in welchem es keine Tiere, keine Vögel gibt. Niemandem, „weder zu Fuß noch zu Ross“, gewährt der Räuber Durchlass. Seinen Spitznamen Nachtigall erhielt der Räuber, weil er ohrenbetäubend laut pfeifen konnte. Der Räuber Nachtigall hielt sich auf einem Baum auf, um ungesehen von dort den Durchreisenden mit seinem durchdringend lauten Pfeifen Furcht einzuflößen. Es war schreckliche Laute, „einflößender als das Heulen jedes Wolfes, des Brüllen jedes Bären“, welche die Reisenden umbrachten, auf dass der Räuber sie ausrauben konnte. „Da pfiff der Räuber wie die Nachtigall / Da brüllte der Räuber wie ein wildes Tier / Hinwelkten die Halme und Gräserchen / Entblätterten sich die Blaublümelein / Neigten sich erdwärts die Wälder schwarz.“ Ilja Muromez zeigt keine Furcht: „Er spannte die seidene Bogenschnur / Tat den gehärteten Pfeil darauf / Und schoss auf den Räuber Nachtigall / Schlug ihm das rechte Auge, die Schläfe aus. Ließ ihn hinab gleiten auf die feuchte Erd‘, Band ihn an seinen rechten Bügel aus Damaszenerstahl / Führte ihn ins schöne freie Feld“ weiter nach Kiew als Beweis für seinen Mut, seine Kraft und seine List. In Kiew angelangt, stellte er sich in den Dienst des Fürsten, der ihn zum Ritter schlägt. Fortan sorgt Muromez für den Schutz der Rus, der Städte, der lebenswichtigen Handelswege und Karawane. So verteidigt Ilja Muromez u.a. die Stadt Tschernihiw gegen einfallende heidnische Tataren; er befreit auch die von Tataren eroberte goldene Stadt Kiew vom fremden Joch: „Überfallen hat sie ein unreiner Götzenmann / Eingenommen die heidnische Tatarenmacht / Die heiligen Ikonen zerschlug sie / Traten sie in den schwarzen Schmutz / Machten die Kirche zum Pferdestall.“ Mit seinem Streitkolben besiegt Muromez die ungläubigen Heiden und ihren mächtigen Götzenmann: „So schritt er durch die Heiden und schlug auf sie ein / Mit dem unreinen Götzenmann. / In drei Stunden schlug er sie alle tot / Ließ keinen Unreinen zum Samen zurück“.     

Die Heldenfigur Ilja Muromez inspiriert bis heute zahlreiche Dichter, Musiker, Künstler und Historiker. Zu ihnen zählen in der russischen Kultur und Literatur u.a. Karamzin, Tolstoi. Die legendäre Figur findet weiterhin Eingang in die skandinavische und deutsche Kultur und Literatur, stets dargestellt als ein typischer russischer Recke. So taucht in der Sage von Ortnit (Dietrich von Bern) der russische Heerführer Ilias von Riuzen auf, der wahrscheinlich aus Nowgorod kam. 1813 wurde in Leipzig das Buch „Fürst Wladimir und dessen Tafelrunde. Altrussische Heldenlieder“ anonym herausgegeben. In der Nachdichtung von Carl Heinrich von Busse werden die Heldentaten des Ilja von Murom besungen. 1892 erscheint Bernhard Sterns Prosaadaption „Fürst Wladimirs Tafelrunde. Altrussische Heldensagen“. Rainer Maria Rilke wiederum kommt auf Ilja Muromez im ersten Gedicht seiner Sammlung „Das Buch der Bilder“, genauer im Gedichtzyklus „Die Zaren“ (1899/1906) zu sprechen. Rilkes Märchenerzählung „Der Drachentöter“ (1901) scheint ebenfalls von der Heldengestalt des Ilja Muromez inspiriert zu sein. Die dritte Symphonie in h-Moll (1911) von Reinhold Moritzewitsch Glière, „Ilya Murometz“, geht ebenfalls auf die Heldentaten des legendären Recken zurück. 1920 wurde in Kalifornien Charles Caldwell Dobies „Ilya of Murom. A Folk-tale drama“ mit Musik von Ulderica Marcelli aufgeführt. Zwischen 1915 und 1922 verfasst der lettische Schriftsteller Rainis seine „Russische Tragödie in fünf Aufzügen. Ilja Muromietis“. Der Berliner Schriftsteller Hans Voss verarbeitet den Stoff 1933 zu einer eigenen Dichtung in neun Gesängen. Sein Epos „Ilja von Murom“ erscheint postum 1970 in Tel Aviv und 1982 in Weißenseifen in der Eifel. Der vom Flugzeugkonstrukteur Igor Iwanowitsch Sikorski entwickelte russische Doppeldeckerbomber „Sikorski Ilja Muromez“ war das erste viermotorige Flugzeug der Welt. Einer der stärksten sowjetischen Panzerzüge im Zweiten Weltkrieg trug ebenfalls den Namen „Ilja Muromez“. Bevor der Panzerzug die Außenbezirke von Berlin erreichte, hatte er bereits am 4. Juni 1944 sein deutsches Pendant in der Nähe der Stadt Kowel vernichtet.

Ilja Muromez wird gegenwärtig, wie auch das gesamte Erbe der Kiewer Rus, von Russland und von der Ukraine in Anspruch genommen.[5] So wurde im September des Jahres 2020 in Kiew ein monumentales Denkmal für Ilja Muromez in dem nach ihm benannten Park (zuvor Park der Völkerfreundschaft), am Ufer des Dniepr errichtet. Bei seiner Einweihung nannte Vitali Klitschko Ilja Muromez einen ukrainischen Volkshelden. Das führte zu unterschiedlichen, stark polarisierenden Äußerungen in den sozialen Medien. Russische Stimmen kritisieren heftig, dass ihr russischer Recke in einen ukrainischen Held verwandelt worden sein, und dazu noch der ukrainischen Mythologie zugeschrieben wird. Nicht nur die russische Armee betrachtet den „Volkshelden“ als eine vorbildliche Verkörperung des „russischen Charakters“, erkennt ihn als ihren Schutzpatron an. Die 1863 vom russischen Folkloristen Orest Fjodorowitsch Miller getroffene Feststellung: „Das russische Volk sei, wie Ilja, friedsam, mildmüthig, von allem Egoismus fern. Aus diesen Eigenschaften erwachse die Hoffnung auf eine große weltgeschichtliche Mission des russischen Volkes“, erhält im Kontext der gegenwärtig aggressiven und kriegerischen Politik Russlands nicht nur gegenüber der Ukraine eine neue Bedeutung.

Russische Flugzeuge, U-Boote, Schiffe und Eisbrecher tragen den Namen des legendären slawischen Recken. In der russischen Stadt Murom wird der legendäre Panzerzug „lja Mjuromez“ auf einem hohen Sockel gezeigt und am Ufer des Flusses Oka erhebt sich ein gewaltiges Denkmal für den großen „russischen“ Helden. Weitere Denkmäler gibt es in anderen russischen Städten, so in Wladiwostok und in Rostow am Don. Auch ein Asteroid des inneren Hauptgürtels (2968), „Ilya“, ist nach dem legendären Recken benannt. Und so reicht heute der Ruhm des Ilja Muromez von der alten Rus bis ins Weltall…

Ein Beitrag von Dr. Hans-Christian Trepte


Anmerkungen:

[1] http://stonecarving.ru/der-guslispieler.html

[2] Vgl. dazu auch: Baron Árpád v. Nahodyl Neményi: Der Slawen-Mythos: Wie aus Ostgermanen ein Volk der „Slawen“ mit fremder Sprache und Mythologie wurde. BoD Books on Demand 2015. https://www.amazon.de/Slawen-Mythos-Ostgermanen-fremder-Sprache-Mythologie/dp/3738637869

[3] https://www.vergleichende-mythologie.de/hic-sunt-dracones-der-drache-als-ein-schlangenartiges-mischwesen-in-ausgewaehlten-slawischen-kulturen-und-literaturen/

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Dobrynja_Nikititsch#/media/Datei:Viktor_Vasnetsov_-_%D0%91%D0%BE%D0%B3%D0%B0%D1%82%D1%8B%D1%80%D0%B8_-_Google_Art_Project.jpg

[5] https://ukraineverstehen.de/yekelchyk-politico-ukraine-russland-nicht-ein-land/


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Ilja Muromez – ein legendärer slawischer Recke“

  1. Sehr wichtig, dass man im Westen sich mal mit solchen osteuropäischen Mythen beschäftigt! Da kommt man dem Kern der Konflikte näher… vielen Dank!

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