Jenseits von Max und Moritz: der mehrdimensionale Wilhelm Busch

On revient toujours à ses premiers amours – man kehrt immer zurück zu den ersten Liebschaften – so bei mir Wilhelm Busch. Beim Aufräumen entdeckte ich Hefte mit Nachzeichnungen vom Lehrer Lämpel, Max und Moritz, Witwe Bolte, Schneider Böck und welche anderen Figuren dieses Universum des 19. Jahrhunderts noch bewohnten. Wilhelm Buschs Bilder, später auch die Texte, waren für mich eine Brücke in diese Vergangenheit. Ich fand die dicken Bände im bäuerlichen Haus meiner Großeltern auf dem Dorf und las in ihnen, während sie sich zum Nickerchen in ihre Gemächer zurückzogen. Es war die größte Stille, die man sich vorstellen kann, die Mittagsstille auf dem Lande. Und in diese stürzten sich Sonderlinge und foppende Affen, alte Junggesellen und dralle Mädchen, Imker und Bienenköniginnen – ein Staat für sich, und doch mit unsichtbaren Banden verknüpft mit diesem Haus, in dem ich solche Comic-Gestalten verschlang. Mit meinen Busch-Kopien wollte ich mir Eindruck verschaffen, vor allem bei einem Mädchen, das als einziges unser Jungen-Gymnasium damals besuchte. Der Versuch ging daneben, aber der Busch, der blieb.

Ich war damals zwar in Revolte gegenüber dem katholischen Dorf, in dem ich aufgewachsen war, und Wilhelm Busch half mir, mich an den Klerikern, an der Frömmelei und Heuchelei abzuarbeiten. Aber es war doch ein eher harmloser Humor, der sogar von diesen Autoritätsfiguren beiseite gelächelt wurde – war ja eine andere Zeit, ein Jahrhundert zuvor, alles nicht mehr so schlimm heute.  Was die Gewalt anging in Buschs Bildgeschichten, so war das sicherlich richtig. Es wurde nicht mehr reingedroschen auf uns Schüler, die meisten von uns waren auch keine Tierquäler und schossen nicht mit scharfen Pfeilen auf einsame Dichter. Wir zersägten keine Brücke und stopften keine Pfeifen mit Schwarzpulver. All das geschieht jetzt eher im Fernsehen oder auf Youtube. Dennoch schien Buschs Welt eine gewisse Gemütlichkeit gehabt zu haben. Der dampfende Braten, das Eheleben zwischen hohen Federkissen, das Zusammenleben mit Schweinen, Hunden und Bienen. Ruhe und Ordnung schienen zu herrschen, bis die bösen Buben kamen. Busch war sicherlich kein Sadist, auch wenn manche Bilder dies suggerieren. Im Gegenteil, er war ein Tier- und Menschenfreund. Zur Freundschaft mit dem Menschen gehört allerdings auch die Kritik, die immer zugleich Selbstkritik ist.

Wilhelm Busch, geboren 1832, dem Jahr, in dem Goethe starb, war kein idyllischer Mensch, wie seine Geschichten manchmal vermuten lassen, er durchlebte manche Krise. Er brach sein Malstudium in Düsseldorf und Antwerpen ab, weil er glaubte, kein richtiger Maler werden zu können. Als er in die dörfliche Heimat von Niedersachsen zurückkehrte, ging es ihm nicht gut. Eigentlich hatte er ja Maschinenbauer werden sollen. Was den 24jährigen auf der Suche nach seinem Weg rettete, waren die Märchen und Sagen der ländlichen Bevölkerung, der Schäfer, Bäuerinnen, Imker und Tagelöhner. Er suchte sie auf, gewann ihr Vertrauen und ließ sich erzählen. Alles wurde fein aufgeschrieben, teils dekoriert und gesammelt, doch zu Lebzeiten nie veröffentlicht. Die andere, vergangene Welt, in der das Wünschen noch geholfen hatte, gab ihm Zuflucht und Halt. Gerade das Geheimnisvolle und Luftige, aber auch das sehr Irdische darin sorgten für Orientierung, die dieser Freigeist benötigte. Er zog nach München, wo die Freigeisterei und Malerei sich verbündeten, zeichnete seine ersten Bildgeschichten. Max und Moritz wollte man erst nicht haben, doch damit kam dann der Durchbruch. Böse Buben machen Geld, allerdings nicht für den Autor, denn der hatte sie zu einem Spottpreis verscherbelt. Dennoch: sein Ruhm war gemacht, aber damit auch die Fessel, möglichst viel Ähnliches zu machen, nach dem nun alle schrien. Ihm erging es also wie Conan Doyle, der auf seinen Detektiv reduziert wurde, Chesterton auf seinen Pfarrer Brown, Andersen auf seine Märchen. Keine Rede im kulturellen Gedächtnis mehr von den anderen Werken, die diese Autoren für viel wichtiger hielten. Im Nachteil sind auch immer Autoren, die für die Jugend geschrieben haben und von dieser gelesen wurden. Denn für den erwachsenen Leser sind sie damit ausgemustert. Glücklich also jene, die Wilhelm Busch oder all die anderen erst später im Leben entdecken. Sie werden Überraschungen erleben.

Etwa, dass Busch eine stark metaphysische Seite hatte. Das heißt nicht, dass er das Übernatürliche erforscht hatte, aber es war ihm präsent – als Spukgeschichte, Jenseits oder Wiedergeburt. Der Tod haucht seinen Werken und Gedanken Leben ein. Oder besser: die Ewigkeit. „Einer staunte darüber, wie leicht er den Weg der Ewigkeit ging; er raste ihn nämlich abwärts.“ Der Satz hätte von Busch sein können, ist aber von Kafka. Busch verfolgt immer wieder die Spuren der Ewigkeit:

Mein Lebenslauf ist bald erzählt.

In stiller Ewigkeit verloren

Schlief ich, und nichts hat mir gefehlt,

Bis dass ich sichtbar war geboren.

Am Ende des Lebens sieht er sich am alten Platz; er ist im Kreis gelaufen: Und vor mir dehnt sich lang und breit/ Wie ehedem die Ewigkeit.

(zu seinem 75. Geburtstag)

In manchem ist er Nietzsche nah: die ewige Wiederkehr, der Wille in der Natur zum Leben oder zur Macht, die Kritik am heuchelnden Christentum und Gutscheinenwollen. Nietzsche selbst war ihm, obwohl zeitlich nah, doch sehr fremd: zu hysterisch, zu überhitzt. Dagegen setzte er lange auf Schopenhauer, der wiederum für Nietzsche in seinen jüngeren Jahren prägend war. Von Schopenhauer holte sich Busch die Distanz zum Alltag, zur Geschichte selbst, war doch überall ein blinder Wille unterwegs, der sich in den unterschiedlichsten Formen manifestierte, vor allem aber im menschlichen Ego. Das holt sich in Buschs Bildergeschichten immer wieder eine blutende Nase. Das Wünschen treibt den Menschen in immer neue Sackgassen, oder besser, in weiteres vom selben Regal: „Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt, kriegt augenblicklich Junge.“ Schopenhauer brachte das indische Denken nach Deutschland, und darin ist die Vorstellung der Reinkarnation zentral. Busch fand diesen Gedanken sehr gut nachvollziehbar (auch wenn Skepsis blieb) und las noch kurz vor seinem Tod in der Bhagavad Gita, in der es um genau diese Fragen geht. Daneben las er übrigens regelmäßig den sozialdemokratischen Vorwärts. Er war nicht weltabgewandt, aber er pflegte Distanz, die ihm das Beobachten ermöglichte.

Was hat Reinkarnation mit Sprache zu tun? Eines seiner Lieblingsbücher war der Kluge, das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache des Friedrich Kluge, lieferbar seit 1881. Ich werde jetzt eine Grätsche machen und behaupten, dass Buschs Liebe zur Etymologie eine Reflexion seines (zeitweisen) Glaubens an die Wiedergeburt darstellt. Wer solche Wörterbücher liest, sieht, woraus sich Wörter entwickeln, aus welchen Urworten und aus welchem Urschleim. Man kann weiterhin verfolgen, wie sie sich verändern, oft sogar in ihrer Bedeutung sich ins Gegenteil verwandeln. Wie sie verschwinden aus dem alltäglichen Sprachgebrauch und eines Tages unverhofft und in ganz anderem Gewand wieder auftauchen. Die verschwindenden Begriffe können als Geister wiederkehren und an unsere Sprachfenster klopfen. Vielleicht versehen wir sie mit Tabus, wie „N-Wörter“ oder „Z-Wörter“ oder das „F-Wort“. So bietet ein etymologisches Lexikon Einsicht in die Prozesse unserer Erinnerungen, die Strukturen des kollektiven Gedächtnisses und in das Eigenleben der Wörter. In Buschs Bildgeschichten und Versen tummelt sich ohnehin eine Welt von Dingen, Nasen, Schwänzen, Händen und Füßen nach eigenen Gesetzen, die sich nicht der Zivilisation unterordnen wollen. Die Wörter selbst folgen Reimen und (meist) nicht der Prosa, sondern den Formen des Metrums. Auch das ist Eigenleben der Sprache. Die Tücke des Objekts (das Likörglas, der Zaun, die Schere und die Kerze) und die Tücke der Sprache sind ungebändigt wie der Affe Fipps. Sprache aber ist immer im Werden, Vergehen und Neugeborenwerden in schöpferischen Akten.

Im Alter schrieb Busch auch Prosageschichten, vor allem „Eduards Traum“ und „Der Schmetterling“. Hier nur eine Notiz zu „Eduards Traum“, die Geschichte eines interessanten Gedankenexperiments. Eduard erzählt seinen Freunden einen merkwürdigen Traum, den er hatte. In diesem Traum verwandelt er sich in einen Punkt, also fast ein Nichts. Auch der späte Busch bemühte sich, ein „Nichts“ zu werden: zog sich zurück, verbrannte viele seiner Bilder und lebte bescheiden-beschränkt im Schoße der Familie als Junggeselle und Onkel. Dieser Eduard nun kann sich aufgrund seiner Nichtigkeit durch Wände und Dächer bewegen, ganze Ländereien überfliegen und sich in merkwürdigen Gegenden niederlassen (ein wenig wie Jean Pauls Luftschiffer Giannozzo, aber auch Jonathan Swift mit seinem Gulliver). Als erstes landet er im Reich der Zahlen, „wo ein hübsches arithmetisches Städtchen lag.“ Gleich stößt er hier auf eine intrigante Null, die sich politisch betätigt, sieht aber auch die gebrochenen Zahlen als Bettler am Straßenrand sitzen. Schützenfest gibt’s ebenso im Völklein der Punkte, sowie hüstelnde mathematische Punkte, die nun wirklich nichts zu verlieren hatten. Kurz und gut: die Welt der Punkte ist nicht viel anders als die der Menschen, die im dreidimensionalen Raum leben. Also auf zur zweiten Dimension, die man durch ein extrem niedriges Tor erreicht. Dort gibt es ein Standesamt, das Kongruenzamt, auf dem geklärt wird, wieweit die geometrischen Figuren kompatibel sind. Auch Aufsteiger finden sich hier. Der mathematische Punkt hat es durch eine Drehung in der Ebene zu einem Kreis gebracht, war damit in die dritte Dimension vorgedrungen, wo er sich zu einer „wohlbeleibten Kugel“ entwickelte (wir sehen schon eine Bildergeschichte à la Knopp vor uns). Er war eben ein Streber und plante eine Karriere als Globus in einer Realschule. Und so geht die phantastische Reise weiter, eine Reise durch das Gehirn und die Erinnerungen. Auch durch die Weltanschauungen – Äußerungen, in denen stereotype Juden auftauchen nebst Belustigungen über Antisemiten. Ein antisemitischer Luftschiffer landet bei einem Notsprung auf dem Blitzableiter einer Synagoge. Eine Ente namens Tricktracktrilljäs scheint das Fähnlein Fieselschweif vorwegzunehmen. Der Punkt Eduard fliegt in manche Häuser und sieht Glück und Elend, in ein Wirtshaus, wo mit Falschgeld bezahlt wird und dann weiter über Kontinente, ja, in den Weltraum. Von dort sieht er die Erde wie einen mit Semmelbrocken gespickten Knödel. Die Reisen werden immer wieder unterbrochen, acht Mal, von einer lauten Ermahnung: Eduard schnarche nicht so! Dezenter Hinweis, dass Eduard weiterhin schläft neben der Gemahlin. Die Unterbrechungen kommen an signifikanten Stellen vor, etwa, wenn es um Reinkarnation, Offenbarung, den Ursprung der Sprache oder die Konkurrenz geht. Utopisches Denken wird einerseits lächerlich gemacht – der alte Adam setzt sich immer durch. Andererseits findet Eduard auf seinem Trip, der in manchem auch einer Nahtoderfahrung ähnelt, zukunftsträchtige Phänomene: „Aber dass Wichtigste war, dass man keine Kohlen mehr nötig hatte. Vermittelst sinnreicher Brennglasapparate sammelte man während der guten Jahreszeit nicht bloß so viel Sonnenwärme, als zum Betriebe aller Maschinen, Öfen, Lampen, Töpfe und Wärmeflaschen des Landes erforderlich wäre, sondern auch zu bloßen Belustigungszwecken noch immer was drüber.“ 

Es ist ein reichhaltiger Text, auf jeder Seite fallen einem Assoziationen ein: vor allem zu den geometrischen Phantasien des Viktorianers Edwin Abbott Abbott, der 1884 mit Flatland einen Klassiker über die Gesellschaften in den vier Dimensionen schrieb. Buschs Text erschien sieben Jahre später. Weitere Parallelen: Kafka, Dante, Platon, Swift oder H.G. Wells. Handelt es sich um Phantastik, Wissenschafts- und Religionskritik, um Kritik des Herzens, Psychologie oder Surrealismus? Nichts scheint er auslassen zu wollen.

Belassen wir es bei diesem merkwürdigen Text, der einerseits völlig aus der Zeit gefallen scheint, andererseits ihr auch vorausgeeilt ist – wie Busch überhaupt.

Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel


Literaturhinweise:

Mann, Golo. „Der lachende Pessimist, Wilhelm Busch“. In Wir alle sind, was wir gelesen. Aufsätze und Reden zur Literatur. Berlin: Verlag der Nation 1991.

Schury, Gudrun. „Ich wollt ich wär ein Eskimo“. Wilhelm Busch. Die Biographie. Berlin: Aufbau 2010.

Neyer, Hans Joachim, Hans Ries und Eckhard Siepmann, Hgg. Pessimist mit Schmetterling. Wilhelm Busch – Maler, Zeichner, Dichter, Denker. Hannover: Wilhelm Busch Gesellschaft 2007.

Ueding, Gerd. Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature. Frankfurt/M.: Insel 1977.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „Jenseits von Max und Moritz: der mehrdimensionale Wilhelm Busch“

  1. Schöner Text. Auch ich bin immer schon gefesselt gewesen von den Bildgeschichten des Wilhelm Busch. Habe sie oft meinen Kindern vorgelesen, die die letzte Geschichte von Max und Moritz die spannenste fanden – soviel zum Thema Gewalt in Kinderlektüren.

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