“Magia reformata”: Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim – Leben und Werk eines Renaissancemagiers, 1. Teil

Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486-1535) zählt wohl zu den schillerndsten  Gestalten der Magiegeschichte. Sein unstetes Leben, teils bedingt durch die feindlich gesinnte Umgebung, teils durch eigenen Antrieb, steht über das Einzelschicksal hinaus für eine Zeit des geistigen und kulturell-gesellschaftlichen Umbruchs. Der in vielen verschiedenen Künsten versierte Nettesheimer muss, wie manche seiner Zeitgenossen, wirtschaftlichen Reichtum und tiefe Armut erleben, genießt höchste Fürstengunst und fällt wieder in Ungnade. Als gelehrter Philosoph mit humanistischen Zügen verteidigt Agrippa vehement seine naturphilosophischen Ideen und gesellschaftskritischen Ansichten gegenüber seinen Gegnern – ein Charakterzug, der ihn zusammen mit seinem bereits zu Lebzeiten zwiespältigen Ruf; ein Schwarzkünstler und Hexenmeister zu sein, mehrfach in Lebensgefahr und an den Rand der Existenz bringt. Die Beschäftigung mit Magie genießt eben, wie so vieles andere in seinem Leben, einen zwiespältigen Ruf.

1533 erscheint in Köln sein Hauptwerk über die Magie: De occulta philosophia libri tres – Drei Bücher über die geheime Philosophie -, das bis heute zu den großen Schriften der Magiegeschichte zählt.Diese monumentale Schrift ist Agrippas Versuch, die „magische Wissenschaft“ wieder zu ihrem alten Glanz zurückzuführen – denn, so schreibt er in der Einleitung des Werks: Nach reiflicher Erwägung glaube ich die Ursache hiervon darin gefunden zu haben, dass als die Zeiten der Menschen schlechter wurden, sich viele Pseudophilosophen und angebliche Magier sich eingeschlichen […] und sogar mit der orthodoxen Religion gegen die Ordnung der Natur und zum Verderben der Menschen einen schändlichen, gotteslästerlichen Missbrauch trieben.(DOP: Vorrede, S. 47). Das Bild von Magie und Magus sind korrumpiert und durch die Jahrhunderte hindurch verdorben worden. In aller Ausführlichkeit versucht der Nettesheimer in De occulta, philosophische, religiöse und naturwissenschaftliche Konzepte und Vorstellungen zu ordnen und unter dem Gesichtspunkt „Magie“ miteinander zu einem geschlossenen System zu verknüpfen.

Angesichts einer solchen Herkulesaufgabe verwundert es kaum, dass Agrippa mit seiner Schrift zu einem der einflussreichsten Magietheoretiker der Renaissance avanciert und seine Schriften bis ins 20. Jahrhundert kontinuierlich (positiv, wie negativ) zitiert werden. Doch wer war Agrippa von Nettesheim? Sein Leben kennen wir aus seinen vielen Briefen nur unvollständig. Im Folgenden will ich eine biografische Skizze des Nettesheimers vorlegen. Ein zweiter Teil wird sich mit der Philosophie Agrippas und der Bedeutung seiner Schriften auseinandersetzen.

Jugend in Köln und erste Schritte (1486-1511)

Über die Kinder- und Jugendzeit Agrippas wissen wir so gut wie nichts. Einzig einige Briefe Agrippas aus viel späterer Zeit geben Hinweise auf seine Jugend. Geboren 1486 in Nettesheim bei Köln, wächst der junge Agrippa als Sohn einer verarmten Adelsfamilie auf. Er berichtet in einem Brief, dass er als Kind in Astrologie unterrichtet wurde. Inwieweit dies ernst zu nehmen ist oder es sich nicht eher um eine zynische Bemerkung des älteren Agrippas über den Schulstoff seine Jugend handelt, ist nicht mehr nachvollziehbar (er hat Zeit seines Lebens eine starke Abneigung gegen die Astrologie gehegt). Agrippa wird dennoch eine gute Bildung im Elternhaus genossen haben. Ab 1499 beginnt er sein Studium der septem artes liberales an der Universität zu Köln. Hier kommt er mit den Schriften von bedeutenden Gelehrten wie Albertus Magnus (1200-1280), Raimundus Lullus (1232-1316) und anderen Denkern der mittelalterlichen Welt in Kontakt. Es ist gut möglich, dass Agrippas Begeisterung für Magie gerade durch die Schriften von Albertus Magnus entfacht wird. Der bereits zu Lebzeiten mythisierte Denker hatte sich in seinen Werken mit allen wichtigen Belangen der mittelalterlichen Welt auseinandergesetzt und galt ebenfalls als in den magischen Künsten bewandert. So nennt ihn sein Schüler Ulrich von Straßburg einen in rebus magicis expertus – erfahren in magischen Dingen. Alberts Schriften Liber de natura et origine anima (Über die Natur und den Ursprung der Seele), De homine (Über den Menschen) und De mineralibus (Über Minerale) behandeln Fragen zur Beschaffenheit der Natur, dem Menschen, Alchemie, Magie, antike griechische Philosophie und Theologie.

1507 wechselt er nach Paris, um dort seine Studien fortzuführen. Zu dieser Zeit gründen er und einige Mitstreiter einen Geheimbund, der ein Leben lang halten sollte. Das erklärte Ziel dieses Bundes ist nicht nur der Austausch von Informationen, sondern die gemeinsame Erforschung von Magie. Agrippa wird den Rest seines Lebens mit den Mitgliedern dieses dann über ganz Europa verstreuten Zirkels mittels Briefen in Kontakt bleiben. Der Austausch von Nachrichten, eigenen Ideen und Schriften und im Notfall sogar Hilfe in schwierigen Lebenssituationen, ist für Agrippa, wie auch für alle anderen gesellschaftlich und politisch agierenden Personen seiner Zeit, ein fester Bestandteil der Kommunikation und Vernetzung gewesen.

1508 ist Agrippa in Spanien, um einen Freund bei der Belagerung einer Festung zu unterstützen. Das Abenteuer gelingt, doch er und seine Freunde sehen sich nach erfolgreicher Eroberung der Burg plötzlich als Belagerte wieder, da unzufriedene Bauern aus der Umgebung rebellieren. Agrippa täuscht einen Pestausbruch mittels Schminke vor und kann so die Belagerer zur Aufgabe bringen. Er reist nun einige Zeit durch Frankreich, nachdem sich die Freunde kurzfristig getrennt haben. Um Geld zu verdienen, übt er während dieser Zeit alchemistische Tätigkeiten aus.

Ein gutes Jahr später, 1509, ist er an der Universität Dôle in Frankreich, Region Bourgone-France-Comté, und gibt Vorlesungen, u.a. über die christlich-kabbalistische Schrift De verbo mirifico (Das wundertätige Wort) des Humanisten Johannes Reuchlin (1455-1522). Es ist anzunehmen, dass Agrippa in Dôle die Position eines Theologieprofessors innehatte. Agrippa versteht sich in erster Linie als Gelehrter und nicht als Soldat. Dass sich der Nettesheimer im Laufe seines Lebens eine umfassende Bildung angeeignet hat, bezeugen seine unterschiedlichen Tätigkeitsfelder. So wird er zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt seines Italienaufenthaltes zum Doktor der Juristerei und der Medizin promoviert.

Unterstützung erhält Agrippa durch Erzbischof Antonine de Vergy, den Kanzler der Universität Dôle. Seine Vorlesungen erregen Aufmerksamkeit (u.a. angeregt durch den Kanzler der Universität); so gehören der Dekan der Kirche in Dôle, stellv. Rektor der Universität und Doktor der Rechte, Simon Vernerius, sowie weitere hochrangige Fakultäts- und Parlamentsmitglieder zu seinen Zuhörern. Agrippa erhält so Zugang und Kontakt zu vielen hochrangigen Universitätsmitgliedern. Ziel seiner Bestrebungen ist der Gunstgewinn (und damit ein geregeltes finanzielles Einkommen) von Margarete von Österreich (1480-1530), der Regentin der habsburgischen Niederlande. Er verfasst die Schrift De Nobilitate et praecellentia foeminei sexus (Vom Adel und Vorrang des weiblichen Geschlechts), welche der Regentin gewidmet ist, aber erst gut 20 Jahre später gedruckt werden wird. Den Druck hatte der Provinzial der Franziskaner, Pater Jean Catilinet, verhindert. Der Pater avanciert in Kürze zu einem erbitterten Gegner Agrippas, der von der Kanzel gegen ihn und seine jüdisch-kabbalistischen Gedanken hetzt und ihn vor dem gesamten Hofstaat Margaretes der Ketzerei und Häresie beschuldigt. Agrippa verliert daraufhin die Gunst am Hofe Margaretes. Er verteidigt sich allerdings erst 1510 gegen Catilinets Angriffe mit der Schrift Ex postulatio contra Catilinetum (Beschwerde gegen Catilinet). Zu diesem Zeitpunkt ist er gerade in London. Erst aus dieser Schrift kennen wir den Ablauf des Geschehens, wenn auch nur aus Agrippas Perspektive.

Die Anfeindungen des Franziskaners erzielen schließlich ihre Wirkung. Im Sommer 1509 wird Agrippa noch an der Universität in Dôle habilitiert, verliert allerdings die Gunst des Hofes. Niedergeschlagen verlässt er im Herbst des Jahres die Stadt und kehrt in seine Heimatstadt Köln zurück. Dort angekommen, nutzt er diese kurze Ruhephase, um sich wieder intensiv seinen Magiestudien zu widmen. Er tritt nun in Kontakt mit dem gelehrten Abt des Klosters St. Jakob bei Würzburg, Johannes Trithemius (1462-1516), der sich ebenfalls mit Begeisterung dem Studium der magischen Künste widmet. Im Winter 1509 auf 1510 tauschen sich die beiden bei einem Besuch Agrippas im Kloster intensiv über Magie und deren Stellenwert aus. Kurze Zeit darauf verfasst Agrippa eine erste handschriftliche Fassung seines Hauptwerkes De occulta philosphia. Trithemius lobt das Manuskript, rät jedoch von dem ursprünglichen Titel De magia ab, da dieser zu anstößig sei. Diese Warnung seitens Trithemius wird wohl der auch Grund gewesen sein, warum De occulta philosphia lange Zeit nur in Manuskriptform kursierte (erst 1533 wird eine erweiterte Version gedruckt werden).

Agrippa in Italien (1512-1517)

Weiterhin auf der Suche nach einer Anstellung und in Ermangelung von Alternativen tritt Agrippa schließlich in die Dienste Kaiser Maximilians I. (1459-1519). In dessen Auftrag reist er nach London, um über die Politik des englischen Königs Heinrich VIII. (1491-1547) zu berichten. Agrippa, der insgesamt acht Sprachen spricht, scheint sich als Diplomat bewährt zu haben, denn im folgenden Jahr wird er von Maximilian I. nach Italien gesandt. Dort kämpft er, wieder als Soldat, mit dem kaiserlichen Heer 1512 gegen die Streitkräfte Venedigs und wird noch auf dem Schlachtfeld zum Ritter geschlagen. Die nun folgenden Jahre sind von Reisen durch Italien gekennzeichnet. So wird Agrippa u.a. als theologischer Berater zum Konzil von Pavia entsandt. Zeitgleich wird er Mitte des Jahres ad lecturam philosophiae – zum Lesen der Philosophie – an der Fakultät der freien Künste an der Universität Pavia (Italien) angestellt. Dort hält er eine Ehrenvorlesung über Platons Schrift Convivium (Oratio in praelectionem Convivii Platonis, amoris laudem continens – Gastmahl: Eröffnungsrede über Platons Gastmahl, welches das Lob der Liebe enthält).

Als jedoch im Juni 1512 die französische Herrschaft, welche durch milanesische (Mailand) Besatzungstruppen gesichert wird, langsam aufgrund der lokalen Aufstände zusammenbricht, entscheidet sich Agrippa im September 1512, Pavia und damit das milanesische Gebiet zu verlassen. Es folgen weitere drei unruhige Jahre, in denen Agrippa durch Norditalien, Südfrankreich und die Schweiz von Fürstenhof zu Fürstenhof zieht, stets auf der Suche nach neuen Auftrags- und damit auch Geldgebern.

Im Frühjahr 1515 kehrt Agrippa schließlich wieder nach Norditalien zurück. Er lässt sich in dem wieder friedlichen Pavia mit seiner frisch angetrauten Frau nieder. Mittlerweile aus kaiserlichen Diensten ausgeschieden, hält er Vorlesungen an der Universität über die Schriften des Hermes Trismegistos (PimanderWissen des Re) und das arabische Zauberbuch Picatrix. Die Schriften des legendenhaften Hermes Trismegistus und das Picatrix sind grundlegend für die hermetisch-magische Ideenlehre in der Renaissance.

Welche Kontakte hatte Agrippa neben dem Einfluss der Familie seiner Frau, um an der Universität eine Stelle zu bekommen? Es ist anzunehmen, das er bereits während seiner Schweizaufenthalte 1513 und 1514 Kontakt zu einem Agenten des rebellischen Herzogs von Milan, Massimilano Sforza, aufnahm. Solcher Einfluss am Hofe half ihm möglicherweise, eine Stellung an der Universität zu erhalten. So erscheint es ganz opportun, dass er in seiner Eröffnungsrede zum Pimander sowohl den Herzog als auch den bekannten Condottiere Francesco Gonzaga, Marquis von Mantua, welche sich beide im Auditorium befinden, herausragend lobt. Doch das Glück sollte Agrippa wieder nicht lange erhalten bleiben. Die Eroberung Milans durch die Franzosen zwingt Agrippa und seine Frau, die Stadt zu verlassen. Er verliert seinen gesamten Besitz und seine Stellung an der Universität. Zuerst flüchtet er mit der Familie nach Casale Monferato, einer kleinen Gemeinde in Norditalien, da ihm der Marquis Guglielmo IX Paleologo  Unterschlupf und Pension gewährt. Agrippa und seine Familie bleiben bis zum Frühjahr 1517 dort. Im Gegenzug für die Gastfreundschaft des Marquis widmet er ihm seine Schriften Dialogus de homine (Ein Dialog über die Menschen) und De triplici ratione cognoscendi Deum (Über den dreifachen Weg, Gott zu erkennen).

Doch der Nettesheimer ist schnell unzufrieden mit der kleinen Pension und fühlt sich zu Höherem berufen. Ein Leben als Sekretär des Marquis kann er sich auf Dauer nicht vorstellen. Daher nimmt er bald wieder Verhandlungen über eine neue Stelle auf. Einer der anvisierten Personen ist ein gewisser Meister Hannibal, dessen Gunst ein mit Agrippa befreundeter Priester aus Vercelli versucht zu sichern. Diese bisher im Dunkeln der Geschichte gebliebene Person verspricht Agrippa eine Pension von 200 Dukaten. Aber Agrippa ist wählerisch, denn er erhält auch ein Angebot von einem gewissen Ludovico Cernole (ebenfalls aus Vercelli), der ihm anbietet, eine Unterkunft für ihn zu organisieren, bis Meister Hannibal seine Zusage gegeben hat. Auch wenn diese Verhandlungen noch bis zum 2. Juni 1516 laufen, kommt es zu keiner Einigung, und Agrippa bleibt vorerst in Casale. Als sich im Frühjahr 1517 abzeichnet, dass er bei Meister Hannibal keine Stellung erhalten wird, bricht er schließlich seine Zelte in Italien ab.

Wanderjahre (1518-1532)

Wieder beginnt eine Zeit der Wanderschaft, diesmal mit seiner Frau und dem 1517 geborenen Sohn Aymont. Erst durch die Vermittlung von Freunden schafft es Agrippa, eine Anstellung als Stadtschreiber und Redner in Metz zu erhalten. Dort ansässig geworden, nimmt er auch wieder seine akademische Tätigkeit auf (der Verlust seiner Bücher macht ihm schwer zu schaffen, wie er in einem Brief an einen Freund bekundet). Dennoch verfasst er 1519 die Schrift De Originali Peccato (Von der Erbsünde), eine Abhandlung über die Ursünde. Agrippa vertritt in dieser die kontroverse Meinung, dass Adams Sünde nicht der Biss vom Apfel, sondern der Geschlechtsverkehr mit Eva gewesen ist. Ebenfalls aufsehenerregend während der Zeit in Metz ist Agrippas Rolle in einem Hexenprozess. Noch im selben Jahr ergreift er Partei für eine der Hexerei angeklagte ältere Bäuerin aus der Stadt Woippy (Umland von Metz). Agrippa übernimmt die Verteidigung der Angeklagten im folgenden Inquisitionsprozess und kann entgegen aller Wahrscheinlichkeit einen Freispruch erwirken. Dies gelingt ihm, indem er formale Rechtsverstöße und die Inkompetenz des beteiligten Inquisitors Claudius Salini  nachweist. Doch hat dieser Erfolg auch seine Schattenseiten, denn Agrippa, dessen Ruf in Kirchenkreisen bekannt ist, fällt in Ungnade bei den Stadtoberen. Er wird formal von seinen Pflichten freigestellt (eine Erleichterung, wie er schreibt), allerdings fällt damit auch sein Einkommen weg. Daher beschließt der Nettesheimer, zusammen mit seiner Familie Frankreich zu verlassen und vorerst in seine Heimatstadt Köln umzusiedeln.

Das Leben in Köln gestaltet sich vielseitig. Freunde kommen zu Besuch und Agrippa kann sich wieder in Ruhe seinen Studien widmen. Zudem ist sein Ruf als Gelehrter, Arzt und Jurist mittlerweile in aller Munde. So bittet Theodor Graf von Manderscheid um Agrippas technischen Rat hinsichtlich der Funktion von Mühlen. Der Gelehrte hat also viel zu tun. Dass es bei aller erfolgreichen Geschäftigkeit nicht nur ruhig im Hause Nettesheim zugeht, zeigt ein Briefwechsel Agrippas mit einem seiner Studenten. Dieser schreibt nachdem er wegen Fehlverhaltens aus den Diensten Agrippas entlassen, einen herzzerreißenden Brief an seinen Herrn:

Sei gegrüßt, mein Herr, Deine Gattin und Söhnlein mögen gesund sein! Deine Güte gegen mich bewirkt halb gegen meinen Willen, dass ich an Dich schreibe, nicht weil ich einen Diener würdigen Stoff habe, sondern um dich zu versöhnen, wenn Du es noch nicht ganz sein solltest. Ich möchte wirklich, dass diese Uneinigkeit zwischen uns nicht entstanden wäre! Aber schreibe sie mir nur zu. Wenn ich mich gebührend benommen hätte, wäre sie keineswegs entbrannt. Aber von später Reue ergriffen, erkenne ich meinen irrtum und nicht Dein Überwollen gegen mich. Obwohl ich dich also beleidigt habe, mißtraue ich nicht, sondern im Vertrauen auf Deine einzigartige Menschenfreundlichkeit und dein Wohlwollen, welches du immer gegen mich gezeigt hast., obwohl ich es nicht verdiene, überschicke ich dir diese Kleinigkeiten, damit Du mir Bittenden verzeihst. […] Unwissend beleidigte ich dich, unwissend erkenne ich das Vergehen an. Ich hatte nämlich vorher keinem anderen gedient, sodass ich in diesen dingen Erfahrung gehabt hätte; aber wenn es mir beschieden ist, weiterhin zu dienen, werde ich versprechen mich anders zu verhalten. Von dir aber erbitte ich nur, Du mögest, wenn ich einmal zu dir gekommen bin, nicht nach meinem Verdienste mit mir verfahren, sondern gemäß Deines Wohlwollens gegen mich, wie Du pflegtest. […]  Dieses wollte ich dir inmitten meiner Beschäftigung schreiben. Sobald ich Sie geendigt habe, werde ich mit dem empfangenen Geld auf demselben Wege wie Du reisen und Dir folgen. Ich werde auch die niedersten Dienste tun, weil du um mich wohlverdient bist. Bis jetzt wissen nämlich meine Eltern nicht, das ich von Dir verabschiedet bin. Sie grüßen sehr lebhaft Dich und deine Gattin. […]  Lebe wohl mit deiner herzensguten Gattin und dem Söhnlein. Sie bitte ich in meinem Namen vielmals zu grüßen.“

Anscheinend haben die Worte des Schüler Agrippa doch bewogen, den fehlgeleiteten Zögling wieder in seine Dienste aufzunehmen. Seine Antwort fällt entsprechend aus:

Zugleich mit den Bitten meiner Gattin hat mich dein Brief versöhnt. Aber es hat mich gekränkt, dass du schriebest, es sei über Dich mir viel Unrichtiges zugetragen worden, als ob ich nicht wegen der sicheren Kenntnis deiner Unverdienste, sondern aus einem geringen Grund oder trügerischer Leichtgläubigkeit gegen dich erzürnt war. Ich weiß, dass ich gerechte Ursache gegen dich erzürnt war. […] Da Dich jetzt deine Irrtümer reuen, will auch ich sie gerne vergessen; denn als Sterblicher will ich keinen ewigen Zorn bewahren und nehm dich gern wieder in meinen Kreis auf im Vertrauen, dass derjenige, welcher einen begangenen Fehler bereut -wie ich glaube-, nicht in denselben nochmals verfallen wird. Kehre also möglichst schnell zurück und zwar, bevor ich abreise! Ich beabsichtige nämlich noch ungefähr 15 Tage in Köln zu bleiben.“. [Zit. nach August Jegel: Die Lebenstragödie des Dr. jur. Et med. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins. 20, 1938, S. 15-76. S. 44-45.]

Der Meister war also wieder versöhnt und guter Laune. Dies mag auch daran gelegen haben, dass Agrippa durch seine Kontakte erneut Aussicht auf eine Anstellung gefunden hatte, diesmal als Direktor des Genfer Stadtkrankenhauses. Diese Stellung hatte ihm sein Freund, Eustache Chapuys (Richter beim Kirchengericht der Stadt) verschafft, der ihm zudem das Privileg als freier Arzt zu praktizieren ermöglicht. Im Frühling des Jahres 1521 bricht er mit seiner Familie dorthin auf, nicht ohne vorher einen Zwischenhalt bei Freunden in Metz einzuplanen. Die Abreise dort verzögert sich, da seine Frau schwer erkrankt, nach einigem Ringen mit dem Tod schließlich verstirbt und in Metz begraben wird. Agrippa, von Kummer gezeichnet, reist vorerst alleine weiter und muss den vierjährigen Sohn in Obhut bei Freunden in Metz zurücklassen. Nun, alleinstehend und für seinen Sohn verantwortlich, stürzt er sich in Genf in die Arbeit. Sein Ruf als Mediziner ist gut, er gilt als einer der führenden Ärzte Europas. Da Medizin zu Agrippas Zeit eng mit Astrologie und Alchemie in Verbindung stand, wurde Agrippa bald eine Führungspersönlichkeit unter den an okkulten Studien interessierten Bürgern von Genf (dies bedeutet in realis das Studium antiker Texte). Sein kontinuierliches Interesse für diese Studien sind durch die Publikation eines astrologischen Kalenders in Genf für das Jahr 1523 belegt.

Auch bleibt Agrippa nicht lange alleinstehend. Schon im Herbst 1521 heiratet Agrippa seine zweite Frau, die 18 jährige Jana Luisa Tissie in Genf. Die Ehe scheint glücklich zu sein. Insgesamt sechs Kinder bekommt das Paar; eine Tochter (geboren in Freiburg), die allerdings kurz nach der Geburt stirbt und vier Söhne, Henri ( Lyon) und Jean (Antwerpen) sowie zwei weitere (beide Lyon) deren Namen allerdings nicht bekannt sind.

Allein, das Leben in Genf ist nicht nach Agrippas Geschmack. Die Stadt gefällt ihm nicht. Daher verlässt er diese 1524 mit seiner Familie schon nach einem Jahr, da er ein Angebot als Stadtarzt ins schweizerische Freiburg erhält. Agrippa bekommt noch eine letzte  Sonderzahlung des Genfer Stadtrates, bevor er, zunächst allein, in Richtung Freiburg aufbricht. Doch auch dort kann er nicht Fuß fassen, da die Ärzte und Apotheker der Stadt es ihm verübeln, dass er die Armen der Stadt umsonst behandelt. Erneut auf sein Netzwerk aus Freunden und Bekannten in der politischen und akademischen Oberschicht Europas angewiesen, vermitteln ihm diese eine Stelle in Lyon. Jedoch, als Agrippa Genf verlässt, schlägt er einen anderen Weg ein. Dieser führt ihn über Payerne und möglicherweise Lausanne, denn durch weitere Hilfe und Vermittlung seiner weitreichenden Kontakte hat er Anschluss an die höchsten Kreise des europäischen Adels gefunden und hofft nun auf eine Anstellung am königlichen Hof in Frankreich. Im Herbst 1524 ist es endlich soweit, denn das französische Königshaus samt Entourage  kommt endlich in Lyon an. Seine tatsächliche Stelle am königlichen Hof entpuppt sich als Leibarzt der chronisch kranken Königinmutter Luise von Savoyen (1476-1531), Mutter von Franz I. (1515-1547). Eine Stellung, über die Agrippa nicht sehr erfreut ist, hatte er doch auf eine Verwendung als Gelehrter und nicht als Arzt gehofft. Hinzu kommt, dass er wieder in Geldnöten ist, da er nur unregelmäßig Gehalt vom Hof bezieht. Um Aufmerksamkeit zu erlangen, widmet Agrippa der Herzogin Marguerite d’Alencon, der Schwester von Franz I. seine im Sommer 1526 entstandene Schrift De sacramento martimonii – Über das Sakrament der Ehe -, eine wortgewaltige Verteidigung der Ehe, durch die ein protofeministischer Zug weht. Er erhofft sich davon zweierlei: Erstens die Gunst der Herzogin zu gewinnen – dies scheitert allerdings; er wird nicht in ihren inneren Zirkel aufgenommen, erhält aber 20 Ecus d’or als Geschenk. Jedoch kommt er so in Kontakt mit ihren Vertrauten, denn als einige Angehörige des Hofes seine Schrift heftig kritisieren schreibt er einen Brief an Michel d’Arande, dem engsten Vertrauten von Marguerite. Zweitens hofft Agrippa so die Gunst seiner eigentlichen Patronin, Louise von Savoyen wiederzugewinnen. Und es scheint so als wäre noch nicht alles verloren. Louise von Savoyen fragt bei ihm ein astrologisches Horoskop über ihren Sohn Franz I.  an.

Die Königinmutter war, wie die meisten Menschen der Renaissance, von der Wirkkraft der Sterne auf den Menschen fest überzeugt. Sie führte von 1508 bis 1522 ein Journal mit Horoskopen und Vorhersagen, in denen sie alles über ihren Sohn und sich selbst notierte. Agrippa lehnt dieses mit einem Verweis auf die „Lächerlichkeit dieser Wahrsagekunst“ ab. Er schreibt einem Freund mit der Bitte, die Königin zu bewegen, ihn mit Aufgaben zu betrauen, die “mehr seinen Fähigkeiten entsprechen” als für “abergläubische Dinge” zu konsultieren. Allerdings wird seine Schmähung der Königinmutter publik. Der Seneschall Bohier zeigt Louise die indiskrete Briefe, in denen er sich über den Aberglauben der Königin beschwert. Verärgert über den Hochmut des Gelehrten entzieht die Königinmutter Agrippa daraufhin ihre Gunst. Der Versuch, mittels der eigenen Gelehrsamkeit am Hof Fuß zu fassen, ist damit endgültig gescheitert. Agrippa versinkt daraufhin in tiefer Verzweiflung, da er keine festen Bezüge vom Hof erhält und weiterhin mit Versprechen vertröstet wird.

Er beschwert sich, dass seine Freunde am Hof ihn mit ihren Versprechen belogen und betrogen haben und spielt sogar mit dem Gedanken, sich den Gegnern des französischen Königs anzuschließen. Am 7. Oktober 1526 erhält er inoffiziell die Information durch einen Finanzbeamten, dass sein Name von den Gehaltslisten gestrichen wurde. Um nun überhaupt an Geld zu kommen, greift er zu drastischen Mitteln. Die Frau von Pierre Salla, dem Cousin des Bischofs von Bazas, zu dem Agrippa guten Kontakt pflegt, lässt sich dazu bewegen, die Unterlagen des Schatzmeisters Thomas Bullion zu stehlen. Agrippa erpresst von Bullion gegen das Versprechen, das Verschwinden der Unterlagen nicht publik zu machen, eine geringe Summe für die Rückgabe der Unterlagen, obwohl er alle Kontakte spielen lässt und seine Freunde für ihn eintreten. Doch nichts scheint Louise wieder versöhnlich zu stimmen. Agrippa erhält keine Pension aus französischen Kassen. Trotz dieser katastrophalen Ereignisse und trotz seiner Zukunftsängste arbeitet Agrippa in dieser Zeit bereits an einer Schrift, die ihn über seine Zeit hinaus bekannt machen wird. Der Entwurf von De intcerteduine et vanitate scientiarium declamatio invectiva – Über die Fragwürdigkeit, ja Nichtigkeit der Wissenschaften, Künste und Gewerbe – nimmt immer mehr Gestalt an. In dieser von Skepsis geprägten Bekenntnisschrift attackiert Agrippa in einem Frontalangriff alle bekannten Wissenschaften, Medizin, Handwerkskünste und den Klerus. Selbst seine geliebte Magie wird nicht verschont, sodass man meinen könnte, Agrippa habe sich von ihr abgewandt. Aber hat er das wirklich? Wir können heute nur noch Vermutungen anstellen (eine sichere Quellenlage gibt es nicht). Agrippa bleibt uns, wie seinen Zeitgenossen, in vielen Dingen ein Rätsel. Gegen das Zu-Kreuze-Kriechen vor dem Klerus spricht die scharfe Kritik an Papst und Kirche. Die Bettelmönche nennt er „Schmarotzer“ und die Kutte eine Erfindung des Teufels, ja es finden sich sogar Spuren von Sympathie für den Reformator Luther. Die Gründe hierfür bleiben wohl für immer im Dunkeln der Geschichte.

Fortsetzung folgt …

Ein Beitrag von Leonhard Lietz


Leonhard Lietz ist Germanist und Historiker aus Düsseldorf. Zu seinen Schwerpunkten zählen u.a. vergleichende Kulturgeschichte, Mythologie und Magiestudien. Aktuell arbeitet er an seiner Dissertation über Agrippa von Nettesheim.


Literaturhinweise:

Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius. Opera, 2. Bände. Lyons o. J. (um 1580).

Ders., De occulta philosophia libri tres. Hrg. von Vittoria Perrone Compagni. Leiden 1992 (Studies in the History of Christian Traditions 48).

Ders., Die Magischen Werke und weitere Renaissancetraktate. hrsg. u. eingeleitet von Marco Frenschkowski. Wiesbaden 2008.

Ders., De incertitudine et vanitate scientiarum declamoatio invectiva. Antwerpen 1530 bzw. Köln 1531 (auch Paris 1531 = Mailand 2006.

Ders., Über die Fragwürdigkeit, ja Nichtigkeit, der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Mit einem Nachwort hrg. von Siegfried Wollgast. Übersetzt von Gerhard Güpner. Berlin 1991.

Jegel, August: Die Lebenstragödie des Dr. jur. Et med. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins. 20, 1938, S. 15-76. S. 44-45.

Kuper, Michael, Agrippa von Nettesheim-ein echter Faust. Berlin 1994.

Lehrich, Christopher I., The Language of Demons and Angels. Cornelius Agrippa`s Occult Philosophy. Leiden 2003 (Brill`s Studies in Intellectual History 119).

Nauert, Charles, Jr., Agrippa and the Crisis of the Renaissance Thought. Urbana (Illinois) 1965.

Priesner, Klaus, Dinge zwischen Himmel und Erde. Eine Kulturgeschichte des magischen Denkens. Darmstadt 2020.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

Eine Antwort auf „“Magia reformata”: Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim – Leben und Werk eines Renaissancemagiers, 1. Teil“

  1. Ein toller Einblick in Leben und Denken von Agrippa, von dem ich bisher nur wenig wusste. Was für ein Abenteurer im Geist und im Leben… Beeindruckend die Fähigkeiten zur Versöhnung, zur Aufklärung und Skepsis, auch wenn der Aberglauben ihm für manches Gehalt dienlich war. Ein Mann zwischen den Zeiten, heute aktueller denn je!

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