“Magia reformata”: Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim – Leben und Werk eines Renaissancemagiers, 2. Teil

Der zweite Teil des Artikels über das Leben des Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim schließt unmittelbar an die Ereignisse von Teil 1 an. Agrippa ist immer noch in  Lyon am französischen Hof und hofft weiterhin auf die Gunst seines Protegés, Louise von Savoyen. Diese lässt ihn allerdings durch eine Intrige am Hof endgültig fallen und er muss erneut auf Wanderschaft gehen, um sein Überleben zu sichern.

Antwerpen und Köln (1528-1532)

Die Lösung für Agrippas Geldnöte kommt schließlich wieder durch seinen Freundeskreis. Der genuesische Kaufmann Augustinus Furnarius und der italienischer Augustinermönch Aurelius ab Aquapendente raten ihm zu einem Umzug nach Antwerpen. Doch die Ausreise aus Frankreich gestaltet sich als schwierig. Ihm wird die Grenzüberschreitung in die Niederlande vom Kommandeur der Grenztruppen, dem Herzog von Vendôme, verwehrt. Dieser zerreißt sogar Agrippas Passierschein, als dessen Freunde dem Herzog die Papiere vorlegen. Nach langen Warten kann der Gelehrte im Herbst 1528 endlich mit seiner Familie Lyon und Frankreich verlassen. Auf dem Wasserweg segelt die Familie samt Dienerschaft die Loire und Seine hinauf nach Paris und reist weiter auf dem Landweg nach Antwerpen. Mit der Ankunft am 5. November 1528 in Antwerpen sieht sich Agrippa sogleich vor neue Probleme gestellt.

Das Erste ist seine finanzielle Notlage, denn seine beiden Kontakte, Augustinus und Aurelius, sind auf Geschäftsreise. Zweitens ist seine schwangeren Frau durch eine Krankheit sehr geschwächt und kämpft mit dem Tod. Agrippa beginnt wieder als Arzt zu praktizieren, um Geld für die Familie zu verdienen. Jedoch verfolgen ihn auch hier Missgunst und Neid. Als im Spätsommer 1529 die Pest in Antwerpen ausbricht, schickt er seine Familie aus der Stadt und lässt sie bei Freunden unterbringen. Er selbst bleibt in Antwerpen, um den Kranken zu helfen. Seine Arztkollegen, die sich ebenfalls aus der Stadt geflüchtet haben, nehmen ihm diese Geste übel. Nach Ende der Seuche kommt es wieder zum Eklat: Agrippa schlägt dem Stadtrat die freie Arztwahl vor. Seine Kollegen intrigieren gegen ihn und erreichen, dass Agrippa nicht mehr als Arzt weiter praktizieren kann.

Auch im Privaten muss der Nettesheimer harte Schläge einstecken. Seine Frau Tissie stirbt, von Krankheit gezeichnet und durch die Geburt des letzten Kindes geschwächt, im August 1528. Wieder ist er allein, in finanzieller Notlage und ohne Protegé. Da zeigt sich ein Silberstreifen am Horizont: In Margarethe von Österreich (1480-1530), der Regentin der Niederlande, findet Agrippa eine neue Gönnerin. Gegen Ende des Jahres 1529 wird er zum Archivar und Historiograph Margaretes ernannt und mit der Abfassung eines Berichts über die Krönung Karls V. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Februar 1530 betraut. Eine Tätigkeit, die er nach eigener Aussage wieder als unter seiner Würde empfindet, sie allerdings gewissenhaft erledigt. Zudem verfasst er zur Beerdigung seiner Mäzenin eine Begräbnisrede, als diese im Frühjahr 1530 verstirbt. Agrippa, der sich nun wieder in höfischer Umgebung bewegt, zieht in Folge seiner Tätigkeit mit seiner Familie nach Mechelen (Belgien) um, wo der Hof residiert.

Auch hinsichtlich seiner eigenen Schriften geht es voran. Ein weiteres Argument für den Umzug nach Antwerpen war – neben einem sicheren Einkommen und Sicherheit vor der Verfolgung durch Louise von Savoyen -, das Versprechen, ein kaiserliches privilegium (Druckerlaubnis) für seine Schriften zu erhalten. Da die Niederlande zu Beginn des 16. Jahrhunderts für eine besonders milde Zensur schriftstellerischer Erzeugnisse bekannt waren, wird die Aussicht ein solches Druckprivileg zu erhalten, Agrippa einen besonderen Anreiz gegeben haben, nach Antwerpen zu ziehen. Das begehrte Dokument wird ihm auch bereits kurz nach seiner Ankunft in Antwerpen im Frühjahr 1529 erteilt, wodurch ihm der Druck seiner beiden Hauptschriften (und einiger kleinerer) ermöglicht wird: De occulta philosophia und De incertiduine et vanitare scientiarium (beide werden später in Köln erneut aufgelegt).

Mit dem Druck von De incertiduine et vanitare scientiarium 1529 in Antwerpen erscheint   eine Schrift Agrippas, die ihn schlagartig in die Münder der gebildeten Schichten Mitteleuropas bringt. Die Reaktionen sind heftig, besonders von kirchlicher Seite. Zwar erhält er großen Zuspruch aus Gelehrtenkreisen (De intcerteduine et vanitate wird ein Bestseller) und sogar Erasmus von Rotterdam veröffentlicht eine Kritik des Buches, doch auch die Worte des großen Gelehrten können nicht verhindern, was nun folgt: Der Konflikt eskaliert, als der Kaiser persönlich Agrippa auffordert, zumindest den kirchenkritischen Teil aus dem Werk zu streichen. Agrippa weigert sich, was zum Verlust der kaiserlichen Gunst und damit auch seiner Einkünfte führt. Von allen Seiten bedrängt, wird er 1530 sogar in Brüssel verhaftet und in den Schuldturm geworfen.

Zwar können Freunde seine baldige Freilassung erwirken, aber der Stadtmagistrat ordnet die öffentliche Verbrennung von De intcerteduine et vanitate an und zwingt den berühmten Arzt, die Stadt fluchtartig zu verlassen. Der Konflikt um Agrippas Schrift hört jedoch nicht auf. Margarete von Österreich schickt am 11. September 1529 ein Exemplar an die Theologische Fakultät der Universität Löwen und befielt ein theologisches Gutachten über die Schrift. Im Frühjahr 1531 wird das Ergebnis bekanntgegeben: De incertiduine et vanitare scientiarium declamatio invectiva wird als häretisch eingestuft, der Verfasser Agrippa offiziell zum Ketzer erklärt. Angesichts des heftigen Widerstands gegen seine Schrift sieht sich Agrippa schnell auf verlorenem Posten, sodass er sich schon vor der offiziellen Bekanntgabe des Urteils, wieder durch Vermittlung von Bekannten, auf die Suche nach einer neuen Gönner macht. Und das Gelehrtennetzwerk kann erneut Rettung bringen. Freunde empfehlen ihn dem Kölner Erzbischof und Kurfürsten Hermann von Wied (1477-1552). Dieser war einer der mächtigsten Kirchenfürsten im Reich, galt als großer Freund und Förderer der Wissenschaften und genoss allgemein eine hohe Gunst bei seinen Untertanen. Agrippa, dankbar für das Angebot, in seine alte Heimat zurückkehren zu können, widmet dem Erzbischof daraufhin den bereits 1531 beim Drucker Johannes Graphaeus in Antwerpen erscheinenden ersten Band seines Hauptwerkes De occulta philosophia und lässt Hermann über einen Fürsprecher fünf druckfrische Bögen zur persönlichen Begutachtung zusenden.

Lebensabend (1532-1535)

Mit der Widmung des ersten Bandes von De occulta philosophia verbindet Agrippa auch die Hoffnung, in Hermann von Wied einen neuen Protegé zu finden. Und er hat Glück. Der Kirchenfürst zeigt sich von De occulta philosophia beeindruckt und lädt den Gelehrten im Frühjahr 1532 zu sich ein. Am 17. März 1532 treffen die beiden schließlich auf dem erzbischöflichen Landsitz bei Köln aufeinander. Seine Reise begründet Agrippa gegenüber dem Niederländischen Hofstaat mit dem Argument, er müsse Quellenmaterial für geplante Schriften über die Italienfeldzüge von Charles von Bourbon und über des Kaisers Türkenkriege besorgen.

Eine weitere Motivation, Antwerpen den Rücken zu kehren, dürfte für Agrippa gewesen sein, dass der königliche Schatzmeister seinen Namen von den Gehaltslisten gestrichen hat. Verärgert schreibt der Nettesheimer Bettel- und Bittbriefe an die neue Regentin der Niederlande, Maria von Ungarn (1505-1558) und ihren Sekretär, Johannes Kreutter. Da seine Gesuche nicht erhört werden, entscheidet sich Agrippa, das Angebot von Hermann von Wied, endgültig nach Köln und damit unter seinen Schutz zu kommen, anzunehmen.

Im Juni 1532 siedelt Agrippa mit seiner Familie über nach Bonn. Dort angekommen beginnt er sofort mit den abschließenden Korrekturen an seinem Hauptwerk De occulta philosophia. Bereits im Herbst des selben Jahres beginnen die Druckarbeiten. Den Druck besorgt der Kölner Druckermeister Johannes Soter, Herausgeber und Verleger ist Godfried Hetrop. De occulta philosophia libri tres lautet der volle Titel. 1533 ist es schließlich soweit und Agrippa hält sein „Magnum Opus“ über die okkulte Philosophie in Händen. „Dieses Buch wird deinen Namen durch die Jahrhunderte tragen.“ schreibt an Weihnachten 1531 ein begeisterter Freund an Agrippa.

Und doch bleibt es nicht nur bei Beifallsbekundungen. Als würde es sich um eine Wiederholung bereits geschehener Ereignisse handeln, erregt De occulta philosophia auch bei den Gegnern des Philosophen großes Aufsehen. Bereits im November 1532 verurteilen die Dominikaner und der Inquisitor Konrad Köllin das Buch als doctrina haereticus et lectione nefarius – ketzerische Lehre und teuflische Lektüre. Der Kölner Stadtrat unterbindet daraufhin den weiteren Druck und beschlagnahmt die bereits fertiggestellten Bögen. Agrippa verfasst daraufhin am 11. Januar 1533 eine lange Verteidigungsschrift (Apologia) an den Kölner Stadtrat, in welchem er sein Werk gegen die Anschuldigungen verteidigt. Und ganz in seinem Stile schwankt die als reine Verteidigung gedachte Schrift zwischen Verteidigung und Anklage, welche in einer Kritik der Kultur und Religion ausartet. Der Streit droht zu eskalieren, die Geschehnisse von 1531 und 1532 drohen sich zu wiederholen. Erst durch die direkte Intervention des Kölner Erzbischofs kommt der Streit zur Ruhe und der finale Druck von De occulta philosophia wird ermöglicht.

Mit dem Jahr 1533 schwinden die historischen Quellen Agrippas und seine Gestalt beginnt bereits zu Lebzeiten in den Bereich der Legende abzudriften. Als halbwegs gesichert gelten die Notizen und Berichte seiner Schüler. So schreibt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts der berühmte Arzt und Gegner der Hexenverfolgung Johann Weyer (1515-1588), der bei Agrippa als junger Student in Bonn lebte, dass dieser nach der Trennung von seiner dritten Frau im Jahr 1535 sich noch einmal auf eine Reise nach Lyon begeben hatte. Dort wird er auf Befehl von Franz I. gefangen genommen, angeblich da er gegen die Königinmutter Schmähungen geschrieben habe. Allerdings können Freunde von ihm seine Freilassung erwirken. Kurze Zeit nach seiner Freilassung stirbt Agrippa von Nettesheim am 18. Februar 1535 in Grenoble, ob an den Folgen möglicher Folter oder an einer Krankheit ist unklar. Ironisch erscheint es, dass er auf dem Friedhof des nahen Dominikanerklosters, bei seinen theologischen Widersachern, beigesetzt wird. Warum Agrippa nach Frankreich zurückkehrte, ist unklar. Hatte er ein neues Angebot bekommen, oder wollte er den Druck seiner Schriften von dort aus weiter vorantreiben? Zumindest kann davon ausgegangen werden, dass er noch Bekannte in Lyon hatte. Sein Grab ist heute nicht mehr erhalten.

Nachklang

Die Mythisierung dieses großen Gelehrten setzt schon zu Lebzeiten ein. Agrippa stand in dem Ruf, ein Hexenmeister und Schwarzkünstler zu sein. Seine Schriften, wenn auch von seinen Zeitgenossen und späteren Generationen vielfach rezipiert, blieben der Kirche noch lange ein Dorn im Auge. Mit der zunehmenden Hexenverfolgung in Europa in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde Agrippa zum Magier Nonplusultra stilisiert. So soll er Dämonen beschworen, durch die Lüfte geflogen und allerlei andere schwarzmagische Künste praktiziert haben. Besonders der französische Jurist und eifrige Befürworter der Hexenverfolgung, Jean Bodin (1529/30-96), verwarf in seinem Werk De la Démonomanie des sorciers (Über die Dämonomanie der Zauberer, 1580) die magische Kunst, mit der sich Agrippa so intensiv beschäftigt hatte. In seinem monumentalen Werk über Magie und Hexen Disquistionum Magicarum Libri Sex (Untersuchung der Magie in sechs Büchern, 1593) berichtet der spanische Jesuit Antonio Martinez Del Rio (1551-1608) die wildesten Geschichten über den Nettesheimer. Agrippa habe, gleich Faust und Paracelsus, seine Zeche mit „verblendetem Geld“ bezahlt. Ein Student habe in Agrippas Studierstube in Löwen in dessen Abwesenheit den Teufel beschworen und sei dabei umgekommen.

Bei seiner Rückkehr habe Agrippa einen Teufel in den Leichnam zitiert und ihn auf den Marktplatz hinabgehen lassen, wo der Teufel wieder ausfuhr und der Student, scheinbar vom Schlag getroffen, zusammensank. Im Zuge der immer wahnhafteren Vorstellungen über Hexen und Magier erdachte Del Rio ungeheure Geschichten, um unliebsam Gewordene der Zauberei oder Teufelsbeschwörung bezichtigen zu können. Am Kuriosesten erscheint die Legende, dass Agrippas schwarzer Hund eigentlich der Teufel selbst gewesen sein soll. Ein Detail, dass später sich in der Faustlegende und bei Goethes Pudel wiederfinden wird und gegen das schon sein Schüler Johann Weyer protestiert hatte.

Und all diesen posthumen Anschuldigungen zum Trotz hallt Agrippas Ruf eines Magiers  durch die Zeiten und ganz Europa. Gelehrte wie Giambattista della Porta, Giordano Bruno, Literaten wie Goethe und Mary Shelley bis hin zu den modernen Okkultisten Éliphas Lévi und Aleister Crowley lassen sich vom Leben und Wirken des Renaissancemenschen Agrippa inspirieren. Und Agrippa hat sein in De occulta philosophia formuliertes Anliegen, die Vorstellung zu ändern, was Magie und Magier seien, letztlich doch noch indirekt erreicht. Sein Werk ist es, welches den modernen Begriff „Okkultismus“ prägen wird. Eine Vorstellung, die dem Nettesheimer sicherlich gefallen hätte.

Ein Beitrag von Leonhard Lietz


Leonhard Lietz ist Germanist und Historiker aus Düsseldorf. Zu seinen Schwerpunkten zählen u.a. vergleichende Kulturgeschichte, Mythologie und Magiestudien. Aktuell arbeitet er an seiner Dissertation über Agrippa von Nettesheim.


Literaturhinweise:

Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius. Opera, 2. Bände. Lyons o. J. (um 1580).

Ders., De occulta philosophia libri tres. Hrg. von Vittoria Perrone Compagni. Leiden 1992 (Studies in the   History of Christian Traditions 48).

Ders., Die Magischen Werke und weitere Renaissancetraktate. Hrsg. u. eingeleitet von Marco Frenschkowski. Wiesbaden 2008.

Ders., De incertitudine et vanitate scientiarum declamoatio invectiva. Antwerpen 1530 bzw. Köln 1531 (auch Paris 1531) Mailand 2006.

Ders., Über die Fragwürdigkeit, ja Nichtigkeit, der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Mit einem Nachwort hrsg. von Siegfried Wollgast. Übersetzt von Gerhard Güpner. Berlin 1991.

Jegel, August: Die Lebenstragödie des Dr. jur. Et med. Heinrich Cornelius Agrippa von

Nettesheim. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins. 20, 1938, S. 15-76. S. 44-45.

Kuper, Michael, Agrippa von Nettesheim. Ein echter Faust. Berlin 1994.

Lehrich, Christopher I., The Language of Demons and Angels. Cornelius Agrippa`s Occult Philosophy. Leiden 2003 (Brill`s Studies in Intellectual History 119).

Nauert, Charles, Jr., Agrippa and the Crisis of the Renaissance Thought. Urbana (Illinois) 1965.

Priesner, Klaus, Dinge zwischen Himmel und Erde. Eine Kulturgeschichte des magischen Denkens. Darmstadt 2020.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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