Vom Übermenschen zum Superman

Neben „Gott ist tot“ und der Peitsche für Frauen wird Nietzsche mit einem weiteren Motiv assoziiert, mit dem er sich im wahrsten Sinne des Wortes groß machte: dem Übermenschen. Zarathustra wird zum Propheten dieser Figur:

Seht, ich lehre euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde! Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! … Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch.

So predigt der Prophet in der Vorrede zu Also sprach Zarathustra, einem der einflussreichsten Bücher der neueren Kulturgeschichte. Kein gutes Buch, um sich Nietzsche anzunähern – zu sehr ist es in biblische und pseudo-biblische Sprache getaucht, voller Pathos und Bekehrungswillen. Geschrieben von einem, der zuvor nicht oft genug betonen konnte, dass er mit einer neuen Religion nichts im Sinne habe, kein Missionar sein und die Menschen nicht ‚überzeugen‘, sondern sie lieber zu kritischen Frei-Geistern erziehen wolle. Gegen Ende seines wachen Daseins machte sich ein Größenwahn geltend, in dem er sich als einen Apostel des Jahrtausends sah, als ein geistiges Ereignis, wie es niemals zuvor gesehen ward, als Beginn einer neuen Zeitrechnung. Und alle, in deren Psyche der Hang zum Größenwahn eingestrickt war, entdeckten den Übermenschen in sich oder anderen Idolen.

Der Übermensch ist jedoch nicht Nietzsches Erfindung. Das Wesen, das die Begrenzungen des menschlichen Daseins hinter sich lässt, durchweht schon lange die Ideengeschichte. Wenn die Götter klein werden, müssen die Menschen größer werden. Wenn Gott stirbt, lebt die Idee eines Übermenschen auf, wie Nietzsche selbst notierte. So hat man selbst Christus als Übermenschen gesehen und die Tradition des christlichen Übermenschen reicht von der mittelalterlichen Mystik bis hin zur deutschen Klassik. Mit dem Darwinismus kommt eine biologische Komponente hinein: wenn es eine Evolution gibt, so kann diese zur Degeneration ebenso führen wie zu einer Höherentwicklung. Der Mensch ist nur eine Stufe in diesem Verlauf. Möglicherweise wurde Nietzsche von dem amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson (1803-1882) beeinflusst, den er sehr bewunderte. Emerson benutzte den Begriff der Oversoul, der Überseele, für ein Wesen, das das kleine Ego weit umfasst. Diese Vorstellung wiederum ist indischer Herkunft. Nietzsches Begriff kann vor diesem Hintergrund ebenso gelesen werden wie vor dem der Eugenik – d.h. der Züchtung eines Übermenschen im biologischen Sinn. Insgesamt bleibt er vage. Erstmals erwähnt er den Terminus in einem Schulaufsatz über Lord Byrons Drama Manfred. Manfred, den romantischen Mann des Weltschmerzes, hält er für einen „geisterbeherrschenden Übermenschen“.

Der Übermensch ist bei Nietzsche einmal ein „Blitz aus der dunklen Wolke Mensch“, ein andermal der Sinn der Erde oder der Sinn des menschlichen Daseins (was ja nicht dasselbe ist). Er ist ein Wesen des überbordenden Lebenswillens, der sich seine eigenen Werte erschafft, ja, ertanzt. Aber auch: ein „Einsam-Wandler“, ein Scheuer (wie Nietzsche), zugleich ein höherer Typus, ein Glücksfall des großen Gelingens – also eine Art Lotto-Treffer der Evolution. Mit anderen Worten, mal entsteht er zufällig wie durch einen Blitz oder den Wurf des Würfels, mal durch eiskalte Züchtung. Mal zeigt er Nietzsches Wunsch, ein anderer zu sein, mal ist er der Philosoph in Verkleidung. Er kündet sich für Nietzsche an in Gestalten wie dem grausamen Cesare Borgia, denn er steht jenseits von Gut und Böse. Dem Renaissance-Tyrann sei er jedenfalls „hundert Mal ähnlicher als einem Christus“, wie er einer Freundin schreibt, die ihn nicht verstanden hat. Der Übermensch badet zudem „mit Lust seine Nacktheit“, ein neuer Dionysos also, er ist „hart aus Mitleid“.

Verbinden wir ihn also mit dem anderen, oft zitierten Wort aus Zarathustra: „Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“ Ein tanzender Stern, das wäre ein weiteres Bild für dieses flimmernde Zukunftsgebilde. Er hat also seinen Ursprung in einem Chaos, das kosmisch ebenso wie neurologisch im Kopf stattfinden kann. Aber ohne solche Dynamik eben kein Tanz, keine Geburt, kein Stern. Nicht anders wohl die Geburt des Übermenschen: schlecht vorhersehbar, künstlerisch erhofft und doch auch plump gezüchtet? Aber in welche Richtung? Gustav Theodor Fechner, der Leipziger Psychologe und Philosoph, machte sich lustig darüber, als er voraussah, dass wir uns allmählich in Engel verwandeln würden („Vergleichende Anatomie der Engel“). Aber was für Engel? Es gibt helle und finstere. Das Gleiche gilt für alle Versionen des Übermenschen: ein Zuchtbulle, der alles niederreißt oder eine höhere, weisere Intelligenz. Nietzsche siedelte ihn jedenfalls jenseits von Gut und Böse an; er habe seine eigene, höhere Moral. Man möchte nicht wissen, welche das ist, denn sie wurde immer schon, und nicht erst im Gefolge von Nietzsches rechten Anhängern angefordert. Diktatoren aller Schattierung sahen sich hier bestens aufgehoben. Der Übermensch als Diktator also? Das wäre wiederum zu kurz gedacht. Nietzsche war ja Künstler, Musiker, Sprachzauberer, ein tänzerischer Denker. Von einem solchen Geist erdachte Übermenschen müssen zwangsläufig anders aussehen als Diktatoren. Doch Wunschvorstellungen, die in die Realität eintauchen, werden dort oft zu bösen Alpträumen.

Zu Recht also wehrte sich etwa ein Anti-Nietzscheaner, wie der englische Autor G.K. Chesterton, der auch die Father-Brown-Kriminalgeschichten erfand, gegen den Übermenschen. In einer kleinen Satire schickt er um 1908 einen Journalisten auf die Suche nach diesem unbekannten Wesen. Der Übermensch war soeben zuerst als „Beyond-Man“ oder „Overman“, sodann als „Superman“ in England angekommen. G.B. Shaw, ein Antagonist Chestertons, hatte ihm sogar ein berühmtes Theaterstück gewidmet: Man and Superman (1903). Chestertons Journalist also kommt dem Übermenschen auf die Spur in einem Londoner Vorort. Doch die Eltern des Übermenschen wollen ihn nicht hereinlassen. Der Übermensch sei zu empfindlich für ein Interview. Können sie ihm nicht wenigstens sagen, wie er aussieht? Hat er Haare? Oder Federn? Irgendwann ergreift den Journalisten die Neugierde so, dass er die Tür aufreißt – doch sogleich welkt der Übermensch dahin, von einem Luftzug dahingerafft. Ein schwacher und wahnhafter Philosoph, so Chestertons Fazit, kann eben nicht ein starkes Modell für die Zukunft der Menschheit entwerfen. Es ist genauso hinfällig wie sein schwachbrüstiger Erzeuger.

Im Ersten Weltkrieg wird Nietzsche in der angloamerikanischen Welt als Kriegsphilosoph gesehen, der den deutschen Imperialismus und Krieg beflügelt habe. Dieses negative Bild wird ihm bis nach dem Zweiten Weltkrieg anhaften. Der Übermensch ist darin verwandt mit der „blonden Bestie“, mit dem Barbarischen, das Nietzsche ja auch beschworen hatte für die Regeneration der Kultur. Als solches böse Wesen gelangte er nun in die USA und wurde dort als Superman wiedergeboren. Die Studenten Jerry Siegel und Joe Shuster bastelten dieses Wesen aus biblisch-jüdischen Legenden und aus Comics zusammen – aus dem starken Samson des Alten Testaments, dem Prager Golem und Popeye. Ob sie Nietzsche kannten, ist nicht gewiss, sicherlich aber war ihnen der Terminus „Superman“ ein Begriff. Er kam in den USA von linker Seite auf, als man sich ein starkes Proletariat wünschte, das sich vom Kapital befreien sollte. 1933 veröffentlichten sie eine Kurzgeschichte mit dem Titel „Die Herrschaft des Übermenschen“ (The Reign of the Super-Man). Hier war Superman tatsächlich noch ein böser Übermensch. Er hatte übernatürliche Kräfte, beherrschte Telepathie und Hypnose und war ein Feind der guten Menschheit. Der Geschichte war kein Erfolg beschieden. Die beiden Autoren ließen sich nicht beirren, denn bald darauf kam es zu einer Umwertung aller Werte: ihr neuer Superman hatte weiterhin phantastische Fähigkeiten (Röntgen- und Hitzeblick, extreme Schnelligkeit, konnte Wolkenkratzer heben und war beinahe unverwundbar). Er stammt aber, im Gegensatz zu Nietzsches Übermensch, von einem anderen Planeten und führt eine doppelte Existenz: auf der einen Seite ist er Clark Kent, der milde Reporter, auf der anderen der starke Verteidiger des status quo, der bürgerlichen und politischen Werte der USA. Er setzt sich nur für die Guten ein und relativiert nirgendwo das Böse, wie es Nietzsche tat. Die osteuropäisch-jüdische Herkunft der beiden Autoren, ebenfalls Nerds und Brillenträger wie Clark Kent, hat wohl dazu beigetragen, dass sie sich einen Beschützer erträumten, der sie vor Pogromen und anderen Verfolgungen bewahren würde. Goebbels soll 1942 in einer Reichstagssitzung ausgerufen haben: „Superman ist ein Jude!“. Mit der Folge, dass die Hefte in Deutschland nur heimlich zu bekommen waren. Die GIs jedoch lasen sie mit Begeisterung, wenn sie Frontpakete aus den USA bekamen. Sogar ihr Erzfeind, der Tenno von Japan, soll sie verschlungen haben.

Das führt von Nietzsche weit ab, ist aber doch auch entfernt verwandt. Denn der harmlose, physisch schwache Clark Kent entspricht in mancher Hinsicht dem schwächlich-kranken Nietzsche, der sich eine andere, großartige Version seiner selbst erträumt.

Aber es gibt eben massive Unterschiede zwischen den Konzepten. Schon deshalb, weil Nietzsches Übermensch eben „Mensch“ ist, was nicht mit „man“ zu übersetzen ist. Man müsste also noch die Figur der Wonder Woman hinzunehmen, die ab 1941 auf die Bühne der Comics tritt. In der Tat spielt Nietzsches Übermensch für den Feminismus eine nicht unbedeutende Rolle: der Übermensch könnte auch eine Frau sein! Eine komplett befreite und befreiende, das Patriarchat hinter sich lassende weibliche Figur. Es könnte sich allerdings auch um ein neutrales Wesen handeln, das wir Künstliche Intelligenz nennen. Denn diese ist ja geradezu prädestiniert, den Menschen zu überholen und auf einen niederen Rang im kosmischen Geschehen zu verweisen. Das ist die Botschaft des sogenannten Transhumanismus, den Nietzsche ja vorgedacht hatte, als er schrieb: Der Mensch sei nur ein Übergang. Aber der Übermensch, lässt er Zarathustra verkünden, sei der Sinn der Erde. Was aber ist die Erde?

Albert Schweitzer hat 1954 in seiner Nobelpreisrede dem Übermenschen attestiert, dass er trotz all seiner Kraft an einer Unvollkommenheit leidet – nämlich der Tatsache, dass seiner Macht keine Vernunft entspricht. Und das macht aus dem Übermenschen sehr schnell den Unmenschen.

Auch wenn der Übermensch nicht kommen sollte, er hat schon eine Spur hinterlassen: das Wort über. Es machte gleich Karriere in den 1890ern und gab dem ersten deutschen Kabarett in München den Namen „Überbrettl“, inspiriert von Otto Julius Bierbaums Künstlerroman Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive (1897): „Wir werden eine neue Kultur herbeitanzen! Wir werden den Übermenschen auf dem Brettl gebären!“Im amerikanischen Englisch ist dieses Über als Uber seit einigen Jahrzehnten unterwegs. Ob es von Nietzsches Übermensch oder von „Deutschland, über alles“ kommt, bleibt offen, aber es gibt sie, die Uber-Taxis, die uber-models, die uber-tasty Würstchen. So manchem wird dabei übel. Aber wenn wir schon bei Über sind: Nietzsche als Übermensch ist eher eine Selbstparodie,  das Über würde ich ihm jedoch belassen. Für mich zumindest ist Nietzsche immer wieder der Über-Raschende.

Ein Beitrag von Prof. Elmar Schenkel


Literaturhinweise:

Benz, Ernst. „Das Bild des Übermenschen in der europäischen Geistesgeschichte.“ In Ernst Benz, Hrsg. Der Übermensch. Eine Diskussion. Stuttgart: Rhein-Verlag 1961.

Borchardt, Kerstin. „Zwischen Helden und Schurken und anderen Übermenschen: Nietzsches mögliches und unmögliches Vermächtnis in US-amerikanischen Seriencomics.“ In Dominik Becher, Hrsg., Brisantes Denken. Friedrich Nietzsche in Philosophie und Popkultur. Leipzig: Edition Hamouda 2019, 277-297.


Vorabdruck aus: Elmar Schenkel, Wahre Geschichten um Friedrich Nietzsche, Tauchaer Verlag, Leipzig 2023. ISBN: 978-3-89772-323-8. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.


© Tauchaer Verlag

2 Antworten auf „Vom Übermenschen zum Superman“

  1. Chesterton behandelt das Thema des Übermenschen nochmals im Roman ” Das fliegende Wirtshaus”.
    Man kann Chesterton nur bewundern für seine Hellsichtigkeit, denn die Geschichte handelt von einer (damals fiktiven) schleichenden Islamisierung Englands.
    Der “Übermensch” endet in einer Irrenanstalt und verbringt seine Zeit damit, mit Bauklötzchen zu spielen.

    1. danke für den Tipp. Ich muss den Roman wieder lesen! Habe das damals nicht bemerkt, vor ca. 20-30 Jahren. Wir hatten übrigens die einzige Konferenz in Deutschland zu Chesterton an der Universität Leipzig, zusammen mit der Inklings-Gesellschaft, 1996.

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