Wie die Sterne an den Himmel kamen

Woher kommen wir? Die Frage entscheidet auch darüber, wohin wir gehen, wer wir sind, was wir wollen und können. Und was das Ganze eigentlich soll. Seit es Bewusstsein gibt, hat sich das Wesen homo sapiens diese Fragen gestellt. Ohne Fragen gäbe es Bewusstsein gar nicht und es kann nur da sein als fragendes. Ich frage, also bin ich (vielleicht). Dass man keine klaren Antworten auf solche Fragen geben kann – wie auf den „Sinn des Lebens“ – führt dazu, dass wir etwas umständlicher werden müssen. Wir müssen Umwege suchen, um den Fragen entweder aus dem Weg zu gehen oder sie doch einzukreisen. Erzählungen können beides.

Wir erzählen Geschichten, um abzulenken, und wir erzählen sie, um etwas deutlich zu machen, was begrifflich gar nicht erfassbar ist. Außerdem fragen ja die Kinder dauernd und wir wissen nicht, was wir ihnen antworten sollen. Darum gibt es Mythen. Sie können den Antwortenden in seiner Trägheit  bestätigen, indem er einfach wiederholt, was er von seinen Altvorderen gehört hat – Überprüfen muss nicht sein. Sie können aber auch die Phantasie und Fragelust beflügeln. Es kommt auf die Erzähler an und ihre Haltung. Vielleicht wird dies bei dem Erzählen von Mythen zu wenig beachtet.

Im vorliegenden Buch werden für Kinder die Schöpfungsmythen in kindgerechter Form nacherzählt. Der Vater nimmt die neugierigen Geschwister mit einem Zauberwort, das wie eine Zeitmaschine funktioniert, mit in die ältesten und fernsten Kulturen. Und dort hören sie Teile von Schöpfungsgeschichten oder auch Versionen, denn alles andere wäre zu kompliziert und ausschweifend. Im Tanz wird die Erde in Japan erschaffen, in Indien leben Menschen als Riesen, im Iran landet eine Kuh auf dem Mond und im Judentum/Christentum/Islam wird die Welt in sechs Tagen erschaffen. In Mesopotamien kämpfen Ea und Marduk gegen die Matscheband, in Griechenland gibt es Familienstreit unter den Göttern. Hier wird also gespielt, getanzt, gekämpft, man knetet Lehm und bewirft sich damit oder phantastische Wesen erobern die Welt: alles Akzente von Schöpfungsgeschichten, die Kinder besonders interessieren. Und zeigen, dass die Schöpfung selbst, das Universum vielleicht das Spielzeug eines göttlichen Wesens ist.

Das liebevoll aufgemachte Buch mit den wundervollen Illustrationen von Claudia Piras gibt zunächst auf einer Karte Orientierung, wohin die Reisen führen. Jede Kultur wird darauf durch ein Tier repräsentiert (mit der Ausnahme Manichäismus): der Kranich für den Shintoismus, der Drache für den Daoismus, der Elefant für den indischen Jainismus, der Tiger für den Hinduismus, die Schildkröte für Babylon, der Hund für den Zoroastrismus, die Katze für Ägypten, der Adler für Griechenland, die Taube für die abrahamitischen Religionen und der Rabe für die Germanen. Natürlich werden die Geschichten durch die Autorinnen und Autoren oft leicht abgewandelt, vor allem abgemildert, um sie Kindern verdaulich zu machen. Denn viele Mythen sind aus heutiger Sicht die reinsten Abnormitäten. Diese Dämpfung ist kein leichter Vorgang – wieweit kann man von den Originalen (die selbst wieder Versionen sind) abweichen, um sie Kindern des 21. Jahrhunderts schmackhaft zu machen. Ein Problem, mit dem auch Kinderbibeln zu kämpfen haben. Ich denke aber, hier ist es gut gelöst; die Neugier wird geschärft, die Gemeinsamkeiten von Kinderliteratur und Mythen werden fruchtbar gemacht. Vor jedem Text wird zudem ausgewiesen, aus welchem Teil oder heiligem Buch die jeweils erzählte Variante entnommen ist. So kann man weiterlesen und später einmal die schrägen und gefährlicheren Ausmaße des Mythos erkunden, die sie auch für Erwachsene noch höchst lesenswert machen. Bedauerlich nur, dass die reichhaltigen australischen und amerikanischen Mythen, zum Beispiel das Popol Vuh der Maya, fehlen. Aber die sind so zahlreich, dass sie geradezu einen zweiten Band erforderlich machen könnten. Die Herausgeber haben jedenfalls gute Arbeit geleistet und die Mythen einer neuen Generation nähergebracht. Und das heißt heute auch: das Verständnis fremder Kulturen gefördert und damit Dialogfähigkeit.

Ein Beitrag von Elmar Schenkel


Literaturhinweis:

Kianoosh Rezania, Judith Stander-Dulisch und Franziska Burstyn, Hgg. Wie die Sterne an den Himmel kamen. Elf Geschichten aus der Zeit unserer Vorfahren. Mit farbigen Illustrationen von Claudia Piras. Leipzig: Edition Hamouda 2021.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

2 Antworten auf „Wie die Sterne an den Himmel kamen“

  1. Endlich mal ein Buch, das schon die Kleinsten unter uns, die immer Fragenden, die kindlich Interessierten, an Themen heranführt, die im Grunde nur noch neugieriger machen. Beste Voraussetzungen für ein Erwachsenwerden, begleitet von der Suche nach Antworten auch in anderen Bereichen des Geistes. Anregung an ein Denken, das die Schule wohl nur sehr dürftig vermitteln kann. Ein guter Weg, schon früh begreifen zu lernen, dass Ausbildung nicht mit Bildung gleichgesetzt werden darf.

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