Wissenschaft global gesehen – Zu dem Buch „Neue Horizonte“ von James Poskett

„Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa“. So heißt ein 1997 erschienenes Buch des italienischen Historikers Paolo Rossi, das zu Beginn konstatiert; „Es gibt in Europa keinen bestimmten Ort, an dem jene komplexe historische Realität entstand, die wir heute als moderne Wissenschaft bezeichnen. Europa selbst ist dieser Ort“. Und dann ist von Polen wie Kopernikus, Engländern wie Newton, Franzosen wie Fermat, Deutschen wie Kepler, Holländern wie Huygens und Italienern wie Torricelli die Rede, die im 16. und 17. Jahrhundert agierten. Diese europäische Reihe lässt sich über Darwin und Einstein fortsetzen, was zusammen zu der Ansicht führt, „die modernen Wissenschaften“ sind „allein ein Produkt Europas“ (auch wenn seit dem Zweiten Weltkrieg die USA vielfach führend sind). Doch „diese Geschichte ist ein Mythos“, wie der britische Historiker James Poskett in einem Buch darstellt, das im englischen Original „Horizons“ heißt, was der deutsche Verlag mit „Neue Horizonte“ übersetzt hat. Das Attribut soll wohl darauf hinweisen, dass Poskett die Geschichte der Wissenschaften neu erzählt, und tatsächlich fügt er den alten Narrativen – ein Lieblingswort des Autors – zwei wichtige Ergänzungen hinzu.

© Ernst Peter Fischer

Zum einen erfahren Leserinnen und Leser, wie sehr große Europäer wie Kopernikus, Newton und Darwin von außereuropäischen Quellen profitiert haben oder sogar abhängig waren. So stützte sich Kopernikus „auf philosophische Ideen aus Persien, astronomische Tafeln aus dem muslimischen Spanien und Planetenmodelle von ägyptischen Mathematikern, was insgesamt zu dem Schluss führt, dass das Buch „Über die Umlaufbahnen der Himmelssphären“ von 1543 „ein klassisches Renaissancewerk der Synthese ist, das sich auf europäische wie auf islamische Erkenntnisse gründet“. Kopernikus hatte in alten außereuropäischen Schriften gelesen, dass sich die Bewegungen am Himmel besser beschreiben ließen, wenn man sich das Zentrum der beobachteten Umlaufbahnen anderswo als auf der Erde vorstellte. Und nun machte der polnische Domherr den als revolutionär betrachteten Vorschlag, dieser Punkt sei die Sonne. Das heißt, wenn heute von einer Kopernikanischen Revolution die Rede ist, meint man nach einem Vorschlag des Philosophen Kant die zweite kreisende Bewegung, die Kopernikus für die Erde eingeführt hat, nämlich die Drehung um ihre eigene Achse. Doch wie bei Poskett zu lesen ist, hatte bereits im 5. Jahrhundert ein hinduistischer Astronom namens Aryabhata die These aufgestellt, dass solch eine Rotation den Tag-Nacht-Zyklus erklären kann, was im Europa dieser Zeit nicht zur Kenntnis genommen wurde, da mittelalterliche Sternengucker darauf beharrten, die Erde sei der völlig unbewegliche Mittelpunkt der Welt.

Poskett kennt viele solcher Geschichten, die er sorgfältig recherchiert hat und ausführlich und unterhaltsam erzählt, und es gelingt ihm auf knapp 500 Seiten, das Bild des einsamen Genies, der allein seinen Gedanken nachgeht, durch einen Gelehrten zu ersetzen, der im Zentrum eines internationalen Netzwerks sitzt und hier Informationen aus aller Welt sammelt und auszuwerten versucht. Menschen sind eben von Natur aus neugierig, aber eben nicht nur die in Europa, sondern auf allen Kontinenten. Poskett fasst am Ende zusammen: „Wissenschaft ist kein allein europäisches Unterfangen und war es auch nie. Das ganze Buch hindurch haben wir gesehen, wie Menschen und Kulturen rund um die Welt zur Schaffung der modernen Naturwissenschaften beigetragen haben. Von aztekischen Naturkundlern und osmanischen Astronomen bis zu afrikanischen Botanikern und japanischen Chemikern muss man die Historie der modernen Naturwissenschaften als globale Geschichte erzählen“.             

Neben dieser interkontinentalen (planetaren) Dimension der Wissenschaftsgeschichte geht es Poskett zum zweiten darum, die Fortschritte der Disziplinen nicht isoliert zu betrachten und stattdessen in die ökonomische, politische, militärische und soziale Historie der Menschen und ihrer Gesellschaften einzugliedern. So versucht er zum Beispiel zu zeigen, wie „die Entwicklung der modernen Genetik grundlegend von der Politik des Kalten Krieges geprägt“ ist, “vor allem vom Prozess der Staatenbildung“. Das Buch schildert zudem, „wie Globalisierung und Nationalismus die Entwicklung der KI und Weltraumforschung geprägt hat“ und wie überhaupt die Rivalität zwischen Staaten zum Wettbewerb in der wissenschaftlichen Forschung geführt hat. Irgendwann ist politischen Führern außerhalb von Europa – in Indien und Argentinien zum Beispiel – aufgefallen, dass es „ohne eigene Naturwissenschaft keine starke Nation“ gibt, und bereits im 19. Jahrhundert kamen viele Regierungen wie die des russischen Zaren zu der Einsicht, „dass das Überleben ihres Reiches von der Anwendung moderner Wissenschaft und Technologie abhing.“. Für Alexander II. lag die Zukunft seines Landes „in der Elektrizität“, was hier deshalb zitiert wird, weil der Führer der russischen Revolution, Lenin, derselben Ansicht war und den Sieg des Kommunismus durch die Verbindung von „Sowjetmacht und Elektrifizierung“ kommen sah. Der Zar förderte zudem die Chemie, weil ihre Vertreter zur Herstellung von Schießpulver und zur Destillation von Wodka gebraucht wurden.

„Neue Horizonte“ steckt voller spannender Geschichten mit ausführlichen Schilderungen der beteiligten Personen, unter denen viele Frauen hervorstechen, und es lohnt sich zu lesen, wie zum Beispiel „die Welt des Kapitalismus und des Konflikts die Entwicklung der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert prägte“, wie die „Historie der Evolution auf die Schlachtfelder“ geraten ist und was das Wachstum der Industrie mit der Entwicklung der modernen Physik zu tun hat. Natürlich bietet solch ein erster großer und auf jeden Fall höchst lesenswerter Versuch zu einer globalen Geschichte einem Wissenschaftshistoriker Gelegenheit zu einigen Anmerkungen, die hier folgen sollen.

Wenn Poskett nach Quellen sucht, aus denen sich Charles Darwin bedient hat, bevor er seine Vorstellungen von der „Entstehung der Arten“ zu Papier brachte, fällt ihm auf, „dass evolutionäres Denken in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts rund um den Globus bemerkenswert verbreitet war“, und er zitiert einen russischen Botaniker, der 1820 bemerkte, die natürliche Welt sei in „ständiger Veränderung“. Geisteswissenschaftler kennen das allgemein als den damaligen Zeitgeist, der sich in der Epoche der Romantik äußert und dessen zentrale Einsicht lautet, es gibt nur Bewegung, zum Beispiel die der Evolution. Sie konnte Darwin schließlich präzisieren, was etwas Weiteres erkennen lässt. Wie global auch immer das Heer der Forschenden und Suchenden aufgestellt war, zuletzt war es ein Europäer, der das versammelte Wissen in eine große Theorie packen konnte, die dann zu der Wissenschaft wurde, die der Welt zur Verfügung steht, und man kann neben Darwin noch Maxwell, Linnaeus, Newton und viele andere Heroen nennen.

Was die Geschichte der Genetik angeht, so will Poskett sie mit Kriegen verbinden, weshalb er sie nicht 1953 beginnen lassen möchte, als die Struktur des Erbmaterials als Doppelhelix beschrieben wurde, sondern 1945, als die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen, was viele als Beginn des Anthropozäns ansehen. Die Genetik hatte da schon einige Jahre auf dem Buckel, wobei das Wort „Molekularbiologie“ in den 1930er Jahren geprägt wurde, als man in den USA den Versuch unternahm, soziale Fragen wie Alkoholismus, Lernschwäche und hohe Scheidungsraten durch biologische Antworten zu klären. Wenn es um die Gene geht, wird auch die Geschichte trickreicher, als Poskett zu erkennen gibt. Dabei unternimmt er große Anstrengungen, die sozialistischen Irrläufer in China und der UdSSR einzufangen und ihre Sturheit zu entlarven.

Zu den spannendsten Abschnitten gehört der Bericht über den japanischen Physiker Hantaro Nagaoka, der im späten 19. Jahrhundert in Deutschland und Österreich studieren konnte und offen einen „wettbewerbsorientierten Nationalismus“ propagierte, weil er nicht verstand, „warum die Europäer in allem so überlegen sein sollten“, wie er in einem Brief an einen Freund schrieb. 1903 hielt Nagaoka in Tokyo einen Vortrag, „in dem er den tatsächlichen Aufbau eines Atoms“ beschrieb, nämlich als ein Gebilde aus einer Gruppe von negativ geladenen Elektronen, die ein „großes positiv geladenes Teilchen“ umkreisen, den Atomkern, wie man heute sagt. Nagaoka erklärte, man könne sich ein Atom wie den Planeten Saturn vorstellen, und wer sich in der Geschichte der Physik auskennt, wird sich jetzt wundern. Was Nagaoka hier beschreibt, hat nämlich Ernest Rutherford 1911 genau so vorgeschlagen, was mit dem Nobelpreis belohnt wurde. Zwar arbeitete Rutherford in Europa – im britischen Manchester –, aber er war Neuseeländer, ohne dass dies die Frage beantwortet, warum Geschichtsbücher von Rutherford erzählen und Nagaoka auslassen. Die beiden kannten sich, und der Neuseeländer zitiert die Arbeit des Japaners in seiner Publikation korrekt, aber das Rätsel des Vergessens bleibt. Man kann es vielleicht lösen, wenn man anschaut, wie die beiden Physiker zu ihren atomaren Modellvorstellungen gekommen sind. Rutherford hat klassische Streuexperimente ausgeführt, während Nagaoka Erfahrungen mit Erdbeben gesammelt hatte und das Zentrum eines Atoms mit einem Berg verglich, an dem seismische Wellen abprallen konnten. Offenbar sieht man hier unterschiedliche Kulturen bei der Arbeit, die zusammenkommen müssen, um die Wirklichkeit insgesamt verstehen zu können. Die Geschichte des Atoms ist weder britisch, noch neuseeländisch oder japanisch. Sie ist eine Kombination aus globalen Komponenten, die es zu verknüpfen gilt, um ein besseres Verständnis für das Abenteuer zu gewinnen, auf das sich die Menschen mit ihrer Neugierde eingelassen haben, als sie anfingen, systematisch Wissenschaft zu betreiben, und zwar weltweit. Das war übrigens noch etwas, was den Neuseeländer in England von dem Japaner unterschied. Rutherford wusste, dass sein Modell nicht mit der klassischen Physik vereinbar war, und er brauchte einen weiteren Europäer, den Dänen Niels Bohr, um das Modell mit Quantenbedingungen verständlich zu machen, zehn Jahre nach dem   Vorschlag von Nagaoka, der mehr Mühe als Freude machte. 

Eine letzte Bemerkung: Poskett betont, dass „wir eine neue Wissenschaftsgeschichte brauchen, die die Welt, in der wir leben, besser widerspiegelt.“ Man kann dem nur zustimmen, sollte aber fragen, ob es überhaupt eine alte Wissenschaftsgeschichte gibt, die Menschen kennen. Zwar ist es ausgeschlossen, die Gegenwart zu verstehen, ohne einen Blick auf das historische Werden der Wissenschaften zu werfen. Aber das scheint hierzulande niemanden zu interessieren. Die Universtäten lehren die Geschichte ohne die der Wissenschaften und sorgen damit für die kulturelle Krise, in der moderne Gesellschaften stecken. Die Welt, in der die Menschen leben, ist ihnen fremd geworden. Sie wissen nichts und möchten alles nutzen. Das kann nur schiefgehen. Vielleicht helfen uns „Neue Horizonte.“  

Ein Beitrag von Ernst Peter Fischer


Ernst Peter Fischer studierte Mathematik, Physik und Biologie und promovierte am California Institute of Technology. Er habilitierte sich im Fach Wissenschaftsgeschichte u. a. an den Universitäten Konstanz und Heidelberg. Als Wissenschaftspublizist schreibt er unter anderem für Die Welt und Focus. Fischer ist Autor zahlreicher Bücher, darunter der Bestseller “Die andere Bildung” (2001) und die Max-Planck-Biographie “Der Physiker” (2007). Darüber hinaus erschienen von ihm u. a. “Die Verzauberung der Welt – Eine andere Geschichte der Naturwissenschaften” (2015) und “Durch die Nacht: Eine Naturgeschichte der Dunkelheit” (2017). Für seine Arbeit erhielt er mehre Preise, u. a. den Sartorius-Preis der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.


Literaturhinweis:

James Poskett. Neue Horizonte. Eine globale Geschichte der Wissenschaft. Piper Verlag: München 2022.


© Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e. V.

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